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Martin Salander

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Martin Salander

NZZ Libro,

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10 take-aways
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What's inside?

Der letzte Roman des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller. Geschrieben in der Frühzeit des Kapitalismus – und immer noch überraschend aktuell.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Realismus

Worum es geht

Eine erstaunlich moderne Kritik am Kapitalismus

Die zeitgenössischen Rezensenten hatten nicht ganz Unrecht: Gottfried Kellers letzter Roman Martin Salander wirkt etwas steif und moralisierend, zumal er im Unterschied zu früheren Werken des Zürcher Schriftstellers weitgehend humorfrei daherkommt. Und die penetrante Anständigkeit der Hauptfigur kann einem auf die Nerven gehen. Martin Salander verliert sein ganzes Vermögen an den skrupellosen Gauner Wohlwend, kommt in Brasilien wieder zu Reichtum und kehrt in die Heimat zurück, nur um schon am ersten Tag festzustellen, dass ihn Wohlwend abermals in den Ruin getrieben hat. Doch ehrlich währt am längsten: Mit Fleiß und harter Arbeit rappelt sich Salander wieder auf, und dank seiner bodenständigen Gattin und seinem Sohn widersteht er auch den Verlockungen blinder Leidenschaft. Der Roman zeichnet das Bild einer Gesellschaft, deren Ideale materieller Gier zum Opfer gefallen sind. Trotz seiner Mängel besticht das Werk deshalb durch seine überraschend aktuelle Kritik am Kapitalismus. Und obwohl die Sprache stellenweise etwas betulich ist, bietet der Roman auch heute noch eine anregende und spannende Lektüre.

Take-aways

  • Martin Salander ist der letzte Roman des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller.
  • Inhalt: Martin Salander kehrt nach längerer Abwesenheit in die Schweiz zurück. Dort erfährt er, dass er sein Vermögen zum zweiten Mal an den Betrüger Wohlwend verloren hat. Dennoch gelingt es ihm, zu einem wohlhabenden und angesehenen Mitglied der Gesellschaft zu werden. Aufgrund einer Liebesleidenschaft gerät er um ein Haar erneut in Wohlwends Fänge, doch die Vernunft seiner Ehefrau und seines Sohnes rettet die Familie.
  • Martin Salander besticht durch seine überraschend aktuelle Kritik an kapitalistischen Gesellschaftsordnungen.
  • Der Roman ist von der Enttäuschung über die materialistischen Auswüchse geprägt, die Ende des 19. Jahrhunderts die Ideale der liberalen Schweiz untergruben.
  • Die zeitgenössische Kritik beklagte den moralisierenden Grundton, das Fehlen des typisch Keller’schen Humors und die schematische Zeichnung der Hauptfiguren.
  • Aufgrund äußerer Umstände empfand Keller die Niederschrift des Romans als Qual und war mit dem Ergebnis nur bedingt zufrieden.
  • Nach der Revolution von 1848 war die Schweiz der einzige liberale Nationalstaat Europas, wurde aber von Wirtschaftskrisen und einem Kulturkampf erschüttert.
  • Der Zürcher Schriftsteller Gottfried Keller war einer der bedeutendsten Vertreter des bürgerlichen Realismus.
  • Die Sprache ist einem nüchternen und unspektakulären Realismus verpflichtet, wirkt in ihrer Detailverliebtheit allerdings hin und wieder etwas ermüdend.
  • Zitat: „Ruhig fuhr nun das Schifflein Martin Salanders zwischen Gegenwart und Zukunft dahin, des Sturmes wie des Friedens gewärtig, aber stets mit guten Hoffnungen beladen.“

