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Das Sein und das Nichts

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Das Sein und das Nichts

Versuch einer phänomenologischen Ontologie

Rowohlt,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

„Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“ – so lautet der Kernsatz von Sartres philosophischem Hauptwerk.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Das Sein, das Bewusstsein, die Anderen und die Freiheit

Jean-Paul Sartres Hauptwerk Das Sein und das Nichts ist ein sperriges Buch: In kleinsten Schritten und auf mehr als 1000 Seiten entwirft der französische Meisterdenker seine Philosophie, die ihn zum Begründer des französischen Existenzialismus machen sollte. "Was ist das Sein?", ist Sartres Ausgangsfrage. Dem menschlichen Bewusstsein räumt er eine Sonderstellung über allem ein, was existiert: Nur das Bewusstsein ist "für sich", kann also über sich selbst, die Welt und alle Dinge darin (die bloß "an sich" sind) nachdenken. Die Steine, Pflanzen, Tiere usw. existieren grundlos und ohne jegliches Wissen über ihren Zustand. Auch der Mensch existiert grundlos - doch er weiß das. Das ist der Kern von Sartres atheistischer Philosophie. Es gibt keinen Gott und damit kein höheres Ziel des Lebens und der Existenz. Die Situation des Menschen nimmt sich nicht gerade erfreulich aus: Er ist in die sinnlose Welt geworfen, alles erscheint ihm "de trop", zu viel, unnötig und sinnlos, und letztlich ist er sogar dazu verurteilt, sich selbst zu wählen. Sartres existenzialistischer Entwurf wirbelte bei seinem Erscheinen 1943 viel Staub auf und wurde gleichermaßen gehasst wie geliebt. Der Autor avancierte zu einem Star unter den Philosophen des 20. Jahrhunderts.

Take-aways

  • Das Sein und das Nichts gehört zu den Hauptwerken des französischen Existenzialismus.
  • Sartre untersucht darin die verschiedenen Arten von Sein, die es in der Welt gibt.
  • Sein und Erscheinung sind nicht, wie bei Kant, zwei verschiedene Dinge: Die Erscheinungen markieren für Sartre das Sein.
  • Alle Dinge, die nur auf sich selbst verweisen und kein Bewusstsein besitzen, bezeichnet Sartre als "an sich".
  • Wenn das Sein dagegen einen Bezug zu sich selbst hat, sich selbst betrachten kann und ein Bewusstsein entwickelt, ist es "für sich".
  • Alles Sein in der Welt ist sinnlos, zufällig und nicht von einem Gott geschaffen.
  • Durch das menschliche Bewusstsein kommt das Nichts in die Welt: Wir sind fähig zur Negation und können uns ein Nicht-Sein vorstellen.
  • Dies führt zur Wahlfreiheit: Wir können jederzeit einen Zustand "nichten" und damit aktiv eine Wahl treffen.
  • Allerdings folgt aus der Wahlfreiheit auch der Zwang, wählen zu müssen.
  • Durch den Blick der Anderen werden wir zum Objekt. Wir werden uns unserer selbst und der Existenz der Anderen bewusst.
  • Das Sein und das Nichts schlug bei den Intellektuellen der Nachkriegszeit ein wie eine Bombe.
  • Sartre entwickelte sich zu einem Starphilosoph des 20. Jahrhunderts und zum maßgeblichen Vertreter des Existenzialismus.

Zusammenfassung

Auf der Suche nach dem Sein

Das moderne Denken hat zu einer wichtigen Erkenntnis geführt: Das Sein oder das Existieren von etwas ist identisch mit seinen Erscheinungen. Elektrischer Strom z. B. ist keine geheimnisvolle Kraft, sondern die Summe seiner Erscheinungen: Fluss von Elektronen, Aufflammen einer Glühbirne, Bewegung eines Zeigers am Anzeigegerät und ähnliche Phänomene. Sein und Erscheinung sind also nicht zwei unterschiedliche Dinge (Dualismus), sondern die Erscheinungen markieren zuverlässig das Sein.

