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Philosophische Untersuchungen

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Philosophische Untersuchungen

Suhrkamp,

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12 take-aways
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What's inside?

Ein Kultbuch der Philosophie, das zum Nachdenken über unsere alltägliche Sprache anregt.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Wittgensteins spätes Hauptwerk

Als Ludwig Wittgenstein die Philosophischen Untersuchungen schrieb, war er durch seinen Tractatus logico-philosophicus in Fachkreisen bereits ein berühmter Mann. Nach jahrelanger Abstinenz vom philosophischen Denken wandte er sich ab 1929 wieder der Materie zu – um schließlich in 693 Paragrafen seine frühere Theorie zu korrigieren. Sein Interesse richtete sich nun nicht mehr auf eine formal logische, konstruierte Idealsprache, sondern auf die normale, gesprochene Alltagssprache. Was macht das Wesen unserer Sprache aus? Woran lässt sich die Bedeutung eines Wortes oder Satzes erkennen? Wie lernen Kinder ihre Muttersprache? Aufgrund welcher Regeln und Vereinbarungen gelingt es Menschen überhaupt, miteinander zu kommunizieren? In immer neuen Anläufen umkreist Wittgenstein diese Fragen, leidenschaftlich, akribisch und ohne dabei fertige Antworten zu liefern. Die vielen Beispiele und Situationen aus dem Alltag, mit denen er seine Argumentation untermalt, sind gerade durch ihre Banalität erhellend und dabei sogar oft erheiternd. Wittgensteins Spätwerk ist ein schwieriges, aber sehr lohnenswertes Buch, weil es zum Nachdenken über etwas für uns so Selbstverständliches wie unsere Sprache anregt.

Take-aways

  • Die Philosophischen Untersuchungen sind neben dem Tractatus logico-philosophicus Ludwig Wittgensteins Hauptwerk.
  • Das 1953 erschienene Buch zählt zu den bedeutendsten Werken der Sprachphilosophie.
  • Wittgenstein korrigiert in den Untersuchungen seine im Tractatus dargelegte Position. Er wendet sich von der „idealen“, logischen Sprache ab und der „normalen“, gesprochenen Sprache zu.
  • Das Sprechen ist eine Art Handlung.
  • Wie das Spiel beruht die Sprache auf der Einhaltung von Regeln.
  • Die Menschen werden von Anfang an darauf abgerichtet, die Regeln der „Sprachspiele“ zu befolgen.
  • Die Bedeutung eines Wortes ist keineswegs eindeutig festgelegt. Sie ergibt sich vielmehr aus seiner Verwendung in der alltäglichen Sprachpraxis.
  • Wir wissen, was „rot“ ist, weil wir Deutsch gelernt haben. Die Frage nach den tieferen Ursachen des „Rotseins“ ist sinnlos.
  • Die Philosophen bedienen sich einer abgehobenen, dem alltäglichen Gebrauch fremden Sprache und schaffen sich dadurch ihre eigenen Scheinprobleme.
  • Die Philosophie sollte die Dinge ausschließlich beschreiben, da alles offen liegt und es nichts zu erklären gibt.
  • Wittgensteins Spätphilosophie ist pragmatisch und lebensnah.
  • Schon kurz nach ihrem Erscheinen wurden die Philosophischen Untersuchungen zu einem Kultbuch, das großen Einfluss auf die moderne Sprachwissenschaft ausübte.

Zusammenfassung

Sprache als Benennen von Gegenständen

Nach einer verbreiteten Vorstellung der menschlichen Sprache hat jedes Wort eine feste Bedeutung. „Tisch“ bezeichnet den Gegenstand Tisch, „Stuhl“ den Gegenstand Stuhl usw. Kinder lernen ihre Muttersprache, indem sie darauf abgerichtet werden, Menschen, Gegenstände, Formen, Farben, Schmerzen usw. zu benennen, als ob überall Namensschildchen angeheftet wären. Man zeigt auf ein Ding und nennt dessen Namen. Diesen Vorgang, also das Benennen und Nachsprechen des vorgesagten Wortes, könnte man als „Sprachspiel“ bezeichnen. Der Begriff trifft aber auch auf den ganzen Kosmos der Sprache und der Tätigkeiten, die mit ihr verbunden sind, zu.

