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Wunschloses Unglück

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Wunschloses Unglück

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Nach dem Selbstmord seiner Mutter rekonstruierte Peter Handke die Bedingungen ihres Lebens und zugleich jene seines Erzählens.


Literatur­klassiker

  • Kurzprosa
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Annäherung an die tote Mutter

Wie geht man mit dem Tod der eigenen Mutter um, der noch dazu ein Selbstmord war? Der Schriftsteller Peter Handke wird im Alter von 30 Jahren mit dieser Herausforderung konfrontiert. Er nähert sich der schwierigen persönlichen Aufgabe, indem er wenige Wochen nach dem Tod der Mutter eine Erzählung über sie schreibt. Er hält fest, was er von ihr und ihrem Leben weiß. Einerseits distanziert, andererseits so nah wie möglich rekonstruiert der Autor das Leben seiner Mutter, die unter dem Zwang ihrer Frauenrolle und der schwierigen wirtschaftlichen Umstände nie zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit kommt. Von den äußeren Verhältnissen zunehmend entindividualisiert und zutiefst einsam, setzt sie ihrem Leben schließlich im Alter von 51 Jahren ein Ende. Handke reflektiert in der Erzählung ständig die Voraussetzungen seines eigenen Erzählens, gibt Einblick in den Schaffensprozess, macht diesen für den Leser transparent. Wunschloses Unglück ist keine leichte Unterhaltungs- oder Erbauungsliteratur und schon gar nicht komisch. Auch wenn Handke in klarer Sprache und nahezu nüchtern die Lebensgeschichte seiner Mutter erzählt, löst die Lektüre eine beklemmende Stimmung aus, der sich der Leser nur schwer entziehen kann.

Take-aways

  • Die Erzählung Wunschloses Unglück ist eines der meistgelesenen Werke des österreichischen Autors Peter Handke.
  • Handke schrieb den Text wenige Wochen nach dem Freitod seiner Mutter. Die Erzählung ist mehr literarische Biographie und Autobiographie als fiktionaler Text.
  • Handkes Mutter kann unter den Zwängen eines ländlich-kleinbürgerlichen Milieus ihre Persönlichkeit nicht entfalten und zerbricht schließlich daran.
  • Zur Bedürfnislosigkeit erzogen, wird ihr in ihren Jugendjahren eine höhere schulische Ausbildung verwehrt. So arbeitet sie in der Gastronomie.
  • In den Kriegsjahren lernt sie mit Handkes Vater die einzige Liebe ihres Lebens kennen. Kurz vor der Geburt des Autors heiratet sie jedoch einen deutschen Unteroffizier.
  • In den drei Jahren ihres Aufenthalts im Nachkriegs-Berlin verkörpert sie den Typ der eleganten Frau.
  • Nach Österreich zurückgekehrt, lebt sie neben ihrem ungeliebten Mann und bewältigt den Alltag als Hausfrau und Mutter unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen.
  • Zunehmend durch die äußeren Verhältnisse zermürbt, kommt sie in ihren letzten Lebensjahren durch Lektüre ein wenig zu sich, lernt von sich selbst zu sprechen.
  • Doch sie wird von Kopfschmerzen geplagt, die ihr das Leben unerträglich machen.
  • Von dem Leiden einigermaßen genesen, bleibt doch die Leere zurück. Bevor ihr Mann nach einer längeren Abwesenheit nach Hause kommt, bringt sie sich um.
  • Während der Erzählung gibt Handke immer wieder genaue Auskunft über seine Schwierigkeiten, diese Geschichte zu erzählen.
  • Wunschloses Unglück markiert nach einigen Theaterstücken und wenigen Prosatexten sprachkritischer Natur Handkes Entdeckung des Erzählens.

Zusammenfassung

Jugendjahre der Mutter

Handkes Mutter wird in ländliche Verhältnisse hineingeboren. Zu dieser Zeit gehört der Grundbesitz der Kirche oder dem Adel, die Bevölkerung verdient sich als Bauern auf gepachtetem Boden oder als Handwerker ihren kargen Lebensunterhalt. Handkes Großvater ist slowenischer Abstammung und bewirtschaftet neben seiner Tätigkeit als Zimmermann ein paar Äcker und Wiesen. Dieses kleine Anwesen hat er von seiner Mutter, der Tochter eines wohlhabenden Bauern, geerbt. Anders als noch seinen Vorfahren erlaubt es ihm einen bescheidenen Wohlstand. Das Bewusstsein des Besitzes weckt bei ihm den Wunsch, noch freier zu werden, indem er sein Eigentum vergrößert. Obwohl er sein Vermögen in der Inflation der 1920er Jahre verliert, spart er weiter. Ziel dieser Bemühungen ist die materielle Ausstattung seiner Kinder. Das Geld in ihre Ausbildung zu investieren, kommt nicht in Frage.