Zusammenfassung

Ein Mann kehrt zurück

Nach siebenjähriger Abwesenheit kehrt ein junger, elegant gekleideter Herr in die Schweizer Stadt Münsterburg zurück. Er hat es eilig, seine Frau und seine Kinder endlich in die Arme zu schließen. Auf dem Weg zu seinem Haus stößt er auf eine Gruppe von Kindern. Ein Junge wird ausgelacht, weil er sagt, er warte auf seine Mutter. Die Anführer der jugendlichen Bande sind Zwillinge, von denen der staunende Heimkehrer erfährt, dass man gefälligst das Wort „Mama“ zu gebrauchen habe. Und nach ihrer Mama rufen sie dann auch, als sich der Junge, den sie zuvor mit Wasser bespritzt haben, zur Wehr setzt. Mit der herbeigeeilten Frau gerät nun der Reisende in Streit, weil sie seine harmlosen Fragen und Bemerkungen hochnäsig findet und meint, er spreche in abschätzigem Ton vom einfachen Volk – ein Vorwurf, den der Beschuldigte von sich weist.

„Ein noch nicht bejahrter Mann, wohl gekleidet und eine Reisetasche von englischer Lederarbeit umgehängt, ging von einem Bahnhofe der helvetischen Stadt Münsterburg weg, auf neuen Straßen, nicht in die Stadt hinein, sondern sofort in einer bestimmten Richtung nach einem Punkte der Umgegend, gleich einem, der am Orte bekannt und seiner Sache sicher ist.“ (über Martin Salander, S. 5)

Der Heimkehrer ist Martin Salander. Obwohl er die letzten Jahre in Brasilien verbracht hat, wird er schon bald von einem Einheimischen namens Möni Wighart wiedererkannt und dazu gedrängt, auf ein paar Gläser Wein in einem Gasthaus einzukehren. Salander möchte zwar so schnell wie möglich zu seiner Familie, gibt aber schließlich nach. Wighart kann sich dunkel erinnern, weshalb Salander seinerzeit ins Ausland musste: Er hatte für seinen vermeintlichen Freund Louis Wohlwend eine Bürgschaft unterschrieben und war nach dessen Konkurs um sein gesamtes Vermögen gebracht worden. Salander bestätigt diese Geschichte, wobei er zufrieden anmerkt, dass ihm in der Fremde glänzende Geschäfte geglückt seien und er mit einem saftigen Wechsel in der Tasche zurückkehre. Als er den Namen der Bank nennt, auf die die Anweisung in Rio de Janeiro ausgestellt wurde, reißt Wighart erschrocken die Augen auf: Der Besitzer dieser Bank sei niemand anders als Louis Wohlwend, und er stehe abermals kurz vor dem Konkurs. Sogleich eilt Salander zu Wohlwend und, als dieser ihn abweist, zu einem Notar, in der verzweifelten Hoffnung, zumindest einen Teil des hart erarbeiteten Vermögens retten zu können. Aber die Hoffnung bleibt vergebens. Das ganze Geld ist verloren.

Die Familie lebt in Armut

Während Salanders Abwesenheit sind seine Frau Marie Salander, die beiden Töchter Setti und Netti und der Sohn Arnold allmählich verarmt. Ihre ganze Hoffnung setzen sie in die Rückkehr des Vaters, denn die kleine Gaststube, mit der Marie die Familie über Wasser zu halten versucht, bringt viel zu wenig ein. So wenig, dass sie zum ersten Mal nicht weiß, womit sie für ihre Kinder etwas zu essen kaufen soll. Da betritt ihr Ehemann das Haus, und die beiden fallen sich glücklich in die Arme. Der Rückkehrer bemerkt, dass es sich bei dem verspotteten Jungen um seinen eigenen Sohn Arnold handelt – weil dieser zur Zeit seiner Abreise noch sehr klein war, hat er ihn nicht wiedererkannt. Salander stellt mit Schrecken fest, dass die Kinder noch nichts gegessen haben, weshalb er die ganze Familie sogleich in ein Wirtshaus führt. Seine Gattin ist so glücklich und erleichtert, dass er es nicht übers Herz bringt, ihr von der erneuten finanziellen Katastrophe zu berichten. Er beschließt, den Tag in Freude und Harmonie ausklingen zu lassen und die schreckliche Wahrheit bis zum nächsten Morgen für sich zu behalten.