„Ich möchte nicht mit meiner Schrift andern das Denken ersparen. Sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen.“ (S. 9)

So, wie man nach verschiedenen Gesichtspunkten Werkzeuge in Werkzeugarten oder Schachfiguren in Figurenarten einteilen kann, können auch Wörter und Sätze ihrer Funktion entsprechend nach Wort- und Satzarten sortiert werden. Wenn etwa jemand „Platte!“ ruft, kann er ganz Verschiedenes meinen, z. B. auch einen verkürzten Satz im Sinne von: „Bring mir die Platte!“ Der Ausruf „Fünf Platten!“ kann eine Feststellung sein („Auf dem Stapel liegen fünf Platten“) oder ein Befehl („Bring mir fünf Platten!“). Es gibt unzählige Arten der Verwendung von Wörtern und Sätzen: behaupten, befehlen, berichten, Hypothesen aufstellen, Geschichten erzählen, Theater spielen, einen Witz machen, bitten, danken, fluchen und vieles mehr. Diese zahlreichen Formen der Sprache – diese „Sprachspiele“ – sind nichts Festes, Gegebenes, sondern sie verändern sich; ständig entstehen neue und werden alte vergessen.

„Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (S. 40)

Die Bedeutung eines Namens darf nicht mit seinem Träger verwechselt werden. Wenn man z. B. sagt, „Herr N. N.“ sei gestorben, meint man den Träger, nicht die Bedeutung des Namens. Der Begriff „Bedeutung“ bezeichnet in den meisten Fällen den Gebrauch eines Wortes im Gefüge der Sprache. Indem man auf einen Gegenstand zeigt und dessen Namen ausspricht, benennt man ihn. Doch dieses Benennen dient nur der Vorbereitung, ähnlich wie die Aufstellung der Figuren im Schachspiel. Die Bedeutung bekommt das Wort erst in einem Satzzusammenhang.

Sprache als Teil einer gemeinsamen Lebensform

Die Sprache kann man mit einer alten Stadt vergleichen, die von Plätzen und verwinkelten Gassen sowie von alten und neuen Häusern aus ganz verschiedenen Zeiten geprägt ist, umgeben von Vororten mit geraden, regelmäßigen Straßen und einförmigen Häusern. Ständig verändert sie sich, neue Stadtteile entstehen, alte sterben ab. Ähnliches geschieht auch in der Sprache.

„Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unsern Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgendeinem Sinne, nicht zu verstehen.“ (S. 73)

Das Sprechen ist wie das Handeln Teil einer Lebensform. So kann man sich z. B. eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen, nur aus Meldungen oder nur aus Fragen besteht. Mit einer solchen Sprache stellt man sich auch eine bestimmte Lebensform vor. Zu unserer Geschichte (und also unserer Lebensform) gehören Sprachspiele wie befehlen, fragen, erzählen und schwatzen ebenso wie gehen, essen, trinken und spielen. Nur aufgrund unserer gemeinsamen Lebensform, unserer gemeinsamen Definitionen und Überzeugungen können wir die sprachlichen Äußerungen, den Tonfall, die Gesten und den Gesichtsausdruck anderer Menschen verstehen.

Das Prinzip der Verwandtschaft

Was ist das wesentliche Prinzip der Sprache? Es gibt keine bestimmte Eigenschaft, die allem Sprachlichen gemeinsam ist, sondern nur Verwandtschaft, Ähnlichkeit. Dies lässt sich am Beispiel des Spiels verdeutlichen. Es gibt die verschiedensten Arten von Spielen: Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele usw. Worin besteht der Grund, dass wir sie alle „Spiel“ nennen? Nicht alle sind unterhaltsam oder von Regeln begrenzt, nicht immer geht es um Gewinnen oder Verlieren, Geschick oder Glück. Manche Spiele spielt man zu mehreren, andere zu zweit oder allein. Nicht ein einziges Wesensmerkmal, sondern ein Netz aus sich kreuzenden Ähnlichkeiten macht das aus, was wir „Spiel“ nennen. Der Begriff ist ohne feste Grenzen. Obwohl wir nicht genau definieren können, was „Spiel“ ist, wissen wir es – ebenso wissen wir, wie eine Klarinette klingt, können es aber nicht beschreiben. Und in gleicher Weise schließlich lässt sich unsere Sprache als Gesamtheit unserer Sprachspiele nicht auf ein einziges fundamentales Wesensmerkmal reduzieren. Die Erscheinungen, die wir als Sprache bezeichnen, sind aber auf verschiedene Art miteinander verwandt.