„Als Frau in diese Umstände geboren zu werden, ist von vornherein schon tödlich gewesen. Man kann es aber auch beruhigend nennen: jedenfalls keine Zukunftsangst. Die Wahrsagerinnen auf den Kirchtagen lasen nur den Burschen ernsthaft aus den Händen; bei den Frauen war diese Zukunft ohnehin nichts als ein Witz.“ (S. 16)

Der Lebensweg einer Frau ist in dieser Gesellschaft mit ihrer Geburt vorherbestimmt. Den jungen Männern wird von Wahrsagerinnen die Zukunft vorausgesagt, für die Frauen steht sie ohnehin fest: Angefüllt mit Hausarbeit vergeht ihr Leben, ohne dass ihnen jemand zuhört; Selbstgespräche, Krankheiten und schließlich der Tod sind weitere Stationen ihres Lebensweges. Handkes Mutter ist das zweitjüngste von fünf Kindern. Weil sie beim Lernen in der Schule „sich selbst gefühlt“ hat, will sie auch als Jugendliche wieder etwas lernen. Sie fleht ihren Vater an, eine Ausbildung machen zu dürfen. Doch vergeblich: Mit abwehrenden Handbewegungen wird ihr dieser Wunsch abgeschlagen. Daraufhin verlässt sie mit 15 oder 16 Jahren das Elternhaus und lernt in einem Hotel kochen. In den nächsten Jahren arbeitet sie als Hausmädchen in der Gastronomie. Höhepunkt dieser Karriere ist ein Auslandsaufenthalt im Schwarzwald. Aus Heimweh zurückgekehrt, erledigt sie in einem Hotel die Buchhaltung.

„Selten wunschlos und irgendwie glücklich, meistens wunschlos und ein bisschen unglücklich.“ (S. 19)

Fotos aus ihrer Jugendzeit zeigen die Mutter als fröhlichen, übermütigen Menschen. Sie hat Lust auf Geselligkeit, geht aus, tanzt, lässt sich jedoch mit keinem ihrer zahlreichen Verehrer ein. Sie macht den Eindruck, als könne ihr nichts mehr passieren. Den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im April 1938 erlebt sie als einen positiven Einschnitt. Der Alltag weicht stimmungsvollen Festtagen, geprägt von Gemeinschaftserlebnissen und dem Glauben, es gebe für alles Unverständliche einen Zusammenhang. Es herrscht das Lebensgefühl vor, aufgehoben und zugleich frei zu sein. Unter dem Eindruck, in einer wichtigen Zeit zu leben, nimmt die Mutter eine Haltung des Stolzes ein. Sie interessiert sich ansonsten nicht für Politik, dieser Begriff bleibt ein unfassbares, unsinnliches und deshalb leeres Wort.

Die einzige Liebe ihres Lebens

Der Zweite Weltkrieg wird von der Mutter zunächst nur als Serie von Erfolgsmeldungen aus dem Volksempfänger erlebt. Er macht den Alltag spannend. Die Welt wird als größer wahrgenommen, die Mutter studiert Landkarten, um ermessen zu können, wo der Bruder sich als Soldat gerade aufhält. In den Anfängen des Krieges erlebt sie ihre erste und einzige Liebe. Der Auserwählte ist ein deutscher Sparkassenangestellter, der nun als in Kärnten stationierter Soldat die Funktion eines Zahlmeisters ausübt. Er ist verheiratet, trotzdem liebt die Mutter ihn und erwartet bald ein Kind von ihm. Sie schätzt die Beweise seiner Aufmerksamkeit und hat anders als vor anderen Männern vor ihm keine Angst. Im Rückblick belustigt es sie, dass sie ausgerechnet diesen viele Jahre älteren, kahlköpfigen, kleineren Mann geliebt hat.

