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Dshamilja

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Dshamilja

Suhrkamp,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Diese rührende Liebesgeschichte aus dem entlegensten Winkel des Sowjetreichs gab dem sozialistischen Realismus ein erfrischend neues Gesicht.

Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Realismus

Worum es geht

Die Liebe in Zeiten der Kolchosen

Louis Aragons 50 Jahre altes Lob, Dshamilja sei „die schönste Liebesgeschichte der Welt“, lastet schwer auf dem schmalen Büchlein. Freilich ist die Novelle über eine verbotene Liebe im kirgisischen Sommer 1943 sehr schön. Sie lässt den Leser in eine fremde Welt eintauchen, in der es noch immer salzig nach dem Nomadenleben riecht, obwohl das Zeitalter tatkräftiger Sowjetmenschen inmitten goldener Weizenbündel längst begonnen hat. Die Mischung aus zentralasiatischem Volksmärchen und sozialistischem Sendungsbewusstsein macht die Erzählung einzigartig. Heute sind die meisten ehemaligen Kolchosen pleite, und viele arbeitslose Kirgisen ziehen im Sommer wieder mit ihren Jurten und Viehherden in die Berge. Die ideologische Moral von Dshamilja hat sich überlebt. Nicht aber die menschliche: Liebe ist das Schönste in der Geschichte der Welt – und so schwer fassbar, dass in jeder Epoche neu und in jeder Kultur anders von ihr erzählt wird.

Take-aways

  • Dshamilja, eine der schönsten Liebesgeschichten der Welt, machte Tschingis Aitmatow berühmt.
  • Inhalt: In einem kirgisischen Dorf der ehemaligen Sowjetunion verlieben sich 1943 der Kriegsinvalide Danijar und die junge Soldatenfrau Dshamilja ineinander. Bevor ihr Ehemann zurückkehrt, flieht das Liebespaar ins Ungewisse. Erzählt wird aus der Perspektive des 15-jährigen Said, der seine Berufung zum Maler entdeckt und der Welt von der Schönheit seiner Heimat erzählen möchte.
  • In der Geschichte geht es um den Triumph der Liebe über Stammestraditionen und um den Aufbruch in eine sozialistische Zukunft.
  • Innerhalb einer Generation waren aus den kirgisischen Hirtennomaden sesshafte Kolchosbauern geworden.
  • Aitmatow war überzeugt, dass die Kunst den Graben zwischen Nomaden- und Sowjetkultur überbrücken könne.
  • Er schrieb die Novelle 1958 als Diplomarbeit am Moskauer Maxim-Gorki-Institut.
  • Der französische Schriftsteller Louis Aragon entdeckte sie und machte mit seinem überschwänglichen Lob den Autor international bekannt.
  • In Russland und der DDR war Dshamilja Pflichtlektüre.
  • Bei seinem Tod 2008 wurde Aitmatow als kirgisischer Nationalheld verehrt.
  • Zitat: „Selbst heute noch stelle ich mir oft die Frage, ob die Liebe nicht eine Inspiration ist wie die Inspiration des Malers, des Dichters.“

Zusammenfassung

Ein Bild aus vergangenen Zeiten

Am Abend vor der Abreise in seinen Aul (Dorf) betrachtet der Maler Said ein Bild, das ihm besonders lieb ist. Es zeigt scheckige Wolken vor einem fahlen Herbsthimmel. Auf einem regennassen Weg in der kirgisischen Steppe sind die Fußspuren zweier Wanderer zu sehen, die selbst undeutlich am Bildrand zu erkennen sind. Es ist eine Szene aus Saids Jugend, im Herbst 1943. Die erwachsenen Männer sind in diesem Sommer an der Front und kämpfen gegen die Deutschen. Jungen wie der 15-jähirge Said und die Soldatenfrauen schuften auf der Kolchose. Zur Erntezeit wird jede freie Hand gebraucht, um die Sowjettruppen mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Nach wochenlanger Feldarbeit schaut Said im Haus seiner Eltern vorbei. Sein Vater ist Zimmermann, die zwei älteren Brüder sind im Krieg verschollen. Neben dem Großen Haus gibt es das Kleine Haus, in dem Verwandte wohnen. Nach dem Tod des Familienoberhaupts im Kleinen Haus war Saids Vater gezwungen, die Witwe und Mutter zweier kleiner Söhne zu heiraten. Die beiden Jungen sind heute erwachsen und an der Front, sodass die zweite Frau von Saids Vater und ihre Schwiegertochter Dshamilja allein dort leben. Said nennt Dshamilja „Dshene“, was „Frau des älteren Bruders“ bedeutet.