Der alltägliche Sprachgebrauch

In der Philosophie wird der Gebrauch der Wörter oft mit dem Spielen nach festen Regeln verglichen. Unser tatsächlicher Sprachgebrauch weicht aber ständig von der Logik der idealen Sprache ab. „Ideal“ bedeutet hier nicht, dass sie besser wäre als die Umgangssprache, sondern dass sie deutlich umgrenzt, kristallklar und streng logisch ist. Doch dieses Ideal verstellt den Blick auf das Wesen der Sprache, die nicht eine formelle Einheit, sondern – wie das Spiel – eine Familie verwandter Gebilde ist. Die Philosophen versuchen Wörter wie „Wissen“, „Sein“, „Gegenstand“, „Ich“, „Satz“ usw. durch strenge Definitionen in ihrem Wesen zu erfassen, aber im Alltag werden die Begriffe nicht auf diese Weise verwendet. Anstatt die Sprache zu erklären, sollte es Aufgabe der Philosophen sein, sie in ihrem alltäglichen Gebrauch zu beschreiben.

„Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.“ (S. 78)

Am Beispiel des Wortes „lesen“ lässt sich zeigen, dass erst die Umstände, unter denen es gebraucht wird, seine Bedeutung festlegen. Das Wort „lesen“ – verstanden als die Tätigkeit, Gedrucktes oder Geschriebenes in Laute umzusetzen – ist in unserem alltäglichen Leben allgemein bekannt. Die Rolle aber, die es in unserem Sprachgebrauch spielt, lässt sich nicht eindeutig festlegen. Ab wann kann man sagen, dass jemand liest? Wenn er Silbe für Silbe entziffert? Wenn er die Augen über die Worte gleiten lässt und etwas auswendig Gelerntes dahersagt? Muss er etwas empfinden, muss er verstehen, was er liest – oder bloß wie eine Lesemaschine funktionieren und auf bestimmte Schriftzeichen reagieren? Das Lesen von Groß- oder Kleinbuchstaben, von Gedrucktem oder Morsezeichen ist nicht das Gleiche. Was also ist das Wesen von „lesen“? Wir gebrauchen das Wort für eine Vielzahl von Situationen und wenden daher von Fall zu Fall unterschiedliche Kriterien dafür an. Auf ähnliche Weise sind auch die Kriterien für Wörter wie „passen“, „können“, „verstehen“, „wissen“ oder „meinen“ sehr viel komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint.

Lernen geschieht durch Abrichten auf Regeln

Regeln sind wie Wegweiser. Aber Wegweiser können unterschiedlich gelesen werden: Ob wir die Straße benutzen oder querfeldein gehen, ob wir die Richtung wählen, in die die Hand zeigt, oder die entgegengesetzte, lässt der Wegweiser zunächst offen. Wir lernen ihn zu deuten, indem wir darauf abgerichtet werden. Die richtige Deutung des Zeichens beruht darauf, dass wir in der Praxis lernen, wie man ihm folgt. Entsprechend liegt der richtigen Deutung eines Wortes die Tatsache zugrunde, dass wir die Sprache, ihre Regeln und ihre Techniken gelernt haben.

„Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“ (S. 81)

Jemandem, der keinen Begriff von „Regel“ besitzt, würde man das Wort durch Beispiele und Übungen von Regelmäßigkeit beibringen. Man könnte ihm z. B. Reihenornamente vorführen, gleiche Figuren, gleiche Farben, gleiche Längen zeigen usw. Man macht etwas vor, der andere macht es nach und wird dabei gelobt, ermutigt oder korrigiert. Ein darüber hinausreichendes Verständnis, eine „tiefere“ Erklärung würde man nicht geben, denn man kennt sie selbst nicht. Regeln sind wie unendlich lange Gleise, denen wir folgen – blind und ohne Einsicht in ihre Ursachen. Sie müssen uns so selbstverständlich sein wie die Tatsache, dass wir eine Farbe „rot“ nennen. Wenn wir „rot“ hören, fällt uns ein bestimmtes Bild einer Farbe ein, wir fragen nicht, warum. Es gibt keine tiefere Erklärung dieser Bezeichnung, wir haben einfach in der Praxis gelernt, das Wort mit einem Bild zu verbinden und rote von nicht roten Dingen zu unterscheiden. Weil wir Deutsch gelernt haben, erkennen wir, dass eine bestimmte Farbe Rot ist.