„Eine Äußerung von weiblichem Eigenleben in diesem ländlich-katholischen Sinnzusammenhang war überhaupt vorlaut und unbeherrscht; schiefe Blicke, so lange, bis die Beschämung nicht mehr nur noch possierlich gemimt wurde, sondern schon ganz innen die elementarsten Empfindungen abschreckte.“ (S. 31)

Für Peter Handke selbst sind die letzten Kriegsjahre gleichzeitig seine ersten Lebensjahre. Der Krieg wird für ihn zu einem angstvollen, prägenden Erlebnis seiner frühen Tage. Seinem Vater begegnet Handke erstmals nach dem Abitur. Im Café trifft sich der Vater mit seiner ehemaligen Geliebten. Er ist ratlos, die Mutter aufgeregt, und der Sohn steht an der Musikbox und hört Elvis Presley. Zwischen dem ehemaligen Liebespaar herrscht Sprachlosigkeit. Auf einer anschließenden gemeinsamen Urlaubsreise lernt der Erzähler seinen Vater als einen enttäuschten, vereinsamten Menschen kennen.

Heirat und Nachkriegsjahre in Berlin

Kurz vor Handkes Geburt heiratet die Mutter einen Unteroffizier der Wehrmacht. Der hat mit seinen Kameraden gewettet, dass er sie bekommen wird. Sie mag ihn nicht, heiratet ihn aber pflichtschuldigst, weil sie sich einredet, dass das Kind einen Vater brauche. Außerdem geht sie davon aus, dass er ohnehin im Krieg fallen werde. Zwei ihrer Brüder sterben im Krieg, der nun mit Sirenengeheul und Luftangriffen auch das Land erreicht.

„In einer solchen Beschreibung als Typ fühlte man sich auch von seiner eigenen Geschichte befreit, weil man auch sich selber nur noch erlebte wie unter dem ersten Blick eines erotisch taxierenden Fremden.“ (S. 39)

Schon früher hat die Mutter in der Stadt eine Lebensform kennen gelernt, die ihr mehr entspricht als das Dasein auf dem Land, wo man alle Gefühlsäußerungen durch Blicke so lange zum Schweigen bringt, bis sie einem selbst fremd werden. Ihr zwischenzeitlich vergessener Ehemann fällt ihr bald nach Kriegsende wieder ein. Sie entflieht aus der ländlichen bedrückenden Stumpfheit zu ihm nach Berlin. Der Mann hat sie zwar ebenfalls vergessen, aber aus Pflichtgefühl trennt er sich von seiner Freundin und zieht mit seiner neuen alten Familie zusammen. Handkes Stiefvater ist ursprünglich Straßenbahnfahrer. Weil er Trinker ist, muss er öfter die Jobs wechseln. Immer wieder bittet die Mutter die Arbeitgeber, es noch einmal mit ihrem Mann zu versuchen. Unter diesen Umständen verwandelt sie sich in eine elegante Frau, mit Haltung und Gang.

„Von Anfang an erpresst, bei allem nur ja die Form zu wahren (...); später fortgesetzt in der Aufgabe der Frau, die Familie nach außen hin zusammenzuhalten; keine fröhliche Armut, sondern ein formvollendetes Elend; die täglich neue Anstrengung, sein Gesicht zu behalten, das dadurch allmählich seelenlos wurde.“ (S. 59 f.)

Hinter ihrer Fassade versteckt die Mutter eine wachsende Verletzlichkeit. Ihr Mann schlägt sie oft, wenn er betrunken ist. Ein zweites Kind wird geboren. Zwei weitere Schwangerschaften bricht sie selbst ab. Sie leidet unter der fehlenden Kommunikation: Ihr Ehemann ist nicht mehr ansprechbar und die Kinder sind es noch nicht. Wenn sie einen Gesprächspartner hat, lebt sie auf. Zwar sucht sie die Gesellschaft von Männern, aber auf sexuelle Abenteuer lässt sie sich nicht ein. Sie vermisst die Ergänzung durch einen anderen Menschen, wie sie sie mit Handkes Vater empfunden hat. Noch keine 30 Jahre alt, erzählt sie von ihrem Leben als „ihrer Zeit damals“. Im zertrümmerten Berlin der Nachkriegsjahre passt sich die Mutter an den allgemeinen Kampf ums Überleben an, sie wird entschlossen und nimmt sowohl den Dialekt als auch die Berliner Redensarten an. Sie entwickelt sich zu einem „Typ“, für den die Beschreibung „groß, schlank, dunkelhaarig“ ausreicht. Diese Veränderung von einem Individuum zum Typ befreit sie sowohl von der eigenen Geschichte als auch von ihrer Einsamkeit und Beziehungslosigkeit. Als Typ wird sie wenigstens im Vorübergehen taxierend wahrgenommen. Jeden Zwang zur Beschäftigung mit sich selbst empfindet sie als abstoßend und meidet ihn. Zu Hause jedoch funktioniert der Trick nicht, denn dort ist sie den täglichen Sorgen und dem Ehemann ausgeliefert.

