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Entweder – Oder

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Entweder – Oder

dtv,

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12 take-aways
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What's inside?

Das Hauptwerk des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard fordert den Menschen auf, sich für ein sittliches Dasein zu entscheiden.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Der Beginn der Existenzphilosophie

Sören Kierkegaard markiert einen Bruch in der Philosophiegeschichte: Während die Philosophen bis zum beginnenden 19. Jahrhundert den großen allgemeinen Fragen nachgingen - Fragen nach der Wahrheit und dem Guten etwa - und philosophische Systeme zu errichten suchten, wendet sich Kierkegaard in Entweder - Oder den konkreten Problemen des Lebens und praktischen Fragestellungen zu: Wie soll sich der einzelne Mensch in dieser oder jener Situation verhalten, welche Entscheidungen soll er treffen? Kierkegaard gilt als Begründer der Existenzphilosophie. In Entweder - Oder nimmt er eine Analyse der allgemeinen Existenzformen in Angriff und entwickelt besonders die beiden Möglichkeiten der ästhetischen und ethischen Lebensweise. Eine dritte Sphäre, die christliche Lebensweise, ist die höchste und letztlich allein erstrebenswerte; diese deutet Kierkegaard allerdings nur an. Der dänische Philosoph will insbesondere ein Gegengewicht zur damals vorherrschenden Hegel’schen Systemphilosophie bilden, einer Philosophie, die behauptete, die Gegensätze der Geschichte in einer Synthese miteinander zu versöhnen. Kierkegaard hält dagegen: Nicht das Hegel’sche Sowohl-als-auch müsse gelten, sondern ein Entweder-oder. Mit anderen Worten: Im Leben jedes Einzelnen bestehen Gegensätze fort und müssen bewältigt werden.

Take-aways

  • Sören Kierkegaards Schrift Entweder - Oder steht am Anfang der modernen Existenzphilosophie.
  • Sie will keine realitätsfernen Sinnangebote formulieren, sondern fordert den Einzelnen auf, für sein Leben Verantwortung zu übernehmen.
  • Im Zentrum des Werks stehen die beiden Lebensauffassungen oder Existenzmöglichkeiten des Ästhetischen und des Ethischen.
  • Der Ästhetiker genießt das Leben auf der Suche nach einem immerwährenden Glück.
  • Repräsentativ für diesen Genussmenschen, der uneingeschränkter Sinnlichkeit frönt, sind die Verführertypen Don Giovanni und Faust.
  • Im Kapitel "Tagebuch des Verführers" macht ein junger Mann mit sinnlicher Genialität eine Frau in sich verliebt, um sie anschließend zu verlassen.
  • Die höhere Daseinsform gegenüber der ästhetischen ist die ethische Existenz. Man erreicht sie durch Reflexion und die bewusste Wahl der Freiheit.
  • Erst als ethische Existenz ist man fähig, in der Gemeinschaft zu leben, deren Prinzip ein gegenseitiges Geben und Nehmen ist.
  • Der Ethiker verzichtet nicht auf den Genuss, aber er bindet ihn in die Bedürfnisse der Gemeinschaft ein und macht ihn somit teilbar.
  • Die dritte, höchste Stufe des Daseins bildet die christliche Existenz. Wer sich für sie entscheidet, anerkennt, dass die ethische Autonomie von Gott beeinflusst wird.
  • Dass Entweder - Oder auf Dänisch geschrieben wurde, verhinderte jahrzehntelang die Rezeption der Schrift in Europa. Erst mit der Übersetzung ins Deutsche vor dem Ersten Weltkrieg begann sich ein weltweites Echo einzustellen.
  • Das Werk beeinflusste im 20. Jahrhundert maßgeblich die Existenzphilosophie (Sartre, Camus). Ferner befruchtete es die Werke Kafkas, Ibsens und Frischs.

Zusammenfassung

Die ästhetische Lebensweise

Victor Eremita, der fiktive Herausgeber des Buches, berichtet im Vorwort, wie er auf die Papiere zweier Personen, A und B, gestoßen ist. Eremita hat sie im Geheimfach eines Sekretärs gefunden. Die Papiere von A verraten die Positionen einer ästhetischen Lebensweise, die Papiere von B reflektieren hingegen eine ethische Lebensweise.

„Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen in seinem Herzen birgt, dessen Lippen aber so geformt sind, dass, indem der Seufzer und der Schrei über sie ausströmen, sie klingen wie eine schöne Musik.“ (A, S. 27)

Die Papiere von A beginnen mit einer Reihe von Aphorismen, die das ästhetische Lebensgefühl ausdrücken. Der Ästhetiker wird etwa mit einem Insekt verglichen, das im Augenblick der Befruchtung stirbt. Oder er gehört zu den Menschen, die es als eine der Annehmlichkeiten der Existenz ansehen, im Kummer schwelgen zu dürfen. In der Liebe sei die erste Zeit am schönsten, da man bei jedem Zusammentreffen mit der geliebten Person etwas Unerwartetes entdecke, an dem man sich erfreuen könne. Der Ästhetiker kann auch ein Melancholiker sein, der am liebsten morgens nach dem Aufstehen gleich wieder ins Bett geht und volle Zufriedenheit erst dann erreicht, wenn er abends das Licht ausmacht und sich in seine Decke einwickelt. Allen Aphorismen gemeinsam ist die Trostlosigkeit der ästhetischen Existenz: Der Ästhetiker leidet an Langeweile, Schwermut und Einsamkeit. Aller Genuss ist flüchtig und die Furcht vor dem Verlust ist immer präsent.

Spielarten der Sinnlichkeit

Einige Figuren aus Mozarts Opern verdeutlichen die Erkenntnisse des Ästhetikers. Es sind dies die drei Repräsentanten erotischer Sinnlichkeit: der Page Cherubino aus Die Hochzeit des Figaro, Papageno aus Die Zauberflöte und Don Giovanni aus der gleichnamigen Oper. Cherubino etwa ist in alle Frauen des Schlosses verliebt, in die Gräfin ebenso wie in die Tochter des Gärtners und auch in die alte Marseline. Am heftigsten ist seine Leidenschaft für die Gräfin, die aber unerreichbar ist, während er alle anderen Frauen besitzen kann. Er träumt von dem, was für ihn unerreichbar ist. So tritt Cherubino voller Illusionen auf der Stelle und blockiert sich selbst. Sein androgynes (männlich-weibliches) Wesen - die Rolle wird in der Oper von einer Mezzosopranistin gesungen - symbolisiert seine Unentschiedenheit.

„Wie sonderbar: es ist immer dasselbe, was einen durch alle Lebensalter hindurch beschäftigt, und man ist immer gleich weit, oder vielmehr, man geht zurück.“ (A, S. 45)

Papageno hingegen ist ein Suchender. Seine Begierde sucht, was sie begehren kann, und entdeckt es auch tatsächlich: Papagena. Papagenos einziges Ziel ist es, mit der verführerischen Kraft seiner Flöte Papagena zu erobern. Selbst als man ihm kurz vor der Erfüllung seines Glücks Papagena entführt, gibt er nicht auf und bedient sich seines Zauberglöckchens, das ihm seine Papagena zurückbringt und somit zum entscheidenden Sieg verhilft.

„So wie die Sinnlichkeit in Don Juan aufgefasst ist - als Prinzip -, so ist sie in der Welt noch nie aufgefasst worden; daher wird auch das Erotische hier durch ein anderes Prädikat bestimmt, die Erotik ist hier Verführung.“ (A, S. 113)