Eine Privatsprache für Empfindungen ist sinnlos

Ein Kleinkind, das Schmerz fühlt, schreit. Erst später lernt es von den Erwachsenen den Begriff „Schmerz“ für seine Empfindung zu verwenden. Man sagt, dass jeder nur durch die eigene Erfahrung eine Vorstellung davon hat, was Schmerzen überhaupt sind. Folglich kann er nur vermuten, was Schmerz für andere bedeutet. Die Beschreibung von Empfindungen und Bewusstseinszuständen funktioniert, anders als jene eines Zimmers oder eines Dings, nicht nach dem einfachen Muster „Gegenstand – Bezeichnung“. Ausdrücke der Empfindung werden nicht verwendet, um einen Seelenzustand genau abzubilden, sondern sie dienen in verschiedenen Sprachspielen unterschiedlichen Zwecken. So wird das Schreien des Kindes vom Begriff „Schmerz“, den dieses für seine Empfindung zu verwenden lernt, nicht beschrieben, sondern ersetzt. Das heißt, durch die Worte und erklärenden Hinweise der Erwachsenen lernt das Kind ein neues Schmerzbenehmen.

Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“ (S. 82)

Nun könnte man sich vorstellen, jemand erfindet für seine eigenen Gefühle private Wörter, indem er etwa eine bestimmte Empfindung als „E“ bezeichnet und immer ein „E“ in sein Tagebuch einträgt, wenn sich diese Empfindung bei ihm einstellt. Eine solche Privatsprache ist sinnlos, denn es fehlen eine unabhängige, öffentliche Instanz und verlässliche Kriterien für die Überprüfung, ob der Ausdruck richtig gebraucht wird – d. h. genau so, wie der Erfinder sich vorgenommen hat, ihn zu gebrauchen. Über die richtige oder falsche Verwendung eines Wortes kann nur in einer Sprache entschieden werden, die mehrere Personen verstehen.

Die Bedeutung der Wörter liegt in ihrem Gebrauch

Wenn wir in der Sprache denken, dann trennen wir nicht zwischen Ausdrucksmittel und Bedeutung. Die Sprache selbst ist das Mittel, das Vehikel unseres Denkens. Denken ist nicht ein Vorgang, den man von der Sprache loslösen kann.

„Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“ (S. 83)

Sätze haben keinen verborgenen Sinn, den es zu entschlüsseln gilt. Alles liegt offen zutage. Ein Grundfehler des Philosophierens besteht darin, dass man glaubt, das verborgene Wesen flüchtiger Erscheinungen beschreiben zu müssen. Aber in der alltäglichen Sprache gibt es keine tiefere Ursache oder Erklärung, die sich hinter der Erscheinung versteckt. Die Grammatik erklärt nicht den Gebrauch sprachlicher Zeichen, sie beschreibt diesen nur. Ihr Zweck ist die sprachliche Verständigung, der Zweck der Sprache ist es, Gedanken auszudrücken. Wenn man jemandem einen Befehl gibt, z. B.: „Bring mir Zucker!“, dann reicht es, dass die Zeichen und Wörter ihren Zweck erfüllen und verstanden werden. Niemand wird einwenden, das seien ja nur Wörter, hinter denen noch etwas Tieferes liegen müsse, das einer Erklärung bedürfe.