„Unglücksmann! Es ist Louis Wohlwend und kein anderer!“ (Wighart zu Salander, S. 24)

Als Marie dann vom erneuten Ruin erfährt, wird sie von Trauer überwältigt. Martin Salander sieht keine andere Möglichkeit, als erneut nach Übersee zu fahren und von vorn zu beginnen. Seine Familie zieht in eine Wohnung um, und Marie beginnt, ein kleines Warengeschäft zu betreiben. Mit Fleiß und Sparsamkeit gelingt es ihr, einigermaßen über die Runden zu kommen. Sie verkauft Kaffee, Zigarren und andere Artikel, die ihr der Gatte aus Brasilien schickt. Nach drei Jahren hat Salander genug Vermögen erworben, um abermals in die Heimat zurückzukehren und seine Tätigkeit als Kaufmann fortzusetzen.

Die Töchter auf amourösen Abwegen

Nach einiger Zeit erfährt Marie, dass sich ihre mittlerweile erwachsenen Töchter Netti und Setti heimlich mit den deutlich jüngeren Zwillingen Julian und Isidor Weidelich treffen. Die Mutter ist über den Vertrauensbruch sehr enttäuscht; außerdem befürchtet sie, die beiden jungen Männer könnten es auf das Familienvermögen abgesehen haben. Salander teilt zwar ihre Sorgen, betrachtet die Beziehungen aber mit humorvoller Distanz. Bei der nächsten heimlichen Begegnung hält er sich versteckt und hört mit, wie Julian und Isidor seinen Töchtern ewige Treue schwören. Plötzlich tritt er mitten unter die Pärchen. Er fordert, die heimliche Doppelbeziehung müsse ein Ende haben, wobei er Netti und Setti gar mit Enterbung droht, sollten sie den Wunsch der Eltern missachten. Diese fügen sich zwar dem väterlichen Willen, halten jedoch an ihrer Liebe fest.

„Erst jetzt brach sie händeringend in heiße Tränen aus, indem sie ausrief: O Du armer Mann! Wo sind unsere sieben Jahre der Trennung und der Sorge?“ (über Marie, S. 57)

Julian und Isidor haben zwar nicht studiert, werden aber beide Notare. Um sich bei ihrer angestrebten politischen Karriere nicht gegenseitig im Weg zu stehen, beschließen sie, unterschiedlichen Parteien beizutreten. Den Entscheid fällen sie, indem sie würfeln: So wird Julian ein Demokrat und Isidor ein Altliberaler. Kurz darauf werden beide in den Großen Rat aufgenommen. Ihr Ansehen wächst, und die Eltern Salander sehen keinen Grund mehr, eine Heirat ihrer Töchter zu verhindern. Es kommt zu einer großartigen Doppelhochzeit mit üppigem Festessen, politischen Reden und musikalischen Darbietungen. Einzig Arnold Salander kann nicht daran teilnehmen, da er inzwischen nach England gezogen ist, um dort Jurisprudenz zu studieren. Auch Martin Salander wird schließlich in den Großen Rat gewählt. Während er sein Amt als Parlamentarier mit äußerster Gewissheit betreibt, haben die beiden Schwiegersöhne eher den eigenen Reichtum als das staatliche Wohlergehen im Kopf. Sie erwerben je ein Gut, auf dem sie mit ihren Gattinnen leben.

„So hauste Martin Salander mit den Seinen wieder auf altem Grunde und konnte beruhigt in die Welt und in die Jahre hinausschauen, soweit es der Mensch verlangen kann; denn wer auch nicht Welt und Zeit zu überholen strebte, dem kamen sie von selbst vor die Füße gerollt.“ (S. 88 f.)