„Es war in meiner frühen Jugend, im dritten Jahr des Krieges. Unsere Väter und Brüder standen irgendwo bei Kursk und Orel an der Front, und wir, damals noch Buben von fünfzehn, sechzehn Jahren, arbeiteten auf der Kolchose.“ (S. 24)

Saids Mutter, das eigentliche Oberhaupt der großen Familie, streitet sich gerade mit dem Brigadeführer Orosmat. Dieser versucht sie zu überreden, Dshamilja Korn zur Bahnstation fahren zu lassen. Doch die Mutter wird immer zorniger: Eine Frau komme für diese schwere Arbeit nicht infrage. Und überhaupt müsse sie zwei Haushalte allein versorgen, weil alle auf der Kolchose eingespannt seien. Bei Saids Anblick kommt Orosmat der rettende Gedanke: Dshamilja solle ihren halbwüchsigen Schwager als Aufpasser mitnehmen, dann würde sich schon kein Mann an ihr vergreifen. Und Danijar, ein junger Mann, der kürzlich aus dem Krieg zurückgekommen ist, solle auch mitfahren. Resigniert willigt die Mutter ein. Said versucht, sich die Freude nicht anmerken zu lassen. Er vergöttert seine Dshene und fühlt sich geschmeichelt, als ihr Beschützer auserkoren zu sein.

Dshamilja

Dshamilja ist die einzige Tochter eines Pferdehirten und hat das forsche, mutige Auftreten eines Mannes. Im Dorf wird gemunkelt, dass ihr Ehemann Sadyk bei einem Wettrennen gegen sie verloren und sie aus verletztem Stolz entführt habe. Die beiden lebten nur vier Monate zusammen, ehe er einberufen wurde. Die Nachbarn beschweren sich oft über Dshamiljas direkte und furchtlose Art. Aber die Mutter nimmt sie in Schutz. Sie ist stolz auf ihre charakterstarke Schwiegertochter und verzeiht ihr den Übermut. Die bildhübsche Dshamilja hat glattes, dunkles Haar und trägt ihr weißes Kopftuch schräg in die gebräunte Stirn gezogen. Viele ehemalige Frontsoldaten vergaffen sich in sie. Einmal wird sie von Osmon, einem entfernten Verwandten, belästigt. Als sie ihn verächtlich wegstößt, wird er ausfällig: Sie sei ja in Wahrheit ganz scharf darauf und tue nur so hochnäsig. Möglich, schleudert sie wütend zurück, aber sie wolle nicht einen Ekel wie ihn. Den ganzen Tag über brütet sie vor sich hin. Beim Anblick des Sonnenuntergangs über der violetten Steppe sagt sie leise zu Said, dass kein Mann der Welt eine Frau jemals verstehen könne. Wenn die Familie einen Brief von Sadyk erhält, überfliegt sie hastig die endlosen Grüße und Erkundigungen nach den Eltern und Dorfältesten, bis ihre Augen flüchtig den zum Schluss hingekritzelten Gruß an sie streifen. Der Respekt vor den Stammesältesten ist ein ungeschriebenes Gesetz. Dennoch scheint Sadyks Verhalten sie zu enttäuschen.