„Wir sind, wenn wir philosophieren, wie Wilde, primitive Menschen, die die Ausdrucksweise zivilisierter Menschen hören, sie missdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung ziehen.“ (S. 130)

Ohne einen Kontext, in dem sie gedeutet werden können, sind Zeichen tot. Nur durch den Gebrauch werden sie zum Leben erweckt. Das Zeichen des Pfeils etwa trägt in sich noch keine Bedeutung. Es sind tote Striche, die erst in der praktischen Anwendung durch ein Lebewesen einen Sinn bekommen. Ebenso sind Wörter zufällig und auf Vereinbarungen beruhend. Der Satz „Das Wetter ist schön“ beispielsweise ist eine Aneinanderreihung von willkürlichen Zeichen. Man könnte an ihre Stelle auch „a b c d“ setzen, aber dann könnten wir keine Aussage im Sinne von „das Wetter ist schön“ damit verbinden. Wir sind es nicht gewohnt, „a“ anstelle von „das“ zu gebrauchen; wir beherrschen eine solche Sprache nicht, und deshalb sagt sie uns nichts. Ebenso sind wir es nicht gewohnt, Temperatur in Fahrenheit zu messen, deswegen können wir nichts damit anfangen.

Philosophie als das Beschreiben von Tatsachen

Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Psychologie drehe sich um Vorgänge in der psychischen Sphäre, so wie die Physik von physischen Vorgängen handelt. Die Physik sieht die Erscheinungen, die sie untersucht, z. B. elektrische Phänomene. Die Psychologie dagegen kann nur Äußerungen eines Subjekts beobachten. Innere Vorgänge – wie hoffen, erwarten oder Ansichten haben – bedürfen äußerer Kriterien. Wenn jemand sagt: „Ich hoffe, er wird kommen“, kann das sowohl ein Bericht seines Gemütszustandes als auch eine Äußerung von Hoffnung sein, insbesondere wenn er dabei seufzt. Entscheidend ist der Kontext, in dem der Satz ausgesprochen wird.

„Einen Satz verstehen heißt eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen heißt eine Technik beherrschen.“ (S. 133)

Wenn wir philosophieren, denken wir uns die verschiedensten Situationen und Gespräche aus, in denen ein Satz ausgesprochen wird. Es ist ein grundlegender Fehler der Philosophie, nach Erklärungen zu suchen, wo die Tatsachen selbst als „Urphänomene“ betrachtet werden sollten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Philosophischen Untersuchungen stellen weniger einen geschlossenen Text als vielmehr eine Sammlung von aphoristischen, pointierten Sätzen und kurzen Abschnitten dar. In insgesamt 693 Paragrafen unterschiedlicher Länge – viele davon sehr kurz – widmet sich Wittgenstein diversen erkenntnis- und sprachphilosophischen Fragen, ohne dabei einem streng logischen Aufbau zu folgen. Manche Abschnitte bilden thematisch einen eigenen Block, dann wieder springt der Autor übergangslos von einem Thema zum anderen. Ein Großteil der Philosophischen Untersuchungen ist in Dialogform geschrieben, was auf den ersten Blick nicht unbedingt zu erkennen ist. Denn oft fehlen die Anführungszeichen, wodurch die Identifizierung des Sprechers erschwert wird. Da Wittgenstein im Text immer wieder ein imaginäres Du anspricht, entsteht der Eindruck, er wende sich direkt an den Leser. In Wirklichkeit aber ist sein Gesprächspartner wohl er selbst, ein Alter Ego, dem er seine früheren, im Tractatus logico-philosophicus vertretenen Positionen oder andere Aussagen in den Mund legt. Wittgenstein veranschaulicht seine theoretischen Reflexionen mit einfachen Beispielen aus dem Alltag, die im Kontrast zu seiner logisch-mathematischen Argumentationsweise stehen. Diese manchmal fast skurrilen Szenen verleihen dem Text auch eine literarische Qualität.