Das Eheglück ist allerdings von kurzer Dauer. Als die Eltern Setti in ihrem Heim besuchen, erfahren sie, dass die Liebe erkaltet sei und die Weidelich-Zwillinge keine Seele hätten. Zum Entsetzen seines Schwiegervaters erklärt Isidor bei einem Spaziergang unverblümt, er werde ein wunderschönes, zu seinem Grundstück gehörendes Buchenwäldchen fällen, um das Holz zu verkaufen. Marie und Martin Salander suchen auch Netti auf. Dabei tritt Julian mit einer ganzen Schar geschossener Singvögel hinzu. Ob er als Großrat nicht wisse, dass die Jagd auf diese Tiere verboten sei, fragt ihn Martin Salander. Die Antwort ist ein gleichgültiges Schulterzucken. Beim Abschied kann Julian den Schwiegereltern nicht einmal die Hand reichen, weil diese vom Zubereiten der illegalen Beute blutig ist.

Die schöne Ungarin

Eines Tages steht überraschend Louis Wohlwend in Martin Salanders Büro. Er habe lange in Ungarn gelebt und sei mit seiner ungarischen Gattin, deren Schwester Myrrha sowie seinen beiden Söhnen in die Schweiz zurückgekehrt. Da er nun wieder Geld habe, wolle er beginnen, die Bürgschaft zurückzuzahlen, die Salander einst in den Ruin gestürzt und zur Auswanderung gezwungen hat. Dass er nach dessen Rückkehr den von einer brasilianischen Bank ausgestellten Wechsel nicht habe einlösen können, daran sei er unschuldig: Der Konkurs des Finanzhauses habe ihn ebenso unvorbereitet getroffen wie Salander selbst. Nach einigem Zögern ist dieser bereit, dem Widersacher zu glauben. Er nimmt die erste Anzahlung von 5000 Franken entgegen und lässt sich sogar dazu überreden, bei der Familie Wohlwend zu Mittag zu essen. Dabei sticht ihm die schöne, geheimnisvolle Myrrha ins Auge, die allerdings kaum einen zusammenhängenden Satz herausbringt. Salander schreibt dies ihrer mangelnden Kenntnis der deutschen Sprache zu und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Als er Marie vom Treffen mit den Wohlwends erzählt und dabei auch Myrrha erwähnt, bemerkt seine Frau sogleich die Leidenschaft des alternden Mannes. Sie reagiert mit mildem Spott. Allerdings ist sie überzeugt, dass Wohlwend nicht zu trauen ist.

Skandal in Münsterburg

Bald muss Salander seine Aufmerksamkeit unangenehmen Dingen zuwenden: In Münsterburg ereignen sich zahlreiche Betrugs- und Korruptionsfälle, in die angesehene Amtsträger verwickelt sind. Als Amalie Weidelich, die Mutter von Julian und Isidor, Marie Salander besucht, kommt es zu einem spannungsvollen Gespräch. Frau Weidelich gibt zu, dass sich die beiden Brüder kaum noch sehen, als würden sie sich voreinander schämen. Marie Salander erwähnt, dass Julian und Isidor laut ihren eigenen Töchtern keine Seele hätten, was Amalie Weidelich als grobe Beleidigung und Ungerechtigkeit empfindet.

„Im Salander’schen Haushalt schien der gute Hausgeist der Unbefangenheit irgendwo krank zu liegen.“ (S. 124)

Plötzlich stürzt ihr Ehemann Jakob Weidelich hinzu, bleich, zitternd und vollkommen aufgelöst: Isidor ist wegen betrügerischer Machenschaften verhaftet worden. Seine Frau kann es zunächst nicht glauben, dann sinkt sie angesichts der schrecklichen Wahrheit auf ihrem Stuhl zusammen. Zunächst klammert sie sich an die Hoffnung, dass wenigstens Julian anständig geblieben ist, doch bei der charakterlichen Ähnlichkeit der Zwillinge ist das unwahrscheinlich. Hinzu kommt, dass sich Julian schon mehrere Tage nicht mehr hat blicken lassen und dass niemand weiß, wo er sich aufhält. Auf dem Heimweg schwankt Amalie derart, dass sie von ihrem Mann gestützt werden muss. In ihrer Verzweiflung wirft sie ihren wertvollen Hut in den Fluss, was von den Zeugen mit Erstaunen und Belustigung zur Kenntnis genommen wird. Die Eltern Salander holen daraufhin ihre beiden unglücklichen Töchter nach Hause zurück.

„Es ist nichts mit ihnen! Sie haben keine Seelen! O Gott, wer hätte das denken können.“ (Setti über die Weidelich-Zwillinge, S. 217)

Eine Woche später erhält Netti einen Brief von ihrem Gatten Julian. Er ist nach Portugal geflüchtet und will sich nach Übersee einschiffen. Von Reue oder schlechtem Gewissen ist in dem Schreiben nicht das Geringste zu spüren. Julian ist überzeugt, in der Fremde wieder zu Geld zu kommen. Er bittet Netti, ihm die Treue zu halten und auf seine Rückkehr zu warten. Noch unverschämter ist der Brief, den Isidor kurz darauf aus seiner Gefängniszelle an Setti schreibt. Er beabsichtige, während der Haft eine sozialpädagogische Studie über Pflichtverletzungen im Staatswesen zu verfassen. Der Betrüger verlangt Schreibwaren, Bücher und Lebensmittel. Setti denkt nicht im Traum daran, ihm diese Wünsche zu erfüllen. Stattdessen reichen beide Salander-Töchter die Scheidung ein. Es dauert nicht lange, bis der geflohene Julian in Portugal verhaftet und nach Münsterburg zurückgebracht wird. Wegen eines Fluchtversuchs haben ihm die Ordnungshüter Daumenschrauben angelegt. Während des Prozesses verteidigen sich die Zwillinge, indem sie die Schuld auf den Staat, die Schulen und die allgemeinen Verhältnisse schieben. Doch es nützt ihnen nichts: Beide werden zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Als ihre Mutter davon erfährt, stirbt sie vor Kummer. Martin Salander indessen greift ihrem Ehemann finanziell unter die Arme und bewahrt ihn vor dem Verlust seines Hofes, mit dem der alte Weidelich für seine missratenen Sprösslinge gebürgt hat.

Noch einmal Wohlwend

Nachdem sich der Sturm um Julian und Isidor gelegt hat, wendet sich Martin Salander wieder seiner Leidenschaft für die stets geheimnisvoll schweigende Myrrha zu. Er überlegt sich eine Rechtfertigungsrede, die er vor seiner Familie halten will: Der Umgang mit dem Fräulein würde ihn verjüngen, ihm Energie verleihen und auf diese Weise seine Geschäftstüchtigkeit beflügeln. Doch Louis Wohlwend hat andere Pläne: Er spekuliert darauf, Myrrha mit Salanders Sohn Arnold zu verheiraten, wenn dieser von seinem Studienaufenthalt im Ausland zurückkehrt. Es dauert nicht lange, da betritt Arnold überraschend das elterliche Wohnhaus. Er hat in England sein Studium beendet und danach in Brasilien Erfahrungen als Kaufmann gesammelt. Dabei ist er den Umständen von Martin Salanders Ruin nachgegangen und kann nun Folgendes berichten: Der Mitarbeiter der Bank in Rio de Janeiro, der Salander damals den verhängnisvollen Wechsel ausgestellt hat, steckte mit Wohlwend unter einer Decke. Das Geld ging also nicht wegen des Konkurses verloren, sondern wurde böswillig unterschlagen.

„Salander fühlte ein prickelndes Behagen neben der seltenen Gestalt, und als Wohlwend Champagner kommen ließ und er ein paar Gläser genossen hatte, war es ihm, wie wenn er einen neuen Weltteil oder ein neues Prinzip entdeckt, kurz, das Ei des Kolumbus gefunden hätte.“ (S. 237)

Wohlwend hat inzwischen von Arnolds Rückkehr erfahren und eilt sogleich mit Myrrha im Schlepptau herbei. Um eine Szene zu vermeiden, zieht Salander ihn beiseite und teilt ihm in knappen Worten mit, dass er den Kontakt zu ihm abzubrechen wünsche. Genauere Erklärungen könne er ihm im Moment nicht geben. In der Zwischenzeit wechselt Arnold ein paar Worte mit Myrrha. Später sagt er seinem Vater, es sei jammerschade um die schöne junge Frau. Salander befürchtet bereits, dass sich auch Arnold Hals über Kopf in sie verliebt haben könnte. Der Sohn fragt daraufhin, ob der Vater denn noch nie mit Myrrha gesprochen habe. Es sei doch offensichtlich, dass sie vollkommen schwachsinnig sei. Bei diesen Worten überzieht sich Salanders Gesicht mit Schamröte. In den folgenden Wochen stellt er mit großer Genugtuung fest, dass Arnold mit beiden Beinen im Leben steht. Der blinde Ehrgeiz, der so viele andere befallen hat, ist ihm fremd. Er plant seinen Lebensweg mit Ruhe und Umsicht und bewegt sich in einem Freundeskreis selbstbewusster, anständiger junger Leute. Die Familie Salander lebt ruhig und gelassen, und ihr Widersacher Wohlwend verschwindet eines Tages überstürzt aus der Stadt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Martin Salander beginnt mit einem weltliterarischen Grundmotiv, das sich schon in Homers Odyssee findet: mit der Heimkehr des Helden aus der Fremde und seinem stets vom Scheitern bedrohten Versuch, sich in einer veränderten Umwelt wieder zurechtzufinden. Der erzählerische Rhythmus ist von den Momenten bestimmt, in denen die auf Anstand und Moral beruhende Welt des Martin Salander aus den Fugen gerät: dem zweifachen wirtschaftlichen Ruin, den verbrecherischen Machenschaften seiner Schwiegersöhne sowie der späten Leidenschaft für die schöne, aber dümmliche Myrrha. Die Ereignisse werden chronologisch geschildert, die Sprache ist einem nüchternen, unspektakulären, aber gekonnt umgesetzten Realismus verpflichtet. In ihrer detailverliebten Genauigkeit wirkt sie allerdings hin und wieder ermüdend. Reichlich schematisch mutet der moralische Gegensatz an, von dem das Werk von Anfang bis Ende durchzogen ist: auf der einen Seite die unerschütterliche Anständigkeit der Familie Salander, auf der anderen die Gier und Korruption ihrer Umgebung. Die historischen Hintergründe sind nur schemenhaft erkennbar. Die psychologischen Zeichnungen Martin und Arnold Salanders bleiben – zumindest für Kellers Verhältnisse – etwas farblos. Dennoch enthält das Buch nicht nur viele atmosphärisch dichte Passagen, sondern fesselt auch durch die spannende Handlung.

Interpretationsansätze

  • In Martin Salander wird eine Gesellschaft geschildert, deren liberale, aufgeklärte und demokratische Grundsätze durch skrupellosen Materialismus, hemmungslosen persönlichen Ehrgeiz und politische Intrigen untergraben werden. Es handelt sich deshalb um ein kapitalismuskritisches Buch. Die verwerflichen Tendenzen werden von Figuren wie dem Pleitier Louis Wohlwend und den Weidelich-Zwillingen verkörpert. Indem Letztere z. B. ihre parteipolitische Zugehörigkeit anhand eines Würfelspiels bestimmen, ordnen sie gesellschaftliche Ideale reinem Nützlichkeitsdenken unter.
  • Martin Salander erscheint zwar als positiver Gegenpol, ist aufgrund seiner Gutgläubigkeit aber außerstande, die Machenschaften seiner Widersacher zu durchschauen. Dasselbe gilt für die beiden Töchter Netti und Setti, die blindlings in lieblose, auf äußeren Schein beruhende Ehen hineinstolpern.
  • Dagegen besitzen Salanders Frau Marie und sein Sohn Arnold den illusionslosen Wirklichkeitssinn, den es braucht, um den Tücken des angebrochenen kapitalistischen Zeitalters zu trotzen.
  • Den Zerfall politischer und sozialer Moral schildert Keller weniger als Folge historischer Entwicklungen, sondern vielmehr als Ergebnis allgemeiner menschlicher Schwächen. Die zerbrochene Harmonie zwischen den Menschen und ihrer Umwelt wird mehrmals am skrupellosen Raubbau an der Natur dargestellt. So ist der eine Zwilling ein begeisterter Vogeljäger, während sich der andere bereit erklärt, ein Waldstück zu fällen und das gewonnene Holz zu verkaufen.
  • Die Erziehung des Menschen zum politisch mündigen Bürger ist ein wichtiges Thema des Romans. Anders als noch in seinem Hauptwerk Der grüne Heinrich zeigt sich Keller in Martin Salander in dieser Hinsicht nicht mehr optimistisch, sondern skeptisch.

Historischer Hintergrund

Die Schweiz der Gründerzeit

Während die gegen den aristokratischen Obrigkeitsstaat gerichteten Bestrebungen der 1848er Revolution in den meisten europäischen Ländern scheiterten, führten sie in der Schweiz zur Verabschiedung einer repräsentativ-demokratischen Bundesverfassung. Vorangegangen war diesem epochalen Ereignis der Sonderbundskrieg im November 1847. In dieser Auseinandersetzung standen sich die katholisch-konservativen Kantone der Innerschweiz und die liberalen Kräfte unter General Dufour gegenüber. Nach der Niederlage der Konservativen wurde die Schweiz zum einzigen liberalen Nationalstaat auf europäischem Boden. In den folgenden Jahrzehnten tobte allerdings der so genannte Kulturkampf, in dem sich die katholische Kirche und der säkularisierte Staat in ein heftiges Ringen um politisch-gesellschaftlichen Einfluss verstrickten.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war außerdem von einer schnellen Industrialisierung sowie dem Aufkommen sozialistischer Ideen geprägt. Es kam zu mehreren ökonomischen Krisen, die Bauern litten immer wieder unter Missernten, und in den großen Städten bildete sich ein Arbeiterproletariat heraus. Durch den Bau eines Eisenbahnnetzes, an dem der Zürcher Politiker und Industrielle Alfred Escher maßgeblich beteiligt war, rückte das Land zusammen, die traditionelle Beschaulichkeit schien gefährdet. Diese Entwicklungen ließen zahlreiche einstige Verfechter des Liberalismus zu Kritikern einer angeblich übertriebenen Demokratisierung werden, die dem Einzelnen in ihren Augen zu viele Rechte einräumte.

Entstehung

Die Enttäuschung über die Gründerzeit schlug sich auch in Martin Salander nieder, Gottfried Kellers letztem Roman. Der Entstehungsprozess war für den Autor eine Qual, und das Endergebnis befriedigte ihn nur bedingt. Martin Salander erschien 1886 als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Deutsche Rundschau; Keller musste Monat für Monat einen Teil abliefern. So zerschlug sich die Hoffnung des 67-Jährigen, am Ende seiner schriftstellerischen Karriere endlich ein Buch verfassen zu können, ohne unter Zeitdruck zu stehen. Vor allem beklagte Keller die Tatsache, beim Schreiben der einzelnen Folgen selber nicht genau zu wissen, wohin ihn das Ganze führen werde.

Zum Zeitpunkt der Niederschrift hatte der Autor seinen Broterwerb als Zürcher Stadtschreiber aufgegeben. 1882 war er mit seiner kränkelnden Schwester in den Zeltweg in Zürich gezogen, wo er die letzten acht Jahre seines Lebens verbringen sollte. Die Umstände am neuen Wohnort empfand er als äußerst verdrießlich und dem Schaffensprozess abträglich. Der Zeltweg, den er aus seiner Kindheit als ruhig in Erinnerung hatte, war zu einer lärmigen Straße geworden. Hinzu kam, dass sich im Erdgeschoss seines Wohnhauses eine Kneipe befand, sodass in Kellers Schreibstube häufig das Grölen betrunkener Gäste zu hören war. Und nicht zuletzt hatte man sein geliebtes Stammlokal, das Zunfthaus „Zur Meise“, geschlossen – ein Ort, der für ihn ein Stück Heimat gewesen war und wo er auch selber mal kräftig dem Alkohol zugesprochen hatte. Den Plan, Martin Salander eine Fortsetzung mit dem Titel Arnold Salander folgen zu lassen, konnte Keller nicht mehr verwirklichen.

Wirkungsgeschichte

Beim zeitgenössischen Publikum galt Martin Salander als missglückt. Die Kritik beklagte den altväterlichen, moralisierenden Grundton des Werks und stellte fest, dass Keller den Humor seiner früheren Werke weitgehend eingebüßt hatte. Außerdem bemängelte sie die vergleichsweise blasse Zeichnung der Hauptfiguren Martin und Arnold Salander. Als interessanter würdigte sie hingegen die negativen Helden des Romans, insbesondere die Weidelich-Zwillinge. Auch spätere Kritiker vertraten die Meinung, der Roman stehe den utopischen, rückwärtsgerichteten Sittengemälden des späten Jeremias Gotthelf näher als dem zeitgenössischen Gesellschaftsroman; die literarischen Prinzipien des bürgerlichen Realismus – als dessen Meister Keller doch gilt – seien in Martin Salander nur bedingt verwirklicht.

Demgegenüber betont jedoch die moderne Kritik, dass der Roman die beunruhigende Vision einer Gesellschaft entwerfe, die ihre aufgeklärt-liberalen Ideale an materielle Gier, Prunksucht und Korruption verraten hat. Bedeutende Autoren wie Walter Benjamin und Georg Lukács zeigten sich von Kellers Alterswerk jedenfalls fasziniert. „Ich liebe den Martin Salander von Gottfried Keller“, schrieb in einem NZZ-Artikel aus dem Jahr 2002 auch der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel, und der bekannte Germanist und Literaturprofessor Peter von Matt bezeichnete das Werk als „Kellers dunkelstes Buch“. Die Kritik an der vordergründig heilen Schweiz sollte für die Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Motive überhaupt werden – man denke etwa an Max Frischs Roman Stiller.

Über den Autor

Gottfried Keller wird am 19. Juli 1819 in Zürich geboren. Als er fünf Jahre alt ist, stirbt sein Vater, ein Drechslermeister. Die Mutter Elisabeth ist mit Gottfried und seiner jüngeren Schwester auf sich allein gestellt; sie heiratet kaum zwei Jahre später erneut, doch die Ehe steht unter keinem guten Stern: Die Scheidung erfolgt 1834 und der Familie fehlt es an Geld. In der Folge muss Gottfried die Armenschule besuchen. Später entschließt er sich, Maler zu werden, und absolviert eine Lehre bei einem Lithografen. Danach besucht er die Kunstschule in München, kehrt aber schon nach zwei Jahren wieder in die Schweiz zurück, wo er sich politisch betätigt (er tritt den Freischärlern bei) und Gedichte verfasst. 1848 erhält er von der Schweizer Regierung wegen des Erfolgs seines Gedichtbands ein Stipendium und reist nach Heidelberg und Berlin, wo er u. a. den Philosophen Ludwig Feuerbach kennen lernt, der ihn stark beeinflusst. Keller beginnt mit der Arbeit an seinem wohl wichtigsten Werk, Der grüne Heinrich (1854/55). Der Dichter hat zeitlebens wenig Erfolg bei den Frauen: Mehrmals verliebt er sich unglücklich, seine Verlobte Luise Scheidegger bringt sich 1865 um. Doch trotz seines ständigen Kummers wegen der Frauen wäre Keller ohne deren Unterstützung kaum zu einem solch gefeierten Schriftsteller geworden: Seine Mutter, bei der er lebt, bis er 31 ist, kommt jahrelang für seinen Unterhalt auf, seine Schwester Regula unterstützt ihn ebenfalls. So kann Keller neben dem Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla (1856) weitere literarische Werke verfassen, u. a. die Züricher Novellen (1877) und sein Spätwerk Martin Salander (1886). Gottfried Keller stirbt am 15. Juli 1890, er ist auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich begraben.

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