Danijar

Am Abend führt Said seine Pferde zum Weiden an eine verborgene Stelle des Luzernenackers, obwohl der Kolchosvorsteher verboten hat, den Acker zu nutzen. Als Said dort noch vier weitere Pferde sieht, wird er ärgerlich. An der Dreschtenne trifft er Danijar, der ihm kurz angebunden sagt, dass es seine und Dshamiljas Tiere sind. Dann geht er zum Fluss hinunter, um dort zu übernachten. Der schweigsame, eigenbrötlerische junge Mann hält sich erst seit Kurzem im Dorf auf. Als er mit einem verletzten Bein aus dem Krieg zurückkehrte, erkannte ihn zunächst niemand. Dann stellte sich heraus, dass er im Dorf geboren worden war. Nach dem Tod beider Eltern wurde er von einem Hof zum anderen weitergereicht und landete schließlich bei den benachbarten Kasachen. Er grub Bewässerungskanäle in der Wüste, arbeitete auf den neuen Baumwollsowchosen und in einem Bergwerk. Die schwere Kindheit hat ihn misstrauisch und verschlossen werden lassen. Nur manchmal, wenn er seinen Kopf hebt und angestrengt lauscht, leuchten seine Augen seltsam entzückt auf. Nachts schläft er meist in einem Strohhaufen am Ufer des Flusses Kukureu, abseits der Hütte, in der die anderen Erntearbeiter übernachten. Said wundert sich, dass Danijar keine Angst vor dem rauschenden Fluss hat, der im Sommer anschwillt und über die Ufer tritt. Die Jungen mögen den Sonderling nicht, doch sie lassen ihn meistens in Ruhe.

An der Station

Am Morgen spannt Dshamilja die Pferde selbst vor ihren Wagen und bestimmt, wie die Säcke aufgeladen werden. Ihr Befehlston scheint Danijar gleichzeitig zu ärgern und zu begeistern. Mit drei Wagen fahren sie den weiten Weg zur Bahnstation, zunächst 20 Kilometer durch die Steppe und dann durch eine Schlucht. Die Station erreichen sie in glühender Mittagshitze. Es herrscht ein unglaubliches Gedränge. Züge donnern vorbei, Ochsen- und Maultiertreiber schreien um die Wette. Vor lauter Staub bleibt Said der Atem weg. Er muss die schweren Säcke über eine schmale Bretterstiege auf das Dach des Kornspeichers hinauftragen. Vor Anstrengung wird ihm schwarz vor Augen. Aber hinter ihm schleppen Jungen und Soldatenfrauen die gleichen Säcke, da will er sich keine Blöße geben.

„Da kam Dshamilja in unser Haus, und vom ersten Tag an zeigte sich, dass sie anders war, als man sich bei uns eine Schwiegertochter vorstellte.“ (S. 37)

Wenn die drei zusammen zur Station fahren, spielen Said und Dshamilja ihrem Gefährten immer wieder Streiche. Während der Fahrt jagen sie mit ihren Gespannen lachend an Danijar vorbei und lassen ihn in einer dichten Staubwolke zurück. Doch der Gefoppte schaut das Mädchen nur weiter mit düsterem Entzücken an. Einmal verstecken Said und Dshamilja einen riesigen Zwei-Zentner-Sack, den man nur zu zweit tragen kann, unter den Säcken auf seinem Wagen. Danijar ist wild entschlossen, es seinen Peinigern zu zeigen. Er nimmt das Ungetüm auf die Schultern und wankt die Treppe hoch, das kranke Bein noch stärker nachschleppend als zuvor. Dshamiljas Lachen erstirbt und ihre Lippen beginnen zu zittern. Unter der Last geht Danijar auf der Treppe in die Knie. Alle rufen ihm zu, er solle endlich den Sack hinwerfen – vergeblich. Als er wieder zu stürzen droht, schreit Dshamilja Said an, er solle ihm helfen. Said bahnt sich einen Weg durch die Menge und versucht, den Sack von hinten zu stützen. Danijar schaut ihn mit blutunterlaufenen Augen an und knurrt, er solle weggehen. Wie durch ein Wunder schafft er es bis zum Speicher.