Interpretationsansätze

  • Wittgensteins Philosophie gründet auf der Überzeugung, dass alle Fragen des Denkens durch eine Analyse der Sprache geklärt werden können. Viele philosophische Probleme sind für ihn „Scheinprobleme“, die auf sprachlicher Verwirrung oder Missverständnissen beruhen und sich durch gründliche Sprachkritik beseitigen lassen.
  • Wittgenstein geht auf Distanz zu seinem Frühwerk, dem Tractatus logico-philosophicus, und vollzieht eine Abkehr von der Vorstellung, die Sprache sei ein Abbild der Welt. Während er im Tractatus noch von einer logisch konstruierten Idealsprache ausgeht, wendet er sich im Spätwerk der „normalen“, alltäglichen Umgangssprache zu. Er interessiert sich nicht für die abstrakte Sprache, sondern für das Sprechen als Tätigkeit. Wittgensteins Spätphilosophie erscheint dadurch pragmatisch, sie steht mitten im Leben.
  • Die enge Verknüpfung von Sprache, Handeln und den äußeren Umständen, unter denen jemand etwas sagt, ist typisch für den späten Wittgenstein. Er prägt die Begriffe des „Sprachspiels“ und der „Lebensform“, welche die Gesamtheit von Normen und kulturellen Praktiken bezeichnet, die von einer Gemeinschaft akzeptiert sind.
  • Im Spätwerk sind die Erfahrungen mit dem Lernen, die Wittgenstein durch seine jahrelange Tätigkeit als Dorflehrer sammelte, deutlich zu spüren. Das Wort „Abrichtung“, das er für die Erlernung von Sprachregeln verwendet, hat zu manchem Missverständnis über seine Erziehungsmethoden geführt. Dabei soll der Begriff lediglich verdeutlichen, dass das Erlernen einer Tätigkeit – wie z. B. auch das Spielen eines Musikinstruments – zunächst der sturen Einübung bedarf. Nach tieferen Ursachen zu fragen, ist sinnlos.
  • Es gibt für Wittgenstein nur die Tatsachen. Dahinter steht nichts: keine Metaphysik, kein Weltgeist, keine göttliche Kraft. Wittgenstein will keine komplexen Theorien konstruieren oder Spekulationen anstellen, sondern sich einen Überblick verschaffen und seine Gedanken ordnen. Dazu stellt er Fragen, ohne immer gleich endgültige Antworten zu liefern. Stattdessen fordert er den Leser ausdrücklich auf, selbst zu denken.

Historischer Hintergrund

Philosophieren in unruhigen Zeiten

In den 20er und 30er Jahren kamen im so genannten Wiener Kreis Philosophen, Mathematiker und Naturwissenschaftler zu regelmäßigen Treffen zusammen, darunter neben dem Gründer Moritz Schlick der Philosoph Rudolph Carnap und der Mathematiker Kurt Gödel. Die Mitglieder des Zirkels fühlten sich dem logischen Positivismus verbunden, der jede Wissenschaft auf empirische, also durch Beobachtung verifizierbare Aussagen zurückführt. In ihrer strikt antimetaphysischen Haltung beriefen sich die Mitglieder des Wiener Kreises auch auf Wittgensteins Frühwerk Tractatus logico-philosophicus. Schon Mitte der 20er Jahre versuchten einige von ihnen, Kontakt zu Wittgenstein aufzunehmen, allerdings ohne Erfolg. Über seine Schwester, an deren Hausbau er als Architekt mitwirkte, lernte Wittgenstein 1928 Carnap und ein paar andere Mitglieder des Zirkels kennen. Die Auseinandersetzung mit den Ideen des Wiener Kreises, mit denen er sich allerdings nicht identifizierte, führte dazu, dass er sich wieder der Philosophie zuwandte. Mit der Emigration vieler Mitglieder des Kreises nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 und der Ermordung Moritz Schlicks durch einen Studenten drei Jahre später fanden die regelmäßigen Treffen schließlich ein Ende. Auch Wittgenstein, der schon 1929 nach England zurückgekehrt war, drohte nach der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich als Jude unmittelbare Gefahr. Da er sich trotz der politischen Entwicklung in seiner Heimat weiterhin dem deutschen Kulturkreis eng verwandt fühlte, entschied er sich erst nach einigem Zögern, die britische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Der Zweite Weltkrieg bedeutete einen tiefen Einschnitt für seine philosophische Arbeit. Gleich nach Kriegsbeginn meldete er sich freiwillig zu Hilfsdiensten und entwickelte verschiedene medizinische Apparaturen. Seine philosophischen Studien setzte er erst nach dem Krieg fort, wobei er nun nicht mehr die Mathematik, sondern vielmehr die Wahrnehmungspsychologie in den Vordergrund stellte.