Don Giovanni, ähnlich wie auch Goethes Faust, vereint in sich die träumende Begierde Cherubinos und die suchende Papagenos. Das Besondere an seiner Begierde ist allerdings, dass sie jede Frau als Objekt setzt - im Unterschied zur Begierde Fausts, der es allein auf Gretchen abgesehen hat. Nichts bringt Don Giovanni vom Weg der Eroberung ab. Sie ist das Ziel, dem er alles andere unterordnet. Bei dieser Form der Begierde hat der Geist keinen Platz mehr. Es ist reine Sinnlichkeit, die keinen Gesetzen und Einschränkungen unterworfen ist und der deshalb eine ganz eigene Genialität innewohnt: die Genialität des Verführers. Im Unterschied zur seelischen Liebe kennt die sinnliche Liebe keine Treue. Gerade die Erfolge des Verführers sind jedoch letztlich ein Beleg seiner Armut. Denn für Don Giovanni sind alle Frauen gleich, keines seiner Abenteuer geht über das Alltägliche hinaus. Obwohl jede Frau außergewöhnlich ist, sucht er nicht das Außergewöhnliche in ihr, sondern nur das, was alle Frauen miteinander teilen, ihre Weiblichkeit mithin. Seine Einstellung tritt denn auch am deutlichsten hervor, wenn er in Gesellschaft mehrerer Frauen ist und ihnen allen durch Gesten und Worte das Gefühl gibt, die Auserwählte zu sein.

„An kluger Besonnenheit mangelt es ihm; sein Leben schäumt wie der Wein, an dem er sich stärkt, sein Leben ist bewegt wie die Töne, die sein fröhliches Mahl begleiten, immer triumphiert er.“ (A über Don Juan, S. 122)

Allerdings macht das Geniale, Dämonische an Don Giovanni diesen nicht unantastbar. Im Gegenteil: Frauen, die er verführt hat, Elvire oder Zerline etwa, bilden eine Gefahr für ihn, denn sie erlangen ein gleichsam höheres Bewusstsein für die Mechanismen der Verführung. Doch können die Frauen ihre Macht nicht nutzen. Don Giovannis Verführung ist geistlos und unreflektiert, und anschließend verschwindet er von der Bildfläche - als Sieger freilich. Eine Auseinandersetzung mit den Frauen würde ihn zu einem reflektierenden Individuum machen, das er ja gerade nicht ist. Allerdings sind die verführten Frauen nicht nur unglücklich: Das Unglück, verführt und dann verlassen worden zu sein, ist der Preis, den sie für die Stunden des Glücks mit Don Giovanni zu entrichten bereit sind. So weiß denn auch keine eigentlich die Kraft zu beschreiben, der sie erlegen ist. Die Ohnmacht der Sprache macht aus Don Giovanni eine Nicht-Existenz, eine Figur, die im ständigen Verführen und Verschwinden begriffen ist, wie die Musik, die einsetzt und wieder aufhört.

Das Unglück und die Langeweile

Aus der Sicht des Ästhetikers A gibt es im menschlichen Dasein keine Berechtigung für eine wie auch immer geartete Form des Unglücklichseins. Ja er stellt sogar in Frage, dass das Unglück überhaupt existiert. Selbst der biblische Hiob, dem alles abhanden gekommen ist, was er besaß, hat eigentlich keinen Grund, unglücklich zu sein, denn er hat, was er nun nicht mehr hat, immerhin einmal besessen.

„Je man mehr sich selbst beschränkt, umso erfinderischer wird man.“ (A, S. 339)

Ähnlich verhält es sich mit dem Müßiggang. Dieser ist keineswegs aller Laster Anfang, wie es oft heißt. Die Wurzel des Übels ist vielmehr die Langeweile. Der Mensch bewohnt die Erde, um sich zu unterhalten. Die Arbeit mag zwar das Gegenteil des Müßiggangs sein, nicht aber der Gegensatz zur Langeweile. Selbst die Tatsache, dass es sehr emsige Menschen gibt, heißt nicht, dass diese nicht gelangweilt sind. Sie wissen es nur nicht, haben keine Vorstellung von dem, was Langeweile ist.