Nächtlicher Gesang

Der Vorfall hat Dshamilja und Said die Lust an den Streichen verdorben. Um das Schweigen zu durchbrechen, fängt das Mädchen in der folgenden Nacht auf dem Rückweg an zu singen. Es ist eine sternenklare Augustnacht. Der Geruch von blühendem Wermut und reifem Getreide liegt in der Luft, und der unbändige Kukureu rauscht unter dem Gestrüpp aus Weiden und Pappeln. Da bricht Dshamilja mitten in der Strophe ab und bittet Danijar zu singen. Ohne Erfolg. Dann fragt sie ihn, ob er schon mal geliebt habe. Keine Antwort. Doch schließlich erhebt Danijar seine Stimme zu einem Gesang, so schön und leidenschaftlich, dass er Said und Dshamilja verstummen lässt. In seiner tiefen Stimme liegt etwas Großes, Seelenvolles. Danijar vereint in seinen Liedern die Majestät der kirgisischen Berge mit der Weite der kasachischen Steppe. Nun begreift Said, warum Danijar immer die Einsamkeit gesucht hat: Er ist verliebt, nicht in einen Menschen, sondern in die ganze Erde. Von nun an ändert sich alles. Said und Dshamilja verrichten ihre Arbeit nur noch, um auf dem Rückweg Danijars Liedern zu lauschen. Said kommt es vor, als höre er dessen Stimme auch im taunassen Klee am Morgen und im goldenen Regen des Weizens am Dreschplatz. Danijars Lieder beschwören glückliche, seit der Kindheit vertraute Bilder herauf: von wilden Pferdeherden, schäumenden Wasserfällen und einsamen Reitern am Horizont. Said verspürt das Bedürfnis, den Menschen von der Schönheit seines Landes zu erzählen.

Verzweifelte Liebe

Dshamilja ist nicht mehr so ausgelassen wie zuvor. Nur einmal lacht sie so laut wie früher, als sie mit einem Schwarm junger Männer und Frauen am Fluss herumtollt. Die Kriegsrückkehrer haben nur Augen für Dshamilja. Sie packen sie, heben sie hoch, fordern Küsse und werfen sie in den Fluss. Das nasse Kleid klebt an ihrem schlanken, mädchenhaften Körper, sie ist schöner denn je. Alle, selbst die alten Männer an der Dreschtenne, lachen über die Ausgelassenheit der jungen Leute. Nur einer nicht: Danijar starrt sie auf eine Weise an, die Dshamilja sofort verstummen lässt. Sie schüttelt die Männer ab wie lästige Fliegen.

„Woher sollten denn solche Burschen wie Osmon wissen, was in der Seele eines Weibes vor sich geht? Niemand weiß es ... Vielleicht gibt es auf der ganzen Welt keinen Mann, der es weiß ...“ (Dshamilja, S. 45)

Während des nächtlichen Gesangs steigen Dshamilja und Said meistens von ihren Wagen und laufen durch die Steppe, um besser zuhören zu können. Manchmal streckt Dshamilja im Gehen ihre Hand nach Danijar aus, was dieser aber nicht sieht. Er ist wie in Trance. Tagsüber sucht Dshamilja krampfhaft nach Ablenkung, damit sie sich ihre Liebe nicht eingestehen muss. Eines Nachts springt sie auf Danijars Wagen auf, setzt sich neben ihn und legt ihren Kopf an seine Schulter. Said erkennt die beiden kaum wieder, sie scheinen vor Glück zu leuchten. Er beschließt, sie zu malen und Danijars Lieder in Farben zu tunken. Plötzlich umarmt Dshamilja den Sänger stürmisch, springt dann aber vom Wagen und herrscht Danijar und Said an, nicht so zu glotzen. Offenbar ist sie sich ihrer verzweifelten Lage als verheiratete Frau bewusst geworden.

Reinigendes Gewitter

Said erwacht in bester Stimmung. Die Schönheit der Natur überwältigt ihn. Er kann es kaum erwarten, mit dem Malen zu beginnen. Dann sieht er Dshamiljas trauriges Gesicht. Sie will nicht mehr zur Station fahren, doch Orosmat zwingt sie dazu. Die Steppe wirkt plötzlich trostlos und verbrannt. Um das Bild des Glücks nicht zu vergessen, beginnt Said zu zeichnen: Danijar, mit zurückgeworfenem Kopf, und Dshamilja, an seine Schulter gelehnt. Said hört und sieht nichts mehr, bis Dshamilja neben ihm steht und die Zeichnung mit feuchten Augen anstarrt. Sie möchte das Bild zur Erinnerung behalten.

„Der Krieg sitzt wie ein Blutgerinnsel im Herzen eines Menschen, und davon zu erzählen ist nicht leicht.“ (S. 61)

An der Bahnstation schaut Danijar nachdenklich den Zügen hinterher. Dann drückt jemand Dshamilja einen Brief von Sadyk in die Hand: In ein, zwei Monaten werde er zu Hause sein, schreibt er. Danijar springt auf seinen Wagen und rast davon. An diesem Tag fahren sie getrennt nach Hause. Es ist ein drückend schwüler Abend. Am Horizont türmen sich orangerote Sturmwolken. Danijar sitzt am Fluss und hält Ausschau nach Dshamilja, die noch nicht heimgekommen ist. Dann legt er sich neben Said ins Stroh. Später kommt das Mädchen mit nassen Kleidern hinzu, sie hat im Fluss gebadet. Es beginnt zu donnern und zu blitzen. Dshamilja flüstert Danijar zu, dass sie ihren Mann verlassen werde. Sie liebe ihn, Danijar, schon seit Langem. Der Sturm wird heftiger, es gießt in Strömen. Said hat sich tief ins Stroh eingegraben und schläft glücklich ein. Er kann nicht unterscheiden, ob das Stroh vom niederprasselnden Regen raschelt oder ob es das Geflüster der Liebenden ist.

Abschied und Rückkehr

Mit dem Gewitter endet der Sommer. An einem kühlen Herbsttag geht Said zum Fluss, als er sieht, wie Dshamilja und Danijar durch die Furt waten, er mit einem Rucksack, sie mit einem Bündel in der Hand. Said ruft Dshamiljas Namen und rennt hinter ihnen her durch das seichte Wasser, bis er der Länge nach hinfällt. Jetzt erst begreift er, dass er Dshamilja liebt. Der Abschied von ihr ist gleichzeitig der Abschied von seiner Kindheit.

„Wenn ich Danijar zuhörte, war mir, als müsste ich mich auf die Erde werfen und sie wie ein Sohn umarmen, nur dafür, dass ein Mensch sie so lieben konnte.“ (S. 86 f.)

In seinem Elternhaus ist inzwischen der Teufel los. Der sturzbetrunkene Osmon hat mehrere Männer um sich versammelt, um Danijar zu fassen und zu töten. Sie reiten zur Bahnstation, kehren jedoch unverrichteter Dinge zurück. Im Dorf zerreißen sich alle ihre Mäuler. Niemand begreift, warum Dshamilja ihre sichere Existenz im besten Haushalt für einen „Landstreicher“ aufgeben hat. Der heimgekehrte Sadyk ist niedergeschlagen, gibt sich nach außen hin aber verächtlich: Weiber gebe es schließlich genug, sagt er zu Osmon. Dann findet er Saids Zeichnung. Erst jetzt erfährt die Familie, dass dieser über das Liebespaar Bescheid wusste. Sadyk schimpft ihn einen Verräter und zerreißt das Bild in kleine Fetzen. Said beschließt daraufhin, von zu Hause fortzugehen und Maler zu werden. Als Abschlussarbeit an der Kunstakademie malt Said, wie Dshamilja und Danijar durch die herbstliche Steppe in die Welt hinausgehen. In schweren Stunden schaut er auf das Bild und unterhält sich mit den beiden. Dann hört er, wie Danijar ihn zum Aufbruch ruft. Said will in sein Dorf zurückkehren, um dort nach neuen Farben zu suchen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Dshamilja ist eine klassische Novelle: Die Handlung ist straff und auf wenige Personen beschränkt. Eine kurze Einleitung führt direkt zur Liebesgeschichte zwischen Dshamilja und Danijar. Die angekündigte Rückkehr des Ehemanns ist das retardierende Moment, das den Wendepunkt hinauszögert und die Spannung steigert. Auf dem Höhepunkt der Geschichte entlädt sich ein gewaltiges Gewitter, der dramatische Knoten löst sich, und die Liebenden beschließen fortzugehen. Erzählt wird aus der staunenden, fast naiven Perspektive des 15-jährigen Said. Über die Gefühle und Gedanken von Dshamilja und Danijar erfährt der Leser nur das, was Said wahrnimmt. Dieser liefert im wahrsten Sinne des Wortes selbst den Rahmen seiner Erzählung: Sie beginnt und endet mit einem Blick auf das Bild von der Flucht der Liebenden. Die Sicht des Malers gibt dem im Stil des sozialistischen Realismus geschriebenen Werk eine besondere Poesie: Beschreibungen des „wilden Wermuts“ oder des „milchwarmen Honigdufts blühender Maisfelder“ erinnern an realistisch-naive Landschaftsbilder, die nostalgische Gefühle wachrufen. Diese Bilder sind in allen erdenklichen Farben gehalten, fein abgestimmt auf die jeweilige Gefühlslage der Figuren und den Spannungsbogen der Novelle.

Interpretationsansätze

  • In Dshamilja feiert Aitmatow den Sieg des neuen Sowjetmenschen über die Traditionen und Moralvorstellungen einer rückständigen Gesellschaft. Die Figur Danijars erinnert an die fahrenden Volkssänger und -dichter, die nach der Oktoberrevolution in Zentralasien rekrutiert wurden, um jungen Menschen die progressiven Ideale der Sowjetunion näherzubringen. Das Stemmen des Zwei-Zentner-Sacks symbolisiert die ungeahnten Kräfte, die der Mensch im Glauben an sein Ziel entwickeln kann.
  • Dshamilja steht stellvertretend für einen neuen Frauentyp: Sie ist selbstbewusst, unabhängig und kann arbeiten wie ein Kerl. Ihr Mann Sadyk hingegen repräsentiert die Traditionen der Sippe mit ihrem bedingungslosen Respekt vor den Älteren.
  • Die Erkenntnis der Liebe ermutigt den Ich-Erzähler Said, sein Dorf zu verlassen und sein Potenzial zu entfalten. Er kommt als Maler zurück, auf der Suche nach den Farben seiner Heimat. Aitmatow bringt damit seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Kunst als Brücke zwischen Stammestraditionen und Sowjetkultur dienen kann.
  • Aitmatow zeichnet das Aufeinanderprallen zweier Welten als sensible Balance zwischen gestern und morgen: Die kirgisischen Menschen arbeiten im Kollektiv für ein gemeinsames Ziel, nämlich für die Versorgung der Sowjettruppen mit Nahrungsmitteln. Gleichzeitig bewahren sie die Sitten ihres Nomadenvolks. Insgesamt beurteilt der Autor den Sozialismus positiv: Er habe die Menschen von familiären Zwängen befreit und ihnen erstmals in der Geschichte ihres Volkes die Wahl gegeben, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden.
  • Ein wichtiges Motiv ist die Einheit der Menschen mit der Natur und ihrer Heimat: Ein Großteil der Handlung spielt im Freien, die Menschen arbeiten, essen und schlafen unter offenem Himmel, und der Anblick der Steppe im Wandel der Jahreszeiten spiegelt sich in ihren Empfindungen, Bildern und Liedern. Auch Saids freiwillige Rückkehr in sein Dorf symbolisiert diese Heimatverbundenheit.

Historischer Hintergrund

Vom Hirten zum Kolchosbauern

Dshamilja spielt im Jahr 1943 in der ehemaligen kirgisischen sozialistischen Sowjetrepublik. Das kleine zentralasiatische Land befand sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter russischer Herrschaft. Die Folgen der kommunistischen Oktoberrevolution von 1917 machten sich in dem isolierten Gebirgsland erst gegen Ende der 20er Jahre richtig bemerkbar. Die traditionell nomadischen Kirgisen wurden zur Sesshaftigkeit gezwungen; Zwangskollektivierungen und der Aufbau des sowjetischen Kolchosensystems führten zu Aufständen. Immer mehr russische Bauern siedelten sich damals in Kirgisistan an. Durch die stalinistische Deportationspolitik während des Zweiten Weltkriegs kamen Zehntausende weitere ins Land, darunter viele Wolgadeutsche. Kirgisische Intellektuelle wurden verfolgt und lokale Gebräuche unterdrückt. Russen übernahmen die Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft.

Das Turkvolk der Kirgisen ist eines der ältesten Völker Zentralasiens. Traditionell ging alle Macht von der Sippe und dem Ältestenrat aus. Innerhalb einer Generation machten die Sowjets aus dem Hirtenvolk sesshafte Landarbeiter. An die Stelle der mündlichen Erzähltradition trat 1924 die neue kirgisische Schriftsprache, und die Kinder lernten erstmals in russischen Schulen lesen und schreiben. Ab 1941 wurden die Männer für die Sowjetarmee zwangsverpflichtet, während Frauen, Alte und Kinder auf den Kolchosen für die Nahrungsmittelversorgung der Truppen arbeiteten. Während des Zweiten Weltkriegs kamen ca. 70 000 kirgisische Soldaten und 50 000 Zivilisten ums Leben, was etwa 10 % der damaligen Gesamtbevölkerung entsprach.

Entstehung

Tschingis Aitmatow studierte zwischen 1956 und 1958 am Moskauer Maxim-Gorki-Literaturinstitut. Dshamilja war seine Diplomarbeit – eine deutliche Parallele zu dem Gemälde, das Said in der Novelle als Abschlussarbeit für die Kunstakademie anfertigt. Die Figur des Ich-Erzählers ist in vielerlei Hinsicht ein Alter Ego des Autors: In seiner Autobiografie Kindheit in Kirgisien berichtet dieser, dass der Kern der Novelle auf eine verbotene Liebe in seinem Heimatdorf zurückgehe. Ähnlich wie Said fing Aitmatow schon mit 14 Jahren an zu arbeiten. Da er einer der wenigen war, die lesen und schreiben konnten, wurde er während des Krieges mit der Aufgabe betraut, den Familien die Todesnachrichten überbringen.

Die Kindheit des 1928 geborenen Autors fiel in die Zeit der wohl größten Umwälzungen in der kirgisischen Gesellschaft, und er erlebte sie in all ihren Extremen. Da war einerseits sein Vater, einer der ersten kirgisischen Kommunisten und Intellektuellen, der 1938 Opfer der stalinistischen Säuberungen wurde. Auf der anderen Seite stand seine nomadische Großmutter, die weder lesen noch schreiben konnte, ihm die Lieder und Märchen seiner Heimat vermittelte und ihm die Geborgenheit der Sippe schenkte. Als Autor verband Aitmatow die Tradition der russischen Realisten mit Stoffen und Erzählformen aus seiner Heimat, z. B. mit dem Manas-Epos, das er als sein „Heiligtum“ bezeichnete. Es handelt von dem Helden Manas und seinen 40 Gefährten, die für die Unabhängigkeit ihres Volkes kämpfen.