Alltägliches Elend in Österreich

Im Frühsommer 1948 kehrt die Familie nach Österreich zurück. Sie wohnt zunächst im Elternhaus, der Ehemann der Mutter wird beim Bruder angestellt. Hier nimmt die Mutter eine neue Haltung ein. Sie leistet Widerstand gegen die Außenwelt, indem sie sie auslacht: Sie lacht die Pläne ihres Ehemannes ebenso gnadenlos aus wie die Sehnsüchte ihrer Kinder. Wünsche seien lächerlich. Sie bekommt ihr drittes Kind. Oft muss sie ihren Mann in den Kneipen suchen, um sich dann von ihm höhnisch das restliche Geld zeigen zu lassen. Sie muss sparen, indem sie ihre Bedürfnisse einschränkt. Güter werden in notwendige, nützliche und luxuriöse eingeteilt. Luxus leistet sie sich einmal in der Woche: ein Kinobesuch, und am Tag darauf Schokolade für die Kinder. Das Verhältnis der Eheleute verschlechtert sich weiter: Er schlägt sie, sie redet nicht mehr mit ihm. Wenn die Kinder dereinst aus dem Haus sind, will die Mutter sich von ihrem Mann trennen. Weil bei ihrer dritten Abtreibung Komplikationen auftreten, sind keine weiteren mehr möglich; sie gebärt mit 40 Jahren ihr viertes Kind.

„Sie las jedes Buch als Beschreibung des eigenen Lebens, lebte dabei auf; rückte mit dem Lesen zum ersten Mal mit sich selber heraus; lernte, von sich zu reden; mit jedem Buch fiel ihr mehr dazu ein. So erfuhr ich allmählich etwas von ihr.“ (S. 65)

Auch in der Heimat der Mutter setzt sich der Prozess ihrer Entindividualisierung fort. Die Mitglieder der ländlichen Gesellschaft finden Trost in den Riten der Religion, des Brauchtums und der Sitten. Doch die Mutter geht nicht in diesen entindividualisierenden Riten auf, sie glaubt nicht an ein jenseitiges Glück: Das diesseitige hat sie schon nicht bekommen; sie wird unzufrieden. Eben weil sie sich ein anderes Leben vorstellen kann, empfindet sie es als Erniedrigung, täglich die Armut bewältigen zu müssen. Die Eintönigkeit, mit der die Tage vergehen, zermürbt sie. Als nach und nach Haushaltsgeräte angeschafft werden, bleibt mehr Zeit für andere Dinge. Allmählich kommt sie ein wenig mehr zu sich selbst. Sie liest Zeitungen und dieselben Bücher wie ihr Sohn Peter. Durch die Lektüre verwandelt sie sich: Sie lebt auf, fühlt sich dabei noch einmal jung. Sie vergleicht ihren eigenen Lebenslauf mit den in den Büchern erzählten Geschichten und lernt so, von sich selbst zu reden und sich ihrem Sohn mitzuteilen. Doch gleichzeitig ist die Lektüre für sie eine Rückschau auf Versäumtes, das sie selbst nicht mehr erleben kann.

„Gern wäre sie einfach so weggestorben, aber sie hatte Angst vor dem Sterben. Sie war auch zu neugierig. ‚Immer habe ich stark sein müssen, dabei wollte ich am liebsten nur schwach sein.‘“ (S. 72)

Allmählich entspannt sich das Verhältnis zum Ehemann. Sie verhindert, dass sie sich einsam fühlt, indem sie so intensiv wie möglich am Leben abwesender Angehöriger teilhat. Der Ehemann wird kränklich und sanft, schlägt sie nicht mehr. Das alternde Ehepaar lebt ruhiger zusammen; der Gedanke, dass ihr Mann sie nicht verstehen kann, erfüllt die Mutter mit Genugtuung. Sie hat keine Hobbys, nimmt am öffentlichen Leben nicht teil, bekommt keinen Besuch. Zwar wäre sie gerne tot, doch die Angst vor dem Sterben hält sie noch zurück.