Wechsel der Lebensverhältnisse

Mit der Erkenntnis, dass jede Hoffnung Illusion ist, ist das Prinzip der "Wechselwirtschaft" verwandt. Gemeint ist der Wunsch nach einem steten Wechsel der Lebensverhältnisse, der aus Gewöhnung und Müdigkeit, letztlich auch aus Hoffnungslosigkeit entsteht. Gelingen kann der Wechsel der Lebensverhältnisse jedoch nur, wenn der Mensch nach dem Prinzip der Selbstbeschränkung lebt. Nur dann wird er nämlich erfinderisch: Wer z. B. ein Loch in den Tisch schneidet, eine Fliege darin einsperrt und sie dann beobachtet, tut dies nicht, weil er sich langweilt, sondern legt großen Erfindungsreichtum an den Tag, mag die erfundene Tätigkeit auch nur von kurzer Dauer und materiell nicht einträglich sein. Nichts ist im Leben von Dauer, wenn das Leben nicht langweilig sein soll. Vor Freundschaften etwa oder gar vor der Ehe sollte sich deshalb jeder hüten. Man läuft Gefahr, sich in beidem festzufahren und sich der Möglichkeit des Fortlaufens, des Wechsels zu berauben. Ähnlich steht es mit der beruflichen Tätigkeit: Statt eine feste Anstellung zu haben, sollte man sich lieber künstlerisch betätigen, mag das auch nicht viel einbringen. Mit Erfolg seine Rolle als Mitglied der Gesellschaft zu spielen, heißt für den Einzelnen, sich selbst zu befähigen, immer wieder ein anderer zu sein. Geleitet werden sollte der Wechsel von der Kraft der Willkür, die es erlaubt, sich vom Konventionellen zu trennen.

Tagebuch des Verführers

Unter den Papieren des A findet sich auch das "Tagebuch des Verführers". Darin berichtet der Verfasser, ein gewisser Johannes, von der Verführung des Mädchens Cordelia. Johannes will Cordelia in sich verliebt machen. Berechnend und rational planend bereitet er den Moment vor, an dem sich Cordelia ihm hingeben wird, wonach er sie verlassen wird. Johannes sucht Cordelias Liebe mit Raffinesse und List, spinnt Intrigen und wartet deren Wirkung geduldig ab. Jeder Widerstand auf seinem Weg wird ihm zu einer Herausforderung, deren Überwindung ihm bereits Genuss bereitet. Johannes inszeniert die Liebe zu Cordelia in einer Weise, von der er selbst sagt, sie sei von Falschheit geprägt. Immerhin fühlt er sich im Recht, zu behaupten, dass er ihr während seiner Werbung treu sei. Zu Johannes’ Handwerkszeug gehören Billetts, die im richtigen Moment aus Cordelias Strickzeug fallen, ebenso wie gezielt eingefädelte Indiskretionen Dritter. Aufschluss über die Annäherung an sein Ziel gibt eine Reihe von Briefen an Cordelia. In der Einsamkeit ihrer Lektüre entwickeln Briefe - das weiß Johannes - eine eigentümliche Verführungskraft, welche die Lesende ganz für die Ziele des Schreibenden einnimmt, ohne dass sie sich dessen bewusst wird. Die Briefe ergänzen die manipulative Kraft der Gesten, Johannes’ Umarmungen etwa, seiner körperlichen Nähe oder des Entzugs dieser Nähe. Kaum ist die Verführung an ihr Ziel gelangt, ist Johannes des Mädchens überdrüssig und plant, sie zu verlassen.

Die ethische Lebensweise

Die Papiere des B enthalten Antworten an den Ästhetiker A. In einer ersten Abhandlung über "Die ästhetische Grundlage der Ehe" zeigt B, dass eine ethische Auffassung des Lebens das Ästhetische keineswegs ausschließt, insofern der Genuss von der Allgemeinheit geteilt werden kann. Eindeutiger und schneidender wird die Kritik am Ästhetiker dann in der zweiten Abhandlung "Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit". Das Ästhetische ist der Kategorie der Gleichgültigkeit zuzuordnen, während das Ethische die Noblesse des frei Gewählten erhält: In der ohne Zwang getroffenen Entscheidung, dem Leben eine moralische Ambition zu geben, bildet sich überhaupt erst das Ethische heraus. Der ethische Mensch muss sich allerdings immer wieder aufs Neue bestätigen. Die Lebensauffassung des Ethikers trägt bereits religiöse Züge - die religiöse, christliche Stufe ist jedoch die höchste Stufe der Lebensweisen. Sie setzt voraus, dass der Mensch akzeptiert, in seiner moralischen Willensbildung von Gott abhängig zu sein.