Wirkungsgeschichte

Dshamilja erschien 1958 auf Kirgisisch und auf Russisch, Letzteres in der sowjetischen Zeitschrift Novyj mir. Der französische Autor und Journalist Louis Aragon entdeckte die Erzählung und machte sie mit einem Satz weltberühmt: „Ich schwöre es, es ist die schönste Liebesgeschichte der Welt, in der es kein überflüssiges Wort gibt, keinen Satz, der nicht im Herzen widerklingt.“ Der Franzose, selbst ein überzeugter Kommunist, wurde Aitmatows Mentor. 1959 erschien die Novelle in Buchform und wurde in viele Sprachen übersetzt. In den Schulen Russlands und der DDR war sie Pflichtlektüre. Das Werk inspirierte den Liedermacher Hannes Wader zu seinem Lied Am Fluss, es wurde mehrfach verfilmt und in Kirgisistan sogar als Oper aufgeführt. Viele Leser und Kritiker können Aragons gewagten Superlativ von damals zwar nicht ganz nachvollziehen, doch als wunderschöne Liebesgeschichte gilt die Novelle allemal.

Dshamilja machte Tschingis Aitmatow zu einem der bekanntesten Autoren der Sowjetunion. Seine Bücher wurden in 170 Sprachen übersetzt, und einige Kritiker feierten ihn gar als kirgisischen Tolstoi. In den düsteren Jahren der Repression unter Leonid Breschnew kritisierte er das System auf subtile Weise und galt vielen Menschen als Hoffnungsträger. Im Lauf seines Lebens entwickelte er sich vom optimistischen Leninisten zum Reformkommunisten und schließlich zum Wertkonservativen. Mehrfach war er als Anwärter auf den Literaturnobelpreis im Gespräch, und in seinem Todesjahr 2008 wurde er offiziell nominiert. In seiner Heimat ist Aitmatow eine Legende: „Zwei Helden machten unsere Nation weltbekannt“, heißt es bei den Kirgisen, „der eine ist der epische Held Manas, der andere ist Tschingis Aitmatow.“

Über den Autor

Tschingis Aitmatow wird am 12. Dezember 1928 im kirgisischen Dorf Scheker geboren. Die Zwangskollektivierungen unter den Sowjets haben gerade begonnen, doch Aitmatow lernt das traditionelle Nomadenleben seines Volkes noch kennen. Im Zuge der stalinistischen Säuberungen wird sein Vater des „bürgerlichen Nationalismus“ angeklagt und 1938 hingerichtet. Aitmatow beginnt im Alter von 14 Jahren, für den Sekretär des Dorfsowjets zu arbeiten. Er studiert Veterinärmedizin und ist mehrere Jahre am wissenschaftlichen Forschungsinstitut seiner Heimat tätig. Parallel übersetzt er kirgisische Literatur ins Russische und schreibt eigene Geschichten. Von 1956 bis 1958 studiert er am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau, 1957 wird er Mitglied des sowjetischen Schriftstellerverbands. Mit seiner Abschlussarbeit Dshamilja schafft er den internationalen Durchbruch. Aitmatow arbeitet mehrere Jahre als Prawda-Korrespondent und wird in der Sowjetunion mit Auszeichnungen überhäuft. In den 70er Jahren beginnt er sich vom Dogma des sozialistischen Realismus zu lösen und verarbeitet zunehmend mythische Themen seiner kirgisischen Heimat. 1980 erscheint der Roman Ein Tag länger als das Leben, zunächst in einer zensierten Version. Mit Der Richtplatz aus dem Jahr 1986 kritisiert er die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Sowjetunion und unterstützt die Perestroika-Politik von Michail Gorbatschow, als dessen Berater er kurzzeitig fungiert. Aitmatow bekennt sich nach wie vor zum Ideal des Kommunismus, das nach seiner Ansicht von unfähigen Funktionären untergraben wird. 1990 geht er als sowjetischer Botschafter nach Luxemburg. Ab 1991 ist er als Botschafter des unabhängigen Kirgisistans in Brüssel tätig und setzt sich zunehmend für den Naturschutz ein. Er stirbt am 10. Juni 2008 an einer Lungenentzündung.

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