Krankheit und Tod

Starke und anhaltende Kopfschmerzen bestimmen ihr Leben bald völlig; sie kann nicht mehr schlafen und bekommt Halluzinationen. Manchmal erkennt sie niemanden mehr. Die Ärzte wissen keinen Rat. Bei einem Besuch während ihres letzten Sommers nimmt Handke seine Mutter anders wahr: Sie erscheint ihm als „fleischgewordene Verlassenheit“. Sie ist nicht mehr in der Lage, ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zu spielen. Auf Spaziergängen findet sie wenigstens manchmal so etwas wie Betäubung. Aber meist irrt sie, vom Grauen gewürgt, ohne Zeit- und Ortsgefühl herum. Unfähig zur Verstellung, will sie keinen Menschen mehr sehen. Auch Reden bedeutet ihr nur noch Qual, Erinnerung an Schreckliches.

„Sie tat, als sei sie wirr im Kopf, um sich der endlich klaren Gedanken zu erwehren; denn wenn der Kopf ganz klar wurde, sah sie sich nur noch als Einzelfall und wurde taub für das tröstliche Eingeordnetwerden.“ (S. 80)

Behandlungen mit Medikamenten lindern das Leiden nur kurzzeitig. Als ein Psychiater einen Nervenzusammenbruch diagnostiziert, beruhigt sie zunächst die Tatsache, in ein System eingeordnet zu sein. Doch bald sehnt sie sich nach der Zeit zurück, in der sie niemanden mehr erkannt hat. Sie übertreibt die Symptome ihrer Krankheit, um sich der bedrohlichen Klarheit in ihrem Kopf zu erwehren, die ihr ihre Einsamkeit bewusst werden lässt. Im ersten Urlaub ihres Lebens fährt sie nach Jugoslawien ans Meer. In der unbekannten Umgebung gewinnt sie den Sinn für ihre Umwelt zurück. Unter den neuen Eindrücken hören ihre Kopfschmerzen auf. Zurück in Österreich, lässt sie sich auf Spaziergängen von ihrem Sohn begleiten und erzählt viel. Mit dem Ende des Sommers nehmen auch die lähmenden Gedanken wieder zu. Dennoch wird sie nochmals gesellig, lässt sich auf Ausflüge mitnehmen. In Briefen an ihren Sohn beschreibt sie sehr präzise ihren Zustand. Besonders beunruhigt sie die bevorstehende Heimkehr ihres Mannes aus einer Heilanstalt, in der er seine Lungentuberkulose kuriert hat; sie befürchtet eine noch größere Einsamkeit in seiner Gegenwart. Der in der Natur herrschende herbstliche Nebel bedeckt auch ihr Leben.

„Die Kopfschmerzen hörten auf. Sie musste an nichts mehr denken, war zeitweise ganz aus der Welt. Es war ihr angenehm langweilig.“ (S. 82)

In Abschiedsbriefen bringt die Mutter Mitte November 1971 zum Ausdruck, dass sie weiß, was sie tut, und warum sie nicht mehr anders kann. Ihrem Mann schreibt sie, an ein Weiterleben sei nicht zu denken. Am nächsten Tag besorgt sie sich Schlaftabletten, isst mit ihrer Tochter zu Abend und sieht sich mit dem jüngsten Kind noch einen Film im Fernsehen an. Dann nimmt sie alle Tabletten, legt sich ins Bett und stirbt. In dem Brief an Handke hat sie die Einzelheiten für ihre Bestattung festgelegt und behauptet, sie sei glücklich, endlich in Frieden einzuschlafen. Der Sohn kann das nicht glauben. Auf die Nachricht von ihrem Tod reagiert er mit Euphorie; er ist stolz, dass seine Mutter Selbstmord begangen hat.