„Man lasse sich niemals in eine Ehe ein. Die Eheleute geloben einander Liebe auf ewig. Das ist nun recht bequem, hat aber auch nicht viel zu bedeuten; denn wird man mit der Zeit fertig, mit der Ewigkeit wird man schon fertig werden.“ (A, S. 344)

Doch wie sieht das Schicksal eines Menschen aus, der, aus welchen Gründen auch immer, sein Leben nicht dem Ethisch-Allgemeinen zu unterwerfen vermag? Im Mittelalter war die Praxis, ins Kloster zu gehen und sich dort dem Zwang einer strengen moralischen Lebensführung zu unterwerfen, weiter verbreitet als heute. Der Grundgedanke war die Anerkennung einer Schuld gegenüber Gott und die Notwendigkeit der Reue. Heute besteht die Schuld darin, in dieser oder jener Lebenssituation das Ethisch-Allgemeine nicht erreicht zu haben. Wer sich dermaßen schuldig fühlt, begreift sich selbst als Ausnahme, als ungewöhnlicher Mensch; sein Zustand gibt ihm Anlass zur Trauer. Es ist nun diese Trauer, die den Menschen dazu führt, sich mit dem Ethisch-Allgemeinen zu versöhnen; denn er kennt es ja, weil er es bereits einmal erreicht hat. Die Fähigkeit, der eigenen Unvollkommenheit wegen Schmerz zu empfinden, wird ihm zu einem Ausgleich für das Verlorene. Sie verschafft ihm das Bewusstsein, in einem höheren Sinne wieder ein ethisches Dasein zu führen. Der Verlust wird gleichsam durch den Gewinn an intensiverer Innerlichkeit entschädigt. Damit dies gelingt, bedarf es aber einer großen Anstrengung. Die Arbeit an sich selbst, die nur in Freiheit geschehen kann, die Erkenntnis des Einzelnen, dass er selbst die größte Aufgabe seiner Existenz ist, ist die Voraussetzung, um sich mit dem Dasein zu versöhnen. In diesem Sinn stellt jeder Mensch eine Ausnahme dar. Denn während er zumindest in einigen Bereichen eine ethische Lebensauffassung verkörpert, wird es auch immer andere Gebiete geben, in denen dies nicht gelingt.

Das Erbauliche der Schuld

In den Papieren des B findet sich auch eine Predigt aus der Feder eines Pfarrers aus Jütland. Sie nimmt die Reflexion über Schuld und Unrecht wieder auf: In dem Gedanken, dass wir gegenüber Gott immer Unrecht haben, liegt etwas Erbauliches. Ständig in der Position des Unrechts gegenüber Gott, den man liebt, zu sein, ist nichts anderes als eine Manifestation des freien Willens. Analog verhält es sich mit einem geliebten Menschen: Auch ihm gegenüber möchte man im Sinn einer Unterwerfung Unrecht haben. Der Wunsch nach dieser Form des Sich-Zurücknehmens und der Anerkennung eigener Bedeutungslosigkeit ist ein maßgebliches Element des Gefühls der Liebe und hat daher eine erbauliche Wirkung, denn die Unterlegenheit erfährt einen Ausgleich durch das Gefühl, zu lieben und geliebt zu werden. Der Wunsch zu lieben kann aber nur in der Freiheit entstehen. Das bedeutet, dass niemand zu der Erkenntnis gezwungen werden kann, Unrecht zu haben. Das Wissen um das eigene Unrecht gegenüber Gott ist nicht das Resultat einer Überlegung, sondern eine Folge der Gewissheit, dass das Gefühl des Unrechts erbaulich ist. Das ist die Voraussetzung, um mit den Widrigkeiten des Lebens fertig zu werden: Keine Tür, die man im Leben geschlossen vorfindet, keine Strafe kann dann noch Anlass für Gram und Unglück bieten - denn gegenüber Gott ist der Mensch immer im Unrecht.