„Das moderne Denken hat einen beachtlichen Fortschritt gemacht, indem es das Existierende auf die Reihe der Erscheinungen, die es manifestieren, reduzierte.“ (S. 9)

Andererseits gilt aber auch, dass alles Sein eine eigene Realität besitzt, die von unserem Erkennen verschieden ist. Ein Tisch im Raum ist ohne Zweifel ein Tisch mit allen seinen Eigenschaften. Unser Erkennen dieses Tisches ist aber immer nur eine Abschattung seines wirklichen Seins, ein Bruchteil seines Seins, z. B. nehmen wir gerade seine glatte Oberfläche oder seine Holzmaserung wahr. Wir können den Tisch anhand einer Reihe von Eigenschaften wahrnehmen. Aber der Tisch existiert unabhängig von unserem Bewusstsein. Er ist nicht identisch mit uns selbst. Unser Bewusstsein von Dingen in der Welt kann nicht ohne diese Dinge existieren, denn sonst wäre es ein Bewusstsein von nichts und dies wäre letztendlich kein Bewusstsein. Wir haben es also mit zwei unterschiedlichen Seinstypen zu tun:

  1. das Sein der Erscheinungen, welches unabhängig von unserem Bewusstsein ist, und
  2. das Sein unseres erkennenden Bewusstseins selbst.

Die zwei Seinstypen und die Kontingenz

Präzisieren wir die beiden Seinstypen. Wenn man die Idee einer Schöpfung und eines Schöpfergottes ablehnt, haben wir es mit Dingen in der Welt zu tun, die nur auf sich selbst verweisen und eben nicht auf einen Schöpfer. Diese Dinge sind nichts als die Summe ihrer Eigenschaften: Sie sind, was sie sind. Diese Seinsform nennen wir "an sich". Ein Stein z. B. ist und bleibt ein Stein: Er hat keine Möglichkeiten, sich zu verändern. Er hat keinen Bezug zu etwas Äußerem. Er hat kein Bewusstsein. Er ist an sich. Diese Art des Seins unterscheidet sich von unserem Bewusstsein. Im Bewusstsein muss das Sein einen Bezug zu sich selbst haben, sich also gewissermaßen aufspalten, um sich selbst betrachten zu können. Das Bewusstsein ist "für sich".

„Die Erscheinung wird nicht von irgendeinem von ihr verschiedenen Existierenden getragen: Sie hat ihr eigenes Sein.“ (S. 14)

Da sich das Sein nicht von einem anderen Sein ableiten lässt, ist es kontingent, zufällig. Das bedeutet, dass alles, was ist, gewissermaßen zu viel oder überflüssig ist: Nichts existiert aus einem bestimmten Grund, alles ist sinnlos in seiner Existenz.

Das Nichts

Wodurch ist das Bewusstsein charakterisiert? Zuallererst durch seine Fähigkeit, zu fragen. Wir stellen fortwährend Fragen, um uns über die Welt, in der wir leben, klar zu werden. Wann immer wir eine Frage stellen, rechnen wir damit, dass sie negativ beantwortet werden könnte. Wir rechnen also mit Dingen oder Möglichkeiten, die nicht existieren. Nichtexistenz, oder das Nichts, ist eine Möglichkeit der Realität. Mehr noch: Das Nicht-Sein ist ständig Teil unseres Lebens. Wenn wir z. B. eine bestimmte Person namens Pierre in einer überfüllten Bar suchen, so werden die Einrichtung und alle anderen Personen zum Hintergrund, sie werden nicht wahrgenommen, sie werden "genichtet". Ist die gesuchte Person nicht da, wird auch sie zum Nichts. Wäre sie da, würde sich die Bar um sie herum anordnen. Woher kommt das Nichts? Per Definition ist das Nichts nicht da, denn wenn es ein Sein, also irgendeine Form oder ein Wesen hätte, wäre es logischerweise kein Nichts mehr. Das Nichts klebt nicht an den Dingen, sondern wird erst über einen Umweg erschaffen: Es ist der Mensch, der dem Nichts dazu verhilft, in die Welt zu treten. Indem er sich ein Nicht-Sein vorstellt, erschafft er das Nichts. Schon indem er die Welt bewusst erlebt, wahrnimmt, ordnet (Süd ist nicht Nord, Rot ist nicht Blau usw.), erschafft er auch das Nichts.