„Am 1. 12. kommt mein Mann nach Hause. Ich werde mit jedem Tag unruhiger und habe keine Vorstellung, wie es noch möglich sein wird, mit ihm zusammenzuleben. Jeder schaut in eine andere Ecke, und die Einsamkeit wird noch größer.“ (die Mutter, S. 86)

Der Ursprung seines Bedürfnisses, etwas über die Mutter zu schreiben, ist die ohnmächtige Wut, die Handke auf ihrem Begräbnis angesichts der entpersönlichenden religiösen Beerdigungsriten überfällt. Er will die Sprachlosigkeit überwinden, mit der er zunächst auf den Tod der Mutter reagiert hat. Den Moment des Entsetzens hält er für nicht teilbar und auch für nicht mitteilbar. Das Schreiben führt nicht zur anfangs erhofften Distanzierung vom Leben seiner Mutter und ihrem Tod, weil er sich eben nicht mit sich selbst auseinander setzt, sondern sich durch das Schreiben einem anderen Individuum immer mehr annähert. Die Geschichte beschäftigt ihn noch lange, bestürmt ihn mit „interesselosem Entsetzen“. Das Bemühen um radikale Ehrlichkeit wird während des Schreibens oftmals schmerzhaft für Handke und er sehnt sich nach einem Werk, in dem er auch wieder ein wenig lügen könnte, ein Theaterstück zum Beispiel. Handke endet mit dem Vorsatz, später „über das alles Genaueres schreiben“ zu wollen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Text beginnt mit der lapidaren Notiz in einer österreichischen Provinzzeitung über den Selbstmord einer Hausfrau. Nachdem Handke daran anschließend seine Motivation, die Lebensgeschichte seiner Mutter aufzuschreiben, dargelegt hat, folgt er in seiner Beschreibung in der Perspektive des Ich-Erzählers chronologisch dem Leben seiner Mutter. Die Schilderung von Lebensstationen wird durchbrochen von kommentierenden Passagen, in denen der Autor immer wieder den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Person seiner Mutter herstellt. Äußerungen der Mutter über sie selbst werden vor allem in Zitaten aus ihren Briefen wiedergegeben. Seitenweise stellt der Autor Überlegungen zu den Schwierigkeiten an, seine Mutter zugleich als Person und als typischen Fall darzustellen; er setzt sich so mit seiner eigenen Position auseinander, erzählt, wie das Schreiben seine Einstellungen und ihn selbst beeinflusst. Seine Unfähigkeit, wirklich Distanz zum Leben seiner Mutter zu schaffen, bringt er dadurch zum Ausdruck, dass sich die Erzählung am Ende in reine Erinnerungsfetzen auflöst. Handkes Sprache ist sehr klar. Bei der Skizzierung des gesellschaftlichen Umfelds und seiner Kommentierung wird der Ton bisweilen sarkastisch. Ansonsten gibt Handke beklemmende Tatsachen in einem fast nüchternen Ton wieder. Gerade dieser sprachliche Gegensatz zum Beschriebenen lässt das Unglück der Mutter jedoch umso schärfer hervortreten.

Interpretationsansätze

  • Handke will die wahre Lebensgeschichte seiner Mutter als Resultat der sie prägenden äußeren Bedingungen und inneren Zwänge niederschreiben. Dabei will er seine Mutter sowohl als Person als auch als exemplarischen Fall eines Frauenlebens darstellen. Deshalb vergleicht er, wie er sagt, „den allgemeinen Formelvorrat für die Biographie eines Frauenlebens satzweise mit dem besonderen Leben meiner Mutter“.
  • Es gibt für die Frau keine Entfaltung der Persönlichkeit, so was ist in den kleinbürgerlich-ländlichen Verhältnissen nicht vorgesehen. Die Frau wird auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau lebenslang festgelegt. Unter den äußeren Zwängen findet sie keine eigene Identität, wird geradezu entindividualisiert. Ihr Selbstmord erscheint darum als ein Akt der Selbstbefreiung. So ist auch der Stolz Handkes auf ihren Freitod zu verstehen.
  • Die Reflexion über das Schreiben ist das zweite Hauptthema der Erzählung. Handkes Methode in Wunschloses Unglück ist die Annäherung an seine Mutter durch Gegensätze. Schon im widersprüchlichen Titel drückt sich dies aus, ebenso im ständigen Vergleich der üblichen Formeln für die Beschreibung eines Falls mit dem konkreten Individuum.
  • Es geht Handke um die Macht der Wirklichkeit schaffenden Sprache. In Wunschloses Unglück wird die Prägung durch Sprache exemplarisch dargestellt: Sie dient der Manipulation der Mutter und ist zugleich Instrument der Unterdrückung ihrer Entfaltung. Die Mutter ist ursprünglich gesellig und erzählt gern von sich selbst; weil ihr niemand zuhört, zieht sie sich in sich selbst zurück. Auch die Sprachlosigkeit führt zu ihrem Tod.
  • Die Geschichte wird von ihrem Ende her erzählt: Der Endpunkt des Lebens der Mutter wird zum Ausgangspunkt ihrer erzählten Geschichte. So wird die tote Mutter quasi wieder zum (literarischen) Leben erweckt. Ein Ziel des Autors war es, aus der Perspektive des distanzierten Erzählers Abstand zum Geschehen zu gewinnen. Doch daran, gibt er zu, scheitert er, die Erinnerungsarbeit wird kein Ende haben.

Historischer Hintergrund

Handkes poetologisches Konzept

Das gesamte literarische Werk Peter Handkes ist von dem Bemühen geprägt, mit größtmöglicher sprachlicher Genauigkeit seine wahren Empfindungen und Wahrnehmungen zu beschreiben. Sprache ist für Handke die Möglichkeit schlechthin, seine persönliche Welt zu schaffen und mitzuteilen. Er gibt in seinem Essay Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms Auskunft über sein poetologisches Konzept, sein Verhältnis zur Dichtkunst. In kritischer Auseinandersetzung mit der so genannten realistischen Literatur seiner Schriftstellerkollegen legt er einen Gegenentwurf vor und bekennt sich ausdrücklich dazu, ein Formalist und Ästhet zu sein. Realistische Literatur hält er für trivial, weil in ihr die Beschäftigung mit der Sprache zu kurz komme. Er kann in ihr keine neuen Möglichkeiten, keine neuen Gedanken und Gefühle entdecken. Als einziges Thema seines eigenen Schreibens benennt Handke sein Bestreben, sensibler, empfindlicher, genauer zu werden – im Umgang mit sich selbst und auch im Verhältnis zur Umwelt. Der Autor will kein Bild der Wirklichkeit geben, sondern über Wörter und Sätze mit der Wirklichkeit spielen. Altbekannte literarische Schemata will er so wieder brauchbar machen, mit ihnen wieder wirkliche Empfindungen ausdrücken. Doch weil jede literarische Methode nur einmal funktioniert, braucht es für jedes Werk eine neue. Die ständige Reflexion über die Auswirkungen der Sprache auf das Verhältnis des Individuums zur Außenwelt zeichnet die Prosatexte Handkes aus.

Zwar entwickelt sich Handke in seinen späteren Werken zunehmend von seiner Sprachskepsis weg und hin zu einer Utopie einer poetischen Lebensform, in der das Erzählen die Welt rettet. Jedoch bleibt er seinem Konzept, die Sprache in jedem Werk neu zu entdecken, auch in seinen späteren Büchern treu. Allerdings ist es nicht einfach, ihm auf seinem Weg der radikalen Subjektivität zu folgen: Anlässlich einer Theateraufführung von Handkes Über die Dörfer unter der Regie von Wim Wenders in Salzburg sagte der Kritiker Peter Iden, es sei „kaum noch ein Gedanke in diesem Text – nur aufgeblähte Sätze, Hohlformen nach der Preisgabe des Denkens“. Doch stehen geblieben ist Handke nie auf seinem literarischen Weg, die Sprache immer neu zu suchen und mit ihr seine persönliche, subjektive Wirklichkeit möglichst präzise mitzuteilen.

Entstehung

Im November 1971, in dem sich seine Mutter das Leben nahm, trennte sich Handke von seiner Frau, mit der er fast fünf Jahre verheiratet war und mit der er eine Tochter hat. Zu diesem Zeitpunkt war seine Erzählung Der kurze Brief zum langen Abschied nahezu fertiggestellt. Sie erschien im Januar 1972 und wurde von der Kritik als neue Form des Entwicklungsromans gepriesen. Ebenfalls abgeschlossen war die Verfilmung seines 1970 veröffentlichten Romans Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Inmitten dieses privat und beruflich ereignisreichen Lebensabschnittes schrieb Handke im Januar und Februar 1972 mit Wunschloses Unglück das Buch über seine Mutter. Auch wenn Selbstaussagen von Schriftstellern in ihren eigenen Werken mit Vorsicht aufzunehmen sind, kann in diesem Fall davon ausgegangen werden, dass Handke ihr Leben so genau, wie es ihm zu diesem Zeitpunkt möglich war, aufgeschrieben hat. In der Erzählung berichtet er selbst von seinen Schwierigkeiten während ihrer Entstehung. Er befand sich nach dem Tod der Mutter in einem reizbaren Zustand. Mit der Anstrengung des Erinnerns und Formulierens wollte er das Ereignis und seine Wirkung auf ihn in etwas Abgeschlossenes verwandeln. Am Ende des Werks gesteht er sein Scheitern ein: Seine Distanzierung bewertet er als nur behauptet, die Erinnerung an das Entsetzen überwältigt ihn auch am Ende des Schreibprozesses noch immer. Wunschloses Unglück erschien im September 1972.

Wirkungsgeschichte

Bereits die Startauflage des Buches war mit 30 000 Exemplaren ungewöhnlich hoch. Bis heute wurden mehr als 400 000 Stück verkauft. Wunschloses Unglück ist damit das meistgelesene Werk von Handke. Von der Kritik wurde die Erzählung als Wende Handkes zum eher klassischen Erzählen begeistert gefeiert. Seine Überlegungen zum Erzählproblem und dessen Bewältigung in Wunschloses Unglück galten als maßstabsetzend. Ein Grund für den Erfolg ist auch, dass in der deutschsprachigen Literatur der 60er und 70er Jahre die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration in Verbindung mit der Bestimmung der eigenen Position ein zentrales Thema war. Die Literaturgeschichte stellt die Erzählung in Zusammenhang mit einer Tendenz der 70er Jahre, als auch Max Frisch, Günter Grass und Elias Canetti Tagebücher oder autobiographische Texte veröffentlichten. Der Aspekt, dass Handke in Wunschloses Unglück vielleicht ebenso viel über sich selbst erzählt wie über seine Mutter, wurde lange Zeit vernachlässigt. Die Erzählung gilt auch als ein Beispiel für eine nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in Österreich entstandene neue Art von Heimatliteratur, die sich kritisch und fern jeder Idylle mit dem Land beschäftigt. Wunschloses Unglück wurde 1974 als Theaterinszenierung unter der Regie von Wolfgang Glück für das Fernsehen verfilmt. Weniger bekannt ist eine Verfilmung aus dem Jahr 1981 mit Hilde Krahl als Hauptdarstellerin.

Über den Autor

Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Seine Mutter stammt aus einer slowenisch-kärntnerischen Familie, sein Vater ist ein im Zweiten Weltkrieg in Österreich stationierter deutscher Soldat. Nach dem Abitur beginnt Handke ein Jurastudium in Graz. Aufgrund des Erfolgs seiner ersten literarischen Werke gibt er das Studium auf und arbeitet fortan als freier Schriftsteller. Nach zahlreichen Stationen in Paris, Österreich und Deutschland lebt er seit 1991 in Chaville bei Paris. Seine ersten Werke zeigen ihn als Vertreter einer sprachkritischen Literatur. Im Lauf der Zeit wendet er sich mehr dem traditionellen Erzählen zu. Im Zentrum seines Schaffens steht die Bemühung, subjektive Erfahrungen mitteilbar zu machen. Handke schreibt Essays, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke (z. B. Publikumsbeschimpfung, 1966) und zahlreiche Prosatexte: Sein erster ist der Roman Die Hornissen (1966). Daneben übersetzt er Werke von Shakespeare, Julien Green u. a. Gemeinsam mit Wim Wenders realisiert er mehrere Filme: 1971 entsteht Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, 1987 schreiben die beiden zusammen das Drehbuch für Der Himmel über Berlin. Handke wird mit etlichen bedeutenden Preisen für deutschsprachige Literatur ausgezeichnet, darunter 1973 mit dem Georg-Büchner-Preis. Seit den 90er Jahren erregt Handke weniger mit seinen literarischen Texten Aufsehen als mit seinem Engagement für Serbien, das in einem Besuch beim ehemaligen Präsidenten Slobodan Miloševic während dessen Haft in Den Haag und in einer Rede auf dessen Beerdigung im März 2006 gipfelt. Ein Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit ist Handke mit jeder Äußerung sicher. Im Frühjahr 2006 wird eine geplante Aufführung eines Handke-Stücks an der Pariser Comédie-Française wegen Handkes proserbischer Position abgesetzt. Der Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf wird ihm im Mai 2006 zunächst von der Jury zuerkannt, vom Stadtparlament aber verweigert, woraufhin Handke seinerseits auf den Preis verzichtet.

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