Zum Text

Aufbau und Stil

Kierkegaards Schrift Entweder - Oder ist, wie andere Werke des dänischen Philosophen auch, eine pseudonyme Schrift, die sich eines fiktiven Herausgebers und mehrerer fiktiver Autoren bedient. Darüber hinaus enthält der Text diverse Bezugnahmen auf Kierkegaards eigene Lebensgeschichte, insbesondere auf sein Verhältnis mit Regine Olsen. Auffallend ist die mit knapp 1000 Seiten eindrückliche Dicke das Buches, das in zwei Haupteile (die Papiere des A und B) gegliedert ist, von denen wiederum der erste in acht und der zweite in drei Kapitel unterteilt ist. Die Papiere des A propagieren die Lebensauffassung des Ästhetikers, also eine sich an unmittelbarer sinnlicher Befriedung ausrichtende Lebensform des Menschen. Die Papiere des B bilden im Widerspruch dazu die ethische Sphäre des Lebens ab, in der sich der Mensch als reflektierendes, seiner Existenz einen ethischen Sinn gebendes Wesen erkennt. Kierkegaard schreibt wie ein Dichter von einzelnen, genau definierten Beziehungen zwischen bestimmten Personen, sodass dem Werk die aus anderen philosophischen Werken vertraute Allgemeingültigkeit abgeht. Deshalb darf man auch keine streng argumentative Verkettung erwarten, die auf einen finalen Befund hinausläuft. Stattdessen präsentiert das Buch einen farbigen Strauß von Situationen und brillanten Aussprüchen, die häufig aphoristischen Charakter haben. Herzstück von Entweder - Oder (und deshalb nicht zufällig in der Mitte des Buches befindlich) ist das wie ein Roman geschriebene "Tagebuch des Verführers". Es bildet den Übergang zwischen den beiden Hauptteilen von Entweder - Oder, den Übergang von der Sinnlichkeit zur Reflektiertheit, die der Ethik eigen ist, mag sie sich im Tagebuch auch noch in den Dienst des Ästhetikers stellen.

Interpretationsansätze

  • Ein wichtiges Konzept von Kierkegaards Existenzphilosophie ist die Freiheit: Jeder Einzelne hat sein Leben nicht unter fremdem Zwang, sondern in eigener Verantwortung zu leben.
  • Kierkegaard sieht nur eine Gewissheit, die von jedem Menschen erreicht werden kann: Es ist die durch den Prozess der Selbstwahl und der Arbeit an sich selbst erlangte Sicherheit, genau das Leben zu führen, für das man sich entschieden hat.
  • Kierkegaards Philosophie bietet keine allgemeinen Theorien an, wie das Leben zu gestalten sei, sondern erstellt verschiedene Lebensmuster und lädt dazu ein, das eine oder andere von ihnen mit letzter Konsequenz zu realisieren.
  • Gegenüber der ästhetischen, sinnlichen Lebensweise ist für Sören Kierkegaard die ethische Lebensweise höherwertig. Denn das Prinzip der Sinnlichkeit allein vermag keine Identität im Leben zu begründen.
  • Kierkegaards Entweder - Oder gehört zu den philosophischen Werken, die den Stellenwert des Individuums erhöht haben. Es hat maßgeblich dazu beigetragen, dass seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Frage nach der Identität in Wissenschaft und Kunst Bedeutung erlangen konnte.
  • Entweder - Oder hat einen fingierten Herausgeber, der nicht einmal alle Autoren kennt, die zu dem Werk beigetragen haben. Kierkegaard wählt diese Form der indirekten Mitteilung, weil er davon überzeugt ist, dass Philosophieren nicht das Mitteilen unmittelbarer Wahrheiten ist. Es vollzieht sich vielmehr als Dialog, der Fragen aufwirft und das Denken im Gegenüber auslöst.

Historischer Hintergrund

Dänemarks Blüte

Dänemark erlebte Anfang des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit. Die seit Ende der Napoleonischen Kriege und nicht zuletzt durch die Entlassung Norwegens in die Unabhängigkeit im Jahr 1815 zerrütteten Staatsfinanzen erholten sich seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts zusehends. Das lange im kulturellen Schlummer liegende Kopenhagen wurde zu einer wichtigen Kulturstätte Europas, das die unterschiedlichsten geistigen und künstlerischen Strömungen der Länder Europas gierig aufsaugte, etwa durch die Vermittlung des Dichters und Kritikers Johan Ludvig Heiberg. Der berühmteste Bildhauer Dänemarks Bertel Thorvaldsen kehrte aus Rom in die Heimat zurück, und der Märchenerzähler Hans Christian Andersen erreichte bereits zu Lebzeiten Weltruhm. Inmitten dieser dänischen Aufbruchstimmung erschien 1843 Sören Kierkegaards erstes Buch Entweder - Oder. Die moralische Stoßrichtung der Abhandlung war sofort klar: Es ging um das Fehlen sittlicher Barrieren in einer auf wirtschaftlichen Profit ausgerichteten Gesellschaft, in welcher der Unternehmergeist eine ungebremste Eigendynamik entwickelte. Die beginnende Industrialisierung Europas, der Durchbruch liberaler politischer Orientierungen, der wachsende Wohlstand, eine lange Friedensphase und das weitgehend sorglose Leben vieler Bürger: all diese Ereignisse schufen das Bedürfnis, die Frage nach der Art und Weise, wie der Einzelne sein Leben führt und welchen Sinn er ihm gibt, neu zu stellen. Die Ethik in Zeiten der Industrialisierung wurde zum viel diskutierten Thema in bürgerlichen und christlichen Zirkeln.

Entstehung

Entweder - Oder ist Kierkegaards erstes großes Werk, das ganz wesentlich durch G. W. F. Hegel beeinflusst wurde, mit dessen Philosophie sich der dänische Denker 1841 während seines Berlin-Aufenthalts bekannt gemacht hatte. Kierkegaard konnte sich mit Hegels Systemphilosophie, die die Gegensätze zu versöhnen trachtet, nicht abfinden. Er war der Meinung, dass im wirklichen Leben die Gegensätze mit unverminderter Härte fortbestünden und zu Entscheidungen aufriefen. Er wählte daher folgerichtig den sprechenden Titel Entweder - Oder. Von großer Bedeutung für die Entstehung des Werks war auch Friedrich Schlegel. Dem Literatur- und Kunsttheoretiker, der mit seinen Schriften ganz wesentlich das Lebensgefühl und die Ästhetik der deutschen Romantik geprägt hat, kommt das Verdienst zu, zum ersten Mal die Kategorie des "Interessanten" eingeführt zu haben. Er bezeichnete damit das Wesen der modernen Literatur, die sich von höfischen Sujets ab- und sich dem Schicksal des Einzelnen zuwendete - einer Literatur, die den Menschen zum ersten Mal zugleich als sinnliches und ethisches Wesen zeigt. Friedrich Schlegels Roman Lucinde (1799) und Johann Wolfgang von Goethes Wahlverwandtschaften (1809), wahrscheinlich auch Choderlos de Laclos’ Roman Les liaisons dangereuses (1784) beeinflussten wohl Kierkegaards "Tagebuch des Verführers", den mittleren Teil von Entweder - Oder.

Wirkungsgeschichte

Unmittelbar nach Erscheinen von Entweder - Oder im Jahr 1843 war das Echo in den Zeitungen wie auch in den Kopenhagener Gelehrtenzirkeln positiv. Man hatte verstanden, dass dieses Buch auch eine Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft war, die ethisch führungslos und ohne Skrupel den Vergnügungen und Unverbindlichkeiten hinterherlief, die der neue Wohlstand zu bieten hatte. Doch Kierkegaard ging es um mehr: Sein eigentliches Anliegen war es, neben der ästhetischen und ethischen Sphäre die religiöse Sphäre als eigentliches Ziel menschlicher Existenz einzufordern. Deshalb ließ er 1845 seine vielleicht künstlerisch ausgereifteste Schrift Stadien auf dem Weg des Lebens folgen, in der er u. a. die Auflösung der Verlobung mit Regine Olsen als eine christliche Pflicht darstellte. Für eine breite Rezeption von Entweder - Oder in Europa war die Übersetzung ins Deutsche eine notwendige Voraussetzung. Diese ließ jedoch lange auf sich warten und wurde erst durch die wachsende Hegel-Kritik an deutschen Universitäten in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ausgelöst. 1909 lag dann endlich Entweder - Oder in einer kritisch edierten deutschen Übersetzung vor.

Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Wahl des Selbst als Akt des freien Individuums auch die Literaten und Dichter zu interessieren. Das Studium Kierkegaards half Franz Kafka bei der Auseinandersetzung mit seinem Vater um seine Entscheidung für den Beruf des Schriftstellers. Henrik Ibsens Protagonisten emanzipieren sich ebenso von den an sie gerichteten Erwartungen wie Rainer Maria Rilkes Malte Laurids Brigge dies tut. Auch Max Frisch setzte sich mit Kierkegaard auseinander, in seinem Stück Andorra und im Roman Stiller.

Entweder - Oder hat Kierkegaard ohne Zweifel zum Stammvater aller Existenzphilosophen gemacht, seien sie christlicher (Karl Barth, Rudolf Bultmann) oder marxistisch-atheistischer Provenienz (Jean-Paul Sartre, Albert Camus).

Über den Autor

Sören Kierkegaard wird am 5. Mai 1813 als jüngstes von sieben Kindern eines wohlhabenden Kopenhagener Kaufmanns geboren. Schon früh setzt er sich, inspiriert von seinen religiösen Eltern, mit der Bedeutung der christlichen Lehre im alltäglichen Leben auseinander. 1830 immatrikuliert er sich an der Universität Kopenhagen, um Philosophie und Theologie zu studieren. Zeitlebens fühlt sich Kierkegaard geprägt von der Melancholie eines christlichen Schuldbewusstseins, das er über seinen Vater kennen gelernt hat, der den Tod seiner Frau und fünf seiner Kinder als Strafe Gottes ansah. 1841 bittet Sören Kierkegaard seine Verlobte Regine Olsen, das ein Jahr zuvor eingegangene Eheversprechen wieder zu lösen. Er hat Angst, wegen seiner Tendenz zur Schwermut nicht der richtige Mann für sie zu sein. Er bleibt ihr aber bis zu seinem Tod treu. In einem an Ereignissen armen Leben ist dies ein Vorgang, der auch in seinen Schriften Niederschlag findet. Wenige Wochen nach dem Bruch mit Regine fährt Kierkegaard nach Berlin, um dort Schellings Vorlesungen zu hören und sich mit dem Werk Hegels vertraut zu machen. Später kritisiert er den Hegelianismus in seinem ersten großen Buch Entweder – Oder. 1845 lässt er Stadien auf dem Lebensweg folgen. Zwischen 1843 und 1855 erscheinen unter diversen Pseudonymen alle weiteren Bücher Kierkegaards, deren Publikation er aus dem Vermögen seines 1838 verstorbenen Vaters finanziert, darunter Furcht und Zittern (1843), Die Wiederholung (1843), Philosophische Bissen und Der Begriff Angst (beide 1844). 1848 werden die Christlichen Reden veröffentlicht, die Kierkegaards Auseinandersetzung mit der dänischen Kirche einläuten. Er wirft ihr vor, dass das Christsein nicht mehr das Ergebnis einer bewussten Entscheidung sei, sondern ein von der Kirche unterstützter, geradezu mechanischer und mit keiner Mühe verbundener Vorgang. 1855 hat Kierkegaard, der nie einem Broterwerb nachgegangen ist, das Erbe des Vaters nahezu aufgebraucht und bereitet sich auf ein Leben in Armut vor. Am 2. Oktober des gleichen Jahres erleidet er einen Schlaganfall, an dessen Folgen er am 11. November stirbt.

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