„Das Sein ist. Das Sein ist an sich. Das Sein ist das, was es ist. Das sind die drei Merkmale, die die vorläufige Untersuchung des Seinsphänomens uns dem Sein der Phänomene zuzuschreiben erlaubt.“ (S. 44)

Das Nichts kann natürlich nur im Kontrast zum Sein existieren, als Auflösung oder Riss im Sein. Wie gelingt es dem menschlichen Bewusstsein, das Nichts zu erkennen? Indem es sich zum Sein und zu dessen Wahrnehmung auf Distanz begibt, sozusagen Abstand vom Sein gewinnt und auf diese Weise auch das Nicht-Sein als Möglichkeit denken kann. Sehen wir z. B. in der eben beschriebenen Bar ein aufgeschlagenes Buch von Pierre, so können wir mithilfe eines reflektierenden Bewusstseinsakts schlussfolgern, dass er vielleicht nur kurz auf die Toilette gegangen ist. Das aufgeschlagene Buch, also das Sein an sich, gibt uns darüber jedoch keine Auskunft.

Freiheit und Angst

Zwar ist der Mensch an das Sein gebunden, also an sein Leben, seinen Körper usw., er hat aber immer die Möglichkeit, diesen Zustand zu verneinen und hieraus eine bewusste Wahl abzuleiten. Beispielsweise lässt sich die Schwäche des Körpers durch eine bewusste Entscheidung, ihn mit Training oder Abhärtung zu stärken, nichten - vollständig oder zumindest ansatzweise. Jede Entscheidung schleppt jedoch den Ballast früherer Entscheidungen mit sich herum, d. h. die menschliche Natur verändert sich nur in kleinen Schritten. Wir können uns nie ganz von dem lösen, was einmal gewesen ist. Das Nichts bedeutet für den Menschen auch: Es könnte etwas an dessen Stelle sein, eine Möglichkeit. Insofern ist das Nichts gleichbedeutend mit Freiheit. Der Mensch kann die Nichtung nicht willentlich beseitigen, er kann sich seiner selbst nie sicher sein. Wähle ich einen Weg, ist auch immer ein Nicht-Weg denkbar. So ergeben sich fortwährend Möglichkeiten zur Wahl. Diese Wahlfreiheit führt aber auch dazu, dass der Mensch wählen muss, ob er will oder nicht. Er sieht sich einem lebenslangen Entscheidungsprozess gegenüber. Dieser fortwährende Zwang zum Wählen und die Erfahrung, etwas zu sein, was man einmal nicht mehr sein wird, ohne zu wissen, was genau man sein wird, führt zu Angst. Angst ist somit eine Grunderfahrung der Freiheit.

Streben und Scheitern

Das Sein hat die Tendenz, "sich zu gründen", d. h. vom Zustand des An-sich-Seins zum Zustand des Für-sich-Seins hinüberzutreten und ein Bewusstsein zu entwickeln. Dabei muss das Sein in eine Distanz zu sich selbst treten und sich nichten. Der Gewinn des Bewusstseins wird erkauft durch den Verlust der eigenen Identität. Dieser Prozess gelingt aber nicht vollständig, sondern scheitert fortwährend. Mithin ist die menschliche Existenz ein ständiges Scheitern. Letztlich handelt es sich dabei um ein Scheitern des großen Plans, selbst Gott zu werden. Denn wenn es dem Menschen gelänge, Ursache seiner selbst zu sein (oder auch: "an und für sich" zu sein), wäre er identisch mit Gott.

Zeitlichkeit

Die drei Dimensionen der Zeit - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - lassen sich nur mithilfe des Für-sich-Seins, also des unterscheidenden Bewusstseins denken. Die Vergangenheit hat beispielsweise kein eigenes Sein, sie existiert nur in unserer Erinnerung. Der Mensch muss zwischen heute und gestern unterscheiden und sich erinnern, sonst existiert die Vergangenheit für ihn nicht. Das Für-sich erlebt die Vergangenheit als Verneinung: Es ist dies nicht mehr, es ist bereits etwas anderes. Die Nichtung des Gewesenen macht Vergangenheit für das Für-sich überhaupt erst möglich. Genauso wie das Bewusstsein oder Für-sich-Sein nicht mehr die Vergangenheit ist, ist es noch nicht die Zukunft - auch dies ist eine Nichtung. Hierdurch ergibt sich eine ständige Negation in Form von "nicht mehr" und "noch nicht".

Das Für-andere

Wie ist es möglich, den Solipsismus (lat. solus ipse: allein ich selbst) zu umschiffen und herauszufinden, ob es neben dem eigenen Bewusstsein noch weitere gibt? Der Blick der Anderen macht aus uns ein Objekt, ein An-sich, und durch diese Objektivierung werden wir uns unserer selbst bewusst - und zugleich der Existenz der Anderen. Ein Beispiel: Ein Mann lauscht hinter einer Tür oder späht durch ein Schlüsselloch, er tut dies vollkommen unreflektiert und ohne Bewusstsein für die leichte Anrüchigkeit seiner Tat. Was aber geschieht, wenn ein Fremder den Raum betritt, das ungebührliche Verhalten des Mannes bemerkt und ihn scharf ins Auge fasst? Durch den Blick des Anderen wird dem Mann bewusst, was er da tut und dass er ein Voyeur ist. Der Blick des Anderen macht aus dem präreflexiven ein reflexives Bewusstsein. Er macht aus dem Für-sich des Mannes ein An-sich, ein Objekt der Betrachtung. Scham steigt in dem Mann auf. Es ist die Scham, zum Objekt gemacht worden zu sein. Der Vorgang des Betrachtetwerdens ermöglicht ihm, sich selbst mit den Augen des Anderen zu sehen. Das ist jedoch auch eine Bedrohung: Der Andere raubt dem Mann einen Teil seiner Freiheit, und zwar durch seine eigene Freiheit als betrachtendes und objektivierendes Für-sich. Ein Wechselspiel von Blicken entspinnt sich in dem Kampf, die Oberhand über die Situation zu gewinnen. Hieraus entspringt der unauflösliche Konflikt zwischen den Individuen. Denn die Freiheit des Einen ist immer eine Beschneidung der Freiheit des Anderen, weswegen auch so etwas wie die Achtung der Freiheit des Anderen gar nicht existieren kann.

Die Liebe

Versuchen wir, uns die Freiheit des Anderen zu eigen zu machen, nennt man dies Liebe. Der Versuch, den Blick des Anderen an uns zu binden, ihn zu fesseln und für uns zu faszinieren, ist die Verführung. Mit ihr erreichen wir auch, dass wir Macht über die Freiheit des Anderen bekommen. Dann können wir unser Objekt-Sein für ihn so erscheinen lassen, wie wir wollen. Wir werden dann ein Grund unserer selbst, fühlen uns angenommen durch den Anderen. Dies ist die Wonne des Liebesglücks, die uns eine Rechtfertigung gibt zu existieren. Liebe ist demnach eine Möglichkeit, das Grauen der Kontingenz, der Zufälligkeit zu überwinden. Jeder will vom Anderen geliebt werden - aber nicht unbedingt auch selbst lieben. Das ist wieder ein Grund für Konflikte, denn wenn ich vom Anderen geliebt werden will, bedeutet das auch, dass der Andere genau dies nicht beabsichtigt, sondern er wiederum nur von mir geliebt werden will.

Körper und Sexualität

Der Körper bildet für uns das Verbindungsglied zur Welt. Allerdings ist es nicht etwa so, dass der Geist den Körper "bewohnt", so als seien Geist und Körper zwei unterschiedliche Dinge. Ein Mensch ist sein Körper und lebt diesen Körper, ohne an eine solche Abspaltung zu denken. Die Aufgabe des Körpers ist es, das Für-sich bei der Gründung seiner Subjektivität zu unterstützen. Der Körper ist Mittel zur Verführung des Anderen, für den wir "zur Welt" werden und somit Existenzberechtigung erlangen. Wenn es den Körper gibt und den Anderen, dann gibt es automatisch auch Begierde und den Wunsch, geliebt zu werden.

Faktizität und Freiheit

Das Für-sich erlebt sich stets als handelnd. Sein bedeutet handeln und handeln bedeutet sein. Wie gestaltet sich nun das Für-sich als praktische Freiheit, als Freiheit zum Handeln? Hierzu bedarf es zunächst einer Intention, also einer Zwecksetzung. Wenn wir z. B. auf einer Wanderung einen Felsbrocken auf unserem Weg finden, so können wir dies als Ärgernis empfinden: Er blockiert den Weg und ist zu groß, als dass wir ihn forttragen könnten. Die Faktizität der Situation, also das Vorhandensein des Brockens, können wir nicht ändern, allerdings erscheint er in unterschiedlichem Licht, je nach unserer Intention. Wenn wir die Intention haben, an dem Felsen vorbeizukommen, dann ist uns der Brocken in der Tat im Weg. Wollen wir uns hingegen einen Überblick über das darunterliegende Tal verschaffen, ist der Fels eine willkommene Aussichtsplattform. Fazit: Der Fels selbst ist keine Einschränkung unserer Freiheit, erst unsere Intention macht daraus das, was er für uns ist. Hindernisse wie dieser Felsbrocken sind "Koeffizienten des Widerstands", die uns im Leben immer wieder begegnen. Manchmal sind sie wirklich nur Steine auf dem Weg, manchmal große, unüberwindbare Hindernisse - z. B. Missernten und Hungersnöte, wenn Menschen die Intention "Nahrungsaufnahme" gefasst haben. Dass manche Ziele, die in völliger Freiheit beschlossen wurden, schlichtweg nicht erreichbar sind, bedeutet keine Einschränkung der Freiheit. Die Freiheit des Für-sich besteht ausschließlich darin, sich dazu zu entschließen, etwas zu wollen. Freiheit ist Autonomie der Wahl, nicht tatsächliche Zielerreichung.

„Der Mensch ist das Sein, durch das das Nichts zur Welt kommt.“ (S. 83)

Die Freiheit der Wahl ist etwas Unausweichliches. Wir können zwar in Freiheit wählen, aber die Freiheit selbst können wir nicht wählen oder abwählen. Wir sind zur Freiheit verdammt und müssen ständig Entscheidungen treffen, weil das Für-sich niemals ganz in der Gegenwart existiert, sondern immer im Übergang, in einer Veränderung des Status quo.

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Sein und das Nichts besteht aus insgesamt vier Teilen und einer Einleitung. In Letzterer stellt Sartre einen Großteil seiner Begriffe und Definitionen vor und führt das Sein als Grundkategorie ein. Im ersten Teil des Werks beschäftigt er sich ausführlich mit dem Phänomen des Nichts und der Negation. Der zweite Teil lotet in immer neuen Darstellungen und einer Menge konkreter Beispiele die Beziehungen des Für-sich und An-sich aus. Der dritte Teil widmet sich den Beziehungen des Bewusstseins zum Anderen, der Rolle des Körpers und der Bedeutung des Blicks. Der vierte Teil schließlich widmet sich den Begriffen der Freiheit und des Handelns. Sartre ist nichts für philosophische Neulinge: Im Grunde sollte dieses Buch nur lesen, wer zumindest die Grundbegriffe der Philosophien Hegels, Husserls und Heideggers kennt, aus deren Werken Sartre reichlich schöpft und auch Begriffe entlehnt. Sartres Stil ist wechselhaft: Dank seiner Erfahrungen mit dem belletristischen Schreiben gelingen ihm einerseits viele eingängige Beispiele, wie etwa das bekannte Voyeur-Exempel zur Veranschaulichung des "Blick"-Problems. Andererseits fordern sehr viele Sätze mit Sartres eigenwilliger Terminologie höchste Konzentration vom Leser. Der Philosophieprofessor Heiner Hastedt bewertete Sartres Schreib- und Argumentationsstil folgendermaßen: "Er hat die Neigung, etwas Halbverstandenes (...) noch abstrakter zu referieren und ihm eine Aura des Tiefen zu geben, um es dann mit einem anderen Gedanken (oft eines weiteren Autors) zu ‚vermitteln' und so endgültig undeutlich zu machen. Klarheit ist also leider nicht seine Stärke."

Interpretationsansätze

  • Sartre bemerkte einmal, die Leitfrage des Buches bestünde darin, gleichzeitig die Autonomie des Menschen (Freiheit) und seine Seinsrealität (Notwendigkeit) zu erfassen. Er gibt eine neue Antwort auf die uralte Frage, ob der Mensch frei oder determiniert sei: Der Mensch ist radikal frei, indem er sich sogar selbst entwerfen muss; diese Freiheit muss er aber in einer Welt verwirklichen, die total determiniert ist (Faktizität).
  • Eine große Rolle in Sartres Philosophie spielt die Negation, das Nichts. Sein und Nichts bedingen einander, denn nur in Abgrenzung vom Sein kann das Nichts überhaupt eine Rolle spielen. Sein und Nichts sind radikale Gegensätze und nicht - etwa wie bei der "Synthese" von Hegel - miteinander kompatibel. Aus der Möglichkeit zur Verneinung erringt der Mensch seine Wahlfreiheit.
  • Die berühmte Formel "Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt" betont diese Wahlfreiheit und gleichzeitig den durch sie gesetzten Zwang: Als bindungsloses und nur auf sich selbst verwiesenes Lebewesen muss der Mensch fortwährend seinen Status quo negieren, sich entscheiden und seine Zukunft selbst gestalten. Für Sartre ist der Mensch das einzige Wesen, bei dem die Existenz der Essenz (was er ist, was ihn ausmacht, wie er sein sollte) vorausgeht.
  • Sartre bezeichnet seine Theorie als humanistische Philosophie, weil sie den Menschen auf sich selbst zurückführt: Schließlich gebe es keinen anderen Gesetzgeber, der über seine Existenz verfüge. Für den Menschen existieren Sartre zufolge keine Werte, Maximen, Richtlinien, nach denen er leben und an die er sich halten kann, auch kein Gott, der ihm Sinn und Lebenshoffnung gibt.
  • Sartres Analyse des Verhältnisses zum Anderen kommt zu einem niederschmetternd negativen Ergebnis. Ein harmonisches Miteinander ist im Grunde nicht möglich, weil der Blick und die Freiheit des Anderen den Einzelnen zu einem Objekt "an sich" reduzieren und seine Freiheit bedrohen.

Historischer Hintergrund

Die Existenzphilosophie

Der Begriff der Existenzphilosophie wurde um 1930 für diejenigen Strömungen der Philosophie geprägt, die sich mit den Grundlagen der menschlichen Existenz in der Welt beschäftigen. Die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts besteht aus verschiedenen Richtungen, die sich teilweise erheblich voneinander unterscheiden. Angst, Tod, Freiheit, Verantwortung und Handeln bilden dabei die Kernbegriffe. Der Däne Sören Kierkegaard gilt als der eigentliche Begründer dieser Philosophierichtung. Er behauptete, dass der Mensch völlig bindungslos in diese Welt hineingeboren werde. Er müsse als "Sein, das sich zu sich selbst verhält", seine eigene Bestimmung finden, sich so definieren, dass er sich selbst annehmen kann. Sartres Variante der Existenzphilosophie wird gemeinhin als französischer Existenzialismus bezeichnet. Dieser ist - im Gegensatz z. B. zu Kierkegaard - nihilistisch und atheistisch. Martin Heidegger, der übrigens Sartres Philosophie als Irrtum bezeichnete, untersuchte die Stellung des Menschen zum Sein. Dabei entdeckte er verschiedene Seinsweisen, insbesondere das "Geworfensein" des Menschen. Albert Camus vertrat eine Philosophie des Absurden, denn er erkannte in der Lebenswirklichkeit des Menschen vor allem Sinnlosigkeit. Im fortwährenden Kampf gegen diese Sinnleere schließen sich laut Camus die Menschen zusammen, um ihrer Existenz durch Solidarität Sinn zu spenden. Karl Jaspers schließlich beschäftigte sich, neben seinen politischen Schriften, u. a. mit der Massengesellschaft und der Entfremdung durch die Technisierung aller Lebensbereiche. Für ihn muss der Mensch seine Existenz im Kommunikationsakt mit anderen Menschen entwickeln (Existenzerhellung).

Entstehung

Der Ausgangspunkt für Sartres Philosophie war seine Lektüre der "3H", der deutschen Philosophen G. W. F. Hegel, Edmund Husserl und Martin Heidegger, die er jedoch alle nicht im Original, sondern in (teilweise bruchstückhaften) Übersetzungen las. 1933 war er als Stipendiat ans Institut Français nach Berlin gekommen, wo er sich intensiv dem Literaturstudium widmete. Die Beschäftigung mit Husserl und Heidegger führte zunächst zu einigen Aufsätzen, die u. a. in den Recherches Philosophiques und der Nouvelle Revue Française veröffentlicht wurden. Sartre hatte zudem wichtige Elemente seiner existenzialistischen Philosophie bereits literarisch verarbeitet, bevor er mit der differenzierten Ausarbeitung begann. In seinem Roman Der Ekel etwa, mit dem er 1938 bekannt wurde, beschrieb er das trist vor sich hinplätschernde Leben eines Mannes in einer unbedeutenden Stadt, der sich mit unwichtigen Dingen beschäftigt und den plötzlich ein ihm unbegreiflicher Ekel überkommt, ein Ekel vor der bloßen Existenz. Ihm wird klar, dass er selbst und alles um ihn herum sinnlos und überflüssig ist: Das war die Entdeckung der Kontingenz, die Sartre dann schließlich zu einem der Kernthemen von Das Sein und das Nichts machte.

Wirkungsgeschichte

1943 erschien Das Sein und das Nichts in Paris. Die Stadt stand zu diesem Zeitpunkt unter deutscher Besatzung. Deshalb wurde das Werk zunächst nur einem kleinen Kreis Intellektueller bekannt. "Eines Tages im Herbst 1943", so der französische Schriftsteller Michel Tournier, "fiel ein Buch auf unsere Tische: Das Sein und das Nichts. Das Werk war massig, wuchernd, ausufernd, von einer unwiderstehlichen Kraft, voller erlesener Subtilitäten, enzyklopädisch, von überlegener Methodik, und es war von vorn bis hinten von einer Intuition diamantener Einfachheit. Gleich danach erhob sich in der Presse das Gezeter des antiphilosophischen Gesindels. Kein Zweifel: Wir hatten ein neues Denksystem bekommen." Spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trat das Werk einen aufsehenerregenden Siegeszug an. Die Nachkriegs- wurde zur Sartre-Zeit: Da seine Form der Existenzphilosophie im Kern atheistisch und nihilistisch war, aber gleichzeitig die Freiheit des Individuums betonte, bot sie eine philosophische Antwort auf das Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit, das die Grauen des Krieges in den Menschen auslösten.

Sartre erweiterte, ergänzte und revidierte sein philosophisches Denkgebäude immer wieder in kleineren Schriften und Interviews. 1945 veröffentlichte er mit Ist der Existenzialismus ein Humanismus? eine populistische Zusammenfassung und Weiterentwicklung seiner Gedanken. Zudem verquickte er wie kein anderer die Philosophie mit der Literatur und trat auch als Verfasser von Romanen und Dramen hervor. Für seine Kritiker stand gerade deshalb ein großer Widerspruch im Raum: Kann jemand, der sich nicht ausschließlich der Philosophie verschreibt, überhaupt als glaubwürdiger Philosoph gelten? Sartre war deshalb bis zu seinem Tod und darüber hinaus als Antiphilosoph und Sophist verschrien, dessen Werk eher als Gift denn als ernsthafte Philosophie angesehen werden sollte. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, wurde Das Sein und das Nichts vor allem auch von Laien und Autodidakten gelesen.

Über den Autor

Jean-Paul Sartre wird am 21. Juni 1905 in Paris als Sohn eines Marineoffiziers geboren. Seine Mutter heiratet nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes wieder und zieht nach La Rochelle. Sartre besucht, nachdem er am Atlantik sehr unglücklich war, das Pariser Lycée Henri IV als Internatsschüler und studiert anschließend Psychologie, Philosophie und Soziologie an der École normale supérieure in Paris. Er erhält die Lehrerlaubnis für die Hochschule im Fach Philosophie und lernt Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine Lebensgemeinschaft eingeht. 1933 erhält er ein Stipendium in Berlin. Dort befasst er sich vor allem mit den Philosophien Husserls und Heideggers. Über Letzteren urteilt er bald vernichtend: „Es schien, als sei mit Heidegger die Philosophie wieder in die Kindheit zurückgefallen.“ 1938 erscheint sein Roman La Nausée (Der Ekel), mit dem Sartre schlagartig berühmt wird. 1939 wird er zum Militär eingezogen, gerät in deutsche Gefangenschaft, wird aber 1941 wieder freigelassen. 1943 veröffentlicht er sein erstes philosophisches Werk L’Être et le Néant (Das Sein und das Nichts), in dem er die totale Freiheit und Verantwortung des Menschen verkündet, und verfasst sein Theaterstück Huis clos (Geschlossene Gesellschaft). Für einige Monate ist er in der französischen Résistance gegen die deutsche Besatzung aktiv. Ab 1945 lässt er sich als freier Schriftsteller in Paris nieder. Er ist eine zentrale Figur der dortigen Intellektuellenszene und wird Herausgeber der politisch-literarischen Zeitschrift Les Temps modernes. Er lebt, arbeitet, schreibt und empfängt Gäste in den Pariser Straßencafés. 1952 tritt Sartre in die Kommunistische Partei Frankreichs ein, verlässt sie aber aus Protest gegen die blutige Zerschlagung des Ungarnaufstands 1956 wieder. 1960 erscheint sein zweites philosophisches Hauptwerk: Critique de la raison dialectique (Kritik der dialektischen Vernunft). Als ihm 1964 der Nobelpreis für Literatur verliehen werden soll, lehnt Sartre die Auszeichnung ab, da er hiermit seine Unabhängigkeit gefährdet sieht. Der Autor, der schon lange ein Augenleiden hat, ist ab 1973 praktisch blind. Er stirbt am 15. April 1980 nach langer Krankheit in Paris. Seinem Sarg folgen 50 000 Menschen.

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