Zwei Prozent gegen die Katastrophe – Seite 1

Die Klimakrise spitzt sich zu, und allzu viele Menschen schalten von Verleugnung direkt um auf Verzweiflung. Noch vor wenigen Jahren konnte man regelmäßig hören, wie Leute den Klimawandel leugneten, das Ausmaß der Bedrohung herunterspielten oder behaupteten, es sei noch viel zu früh, sich Sorgen zu machen. Inzwischen sagen viele, es sei längst zu spät; die Apokalypse stehe bevor und sei nicht mehr abzuwenden.

Verzweiflung ist aber genauso gefährlich wie Verleugnung – und genauso falsch. Die Menschheit verfügt über enorme Ressourcen; setzen wir sie klug ein, dann können wir die ökologische Katastrophe noch verhindern. Aber wie viel genau würde das kosten? Wenn die Menschheit den zerstörerischen Klimawandel aufhalten wollte, wie hoch müsste der Scheck dafür ausfallen?

Ganz genau kann das natürlich niemand sagen. Mein Team und ich haben uns wochenlang durch Gutachten und Fachpublikationen gearbeitet, uns Tag und Nacht mit Zahlen umgeben. Die Rechenmodelle hinter den Zahlen sind enorm kompliziert, aber das Endergebnis gibt Grund zur Zuversicht. Laut der Internationalen Energieagentur müsste der Anteil des jährlichen weltweiten Bruttoinlandsprodukts, den wir für Energie ausgeben, nur zwei Prozentpunkte höher sein als jetzt, um eine CO₂-neutrale Wirtschaft zu erreichen. Auch in einer Reuters-Umfrage unter Klimaökonomen herrscht weitgehend Einigkeit, dass es nur zwei bis drei Prozent kosten würde. Andere Schätzungen setzen den Preis vielleicht etwas niedriger oder höher an, aber allesamt liegen sie im niedrigen einstelligen Bereich des jährlichen weltweiten BIP.

Klimakrise - Wie extrem wird das Wetter noch? Hitzewellen, Dürre und Fluten nach Starkregen – was wir in den letzten Jahren erlebt haben, ist erst der Anfang der Klimakrise. Dieses Video erklärt, was uns bevorsteht. © Foto: ZEIT ONLINE

Besonders günstig: Verhalten ändern

So stellt es auch der Weltklimarat in seinem wegweisenden Sonderbericht von 2018 fest: Um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, müssten die jährlichen Investitionen in erneuerbare Energien auf drei Prozent des weltweiten BIP steigen. Da die Menschheit schon jetzt etwa ein Prozent für erneuerbare Energien ausgibt, müsste das Kuchenstück also nur um zwei Prozentpunkte größer werden!

Diese Kostenrechnungen konzentrieren sich auf die Transformation der beiden wichtigsten Sektoren: Energie und Verkehr. Natürlich gibt es auch noch andere Emissionsquellen, etwa Bodennutzung, Forstwirtschaft, Landwirtschaft (die berüchtigten furzenden Kühe). Erfreulicherweise können viele dieser Emissionen aber für kleines Geld reduziert werden, indem wir unser Verhalten ändern: pflanzliche Ernährung statt Fleisch und Milchprodukten. Mehr Gemüse essen kostet nichts, aber verlängert Ihr Leben – und das der Regenwälder.

Natürlich kann man endlos über die exakten Zahlen streiten und die Rechenmodelle anders feinjustieren. Aber betrachten wir das große Ganze jenseits der Mathematik. Die entscheidende Botschaft ist: Der Preis für die Verhinderung der Apokalypse liegt irgendwo im niedrigen einstelligen Bereich des jährlichen weltweiten BIP. Ganz bestimmt liegt er nicht bei 50 Prozent, auch nicht bei 15. Vielmehr irgendwo unterhalb von fünf, vielleicht eben bei nur zwei Prozent des jährlichen weltweiten BIP, investiert an den richtigen Stellen.

Prioritäten richtig setzen

Wohlgemerkt: investiert. Es geht also nicht darum, gigantische Geldberge zu verbrennen als Opfergabe an die Erdgeister. Es geht um Investitionen in neue Technologien und Infrastrukturen, etwa verbesserte Speicher für Solarstrom und modernisierte Verteilernetze. Diese Investitionen werden zahlreiche neue Arbeitsplätze und wirtschaftliche Möglichkeiten schaffen; und wahrscheinlich sind sie langfristig profitabel, auch indem die Gesundheitssysteme entlastet und Millionen Menschen nicht mehr wegen verschmutzter Luft krank werden. Wir können die Menschen schützen, die am stärksten von Naturkatastrophen bedroht sind, wir können künftigen Generationen bessere Vorfahren sein, und bei alledem können wir auch noch die Wirtschaft ankurbeln.

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Etwa 75 Billionen Euro umfasst das weltweite BIP.

Diese großartige Nachricht ist in der hitzigen Debatte über den Klimawandel irgendwie beiseitegedrängt worden. Stellen wir sie in den Mittelpunkt – nicht nur, um den Leuten Hoffnung zu machen, sondern vor allem, weil sich daraus eine klare politische Marschroute ableiten lässt. Seit einigen Jahren brechen wir unser Ziel auf eine Zahl herunter: 1,5 Grad. Die dazu nötigen Mittel können wir ebenfalls in eine Zahl fassen: zwei Prozent. Zwei Prozentpunkte mehr in umweltfreundliche Technologien und Infrastruktur investieren als 2020.

Freilich, im Gegensatz zu den 1,5 Grad – einem wissenschaftlich fundierten Schwellenwert – sind die zwei Prozent nur über den Daumen gepeilt. Begreifen wir sie als Schätzwert, mit dessen Hilfe wir das politische Projekt formulieren können, das die Menschheit angehen muss. Der Schätzwert sagt uns: Die Verhinderung der Klimakatastrophe ist ein ganz und gar machbares, wenn auch sehr teures Unterfangen. Das weltweite BIP liegt derzeit bei etwa 75 Billionen Euro, zwei Prozent davon wären 1,5 Billionen. Um die Umwelt zu retten, müssen wir also nicht die Wirtschaft in den Abgrund stürzen oder zivilisatorische Errungenschaften aufgeben. Wir müssen nur unsere Prioritäten richtig setzen.

Das Geld ist da

Allerdings ist es mit einem Scheck über zwei Prozent des jährlichen weltweiten BIP noch lange nicht getan. Andere Umweltprobleme bleiben ja, etwa Weltmeere voller Plastik oder der stetige Verlust von Biodiversität. Außerdem müssten wir sicherstellen, dass die Gelder auch richtig eingesetzt werden und die neuen Investitionen nicht selbst wieder ökologische oder soziale Folgeschäden verursachen. Wenn wir mit dem Abbau seltener Metalle für die erneuerbaren Energien Ökosysteme zerstören, dann wäre am Ende nichts gewonnen. Auch müssen wir manches an unserem Verhalten und Denken ändern: wie wir essen, wie wir reisen. Das wird alles nicht leicht. Aber genau dafür haben wir doch die Politik: um sich mit Schwierigkeiten herumzuschlagen.

Politikerinnen und Politiker sind sehr erfahren darin, zwei Prozent irgendwelcher Mittel von hier nach dort zu bewegen; das ist schließlich ihr täglich Brot. Die Differenz zwischen rechter und linker Politik beschränkt sich oft genug auf wenige Prozentpunkte des BIP. Zur Bekämpfung ernsthafter Krisen werden auch weitaus größere Geldmengen zügig verschoben.

Was kostet der Regenwald?

1945 wandten die USA etwa 36 Prozent ihres BIP für den Sieg im Zweiten Weltkrieg auf. Während der Finanzkrise von 2008/09 rettete die US-Regierung mit 3,5 Prozent des BIP Finanzinstitute, die man als systemrelevant, als too big to fail erachtete. Könnte die Menschheit nicht auch den Amazonasregenwald als too big to fail einstufen? Was würde es kosten, den Wald, seine Biodiversität und die dort lebenden Menschen vor zerstörerischen Geschäftsinteressen zu schützen? Nach den derzeitigen Bodenpreisen würde der Aufkauf des gesamten Amazonasregenwalds etwa 700 Milliarden Euro kosten; das entspricht einer Einmalzahlung von weniger als ein Prozent des weltweiten BIP.

Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 haben Regierungen auf der ganzen Welt Hilfsmaßnahmen in Höhe von knapp 14 Prozent des weltweiten BIP angekündigt, als Reaktion auf die Corona-Pandemie. Üben die Bürgerinnen und Bürger nur genügend Druck aus, kann die Politik der ökologischen Krise ebenso entschlossen entgegentreten; Anlagebanken und Rentenfonds übrigens auch. Rentenfonds halten etwa 49 Billionen Euro – nur, was nützt eine Rente, wenn man keine Zukunft hat?

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Etwa 440 Milliarden Euro fließen jährlich an direkten Subventionen für fossile Brennstoffe.

Derzeit aber wollen weder Unternehmen noch Regierungen die zusätzlichen zwei Prozent aufbringen, die zur Abwendung der Klimakatastrophe nötig wären. Wohin fließt das Geld stattdessen?

2020 beliefen sich die Militärausgaben aller Staaten auf 1,75 Billionen Euro – das sind 2,4 Prozent des weltweiten BIP. Die gleiche Menge geht über zwei Jahre für Lebensmittelverschwendung drauf. Außerdem fließen jährlich etwa 440 Milliarden an direkten Subventionen für – Trommelwirbel – fossile Brennstoffe! Umgerechnet also alle dreieinhalb Jahre stellen die Regierungen einen schönen dicken Scheck in Höhe von zwei Prozent des jährlichen weltweiten BIP aus und verehren ihn der fossilen Energiewirtschaft. Schlimmer noch: Rechnet man die sozialen und ökologischen Kosten mit ein, die diese Unternehmen verursachen, ohne dafür zur Kasse gebeten zu werden, dann sprechen wir von sage und schreibe sieben Prozent des weltweiten BIP pro Jahr.

Ein anderes Thema ist Steuerhinterziehung: Die EU schätzt die in Steueroasen versteckten Vermögen auf etwa zehn Prozent des weltweiten BIP. Jahr für Jahr werden Unternehmensgewinne von 1,2 Billionen Euro auf Offshore-Konten beiseitegebracht, das entspricht 1,6 Prozent des weltweiten BIP. Um die Apokalypse zu verhindern, werden wir wahrscheinlich auch neue Steuern verhängen müssen. Aber wieso nicht erst mal die alten kassieren?

Das Geld ist da. Natürlich ist das alles leichter gesagt als getan: Steuern eintreiben, Militärausgaben kürzen, Lebensmittelverschwendung stoppen, Subventionen streichen; zumal man es dabei mit einigen der mächtigsten Lobbygruppen der Welt aufnehmen müsste. Aber es braucht eben kein Wunder – nur beherztes Gestalten.

Also bitte keine Schwarzseherei! Wenn jemand sagt: "Es ist zu spät! Die Apokalypse steht bevor!", dann antworten Sie: "Von wegen, wir können sie aufhalten, es braucht nur zwei Prozent." Und wenn kommenden November die UN-Klimakonferenz in Ägypten tagt, dann sagen wir den versammelten Regierungen: Vage Absichtserklärungen zum 1,5-Grad-Ziel genügen uns nicht. Sie sollen ihre Stifte rausholen und einen Scheck ausstellen, über zwei Prozent des jährlichen weltweiten BIP.

Yuval Noah Harari ist der Autor von "Eine kurze Geschichte der Menschheit", "Homo Deus" und "Sapiens". Datenquellen zu diesem Beitrag finden sich auf sapienship.co/decision-makers/2-percent-more.