Entstehung

Im Jahr 1929 nach Cambridge zurückgekehrt, plante Wittgenstein ein neues größeres Werk. Darin beabsichtigte er, die Grundzüge seiner Philosophie, wie er sie rund zehn Jahre zuvor in seinem berühmten Tractatus logico-philosophicus dargelegt hatte, zu korrigieren. Im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen bekannte er, diese enthielten Beobachtungen, die ihn in den letzten 16 Jahren beschäftigt hätten. Mit der lockeren, eher skizzenhaften Form seines Buches war der Autor, der sich ein einheitlicheres Ganzes gewünscht hatte, unzufrieden. Er habe, so heißt es weiter im Vorwort, den Plan einer Veröffentlichung seiner Gedanken schon aufgegeben, sich aber schließlich doch dafür entschieden, hauptsächlich weil er sich in seinen Vorlesungen und in Diskussionen missverstanden fühle.

Für die Philosophischen Untersuchungen suchte Wittgenstein die zur Veröffentlichung bestimmten Bemerkungen aus seinen umfangreichen Manuskriptbänden aus, überarbeitete und ordnete sie immer wieder neu. Nachdem 1936 seine befristete Stelle als Dozent am Trinity College in Cambridge ausgelaufen war, reiste er nach Norwegen, um in der dortigen Abgeschiedenheit an seinem Werk weiterzuarbeiten. Während des Zweiten Weltkriegs kehrte er – inzwischen zum Professor in Cambridge ernannt – abermals in die norwegische Einöde zurück, ehe er Ende 1944 seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm. 1947 gab er sein Amt auf, da es sich nicht mit dem Schreiben vereinbaren ließ, und zog sich für ein Jahr nach Irland zurück, um erneut in Ruhe und Einsamkeit zu schreiben. Bis kurz vor seinem Tod nahm er noch Änderungen an dem Typoskript vor, das 1953 posthum gleichzeitig auf Deutsch und auf Englisch erschien.

Wirkungsgeschichte

Schon bald nach ihrem Erscheinen galten Wittgensteins Philosophische Untersuchungen als Klassiker. Obgleich ihr Verfasser in äußerster Zurückgezogenheit gelebt hatte, bescheinigte ihm eine jüngere Generation von Philosophen, mit seinem Spätwerk den Zeitgeist getroffen zu haben. In den späten 50er und den 60er Jahren wurde das Werk in den Rang eines Kultbuchs und Gründungsmanifests der „ordinary language philosophy“ erhoben, einer zu jener Zeit vor allem in England vorherrschenden Richtung der analytischen Philosophie. Insbesondere die Professoren Gilbert Ryle, John L. Austin und John R. Searle, prominente Vertreter der so genannten Sprechakttheorie, beriefen sich auf Wittgensteins Spätphilosophie.

In Deutschland fielen die Reaktionen auf die Philosophischen Untersuchungen in Fachkreisen etwas verhaltener aus. Hier waren es zunächst vor allem Künstler und Literaten, etwa Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard, die maßgeblich zur Popularisierung des Buches beitrugen. Heute zählt Wittgensteins spätes Hauptwerk weltweit zu den Standardwerken der Philosophie und der Sprachwissenschaft, die er maßgeblich beeinflusst hat.

Über den Autor

Ludwig Wittgenstein wird am 26. April 1889 in Wien als jüngstes von acht Geschwistern in eine jüdische, völlig assimilierte Familie geboren. Seine Eltern, ein erfolgreicher Stahlunternehmer und eine Pianistin, sind sehr vermögend. 1906 beginnt der schon früh an Technik, Mathematik und Logik interessierte Wittgenstein ein ingenieurwissenschaftliches Studium in Berlin. 1908 geht er nach Manchester, wo er u. a. an der Entwicklung eines Flugzeugmotors arbeitet. Auf Anregung des Logikers Gottlob Frege wechselt er 1911 zum Fach Philosophie und nach Cambridge zu Bertrand Russell, dessen Freund er wird. Nach dem Tod des Vaters 1913 stiftet er einen großen Teil seines Millionenerbes an mittellose Künstler, darunter Rainer Maria Rilke. Um sich in Einsamkeit seinen Studien zu widmen, zieht Wittgenstein nach Norwegen, meldet sich aber bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs freiwillig als Soldat. 1919 kehrt er aus der Kriegsgefangenschaft in Italien nach Wien zurück. Der Tod seines Freundes und Geliebten David Pinsent stürzt ihn in eine tiefe Krise. Wittgenstein quälen Selbstmordgedanken, von denen er sich durch die Arbeit am Tractatus logico-philosophicus befreit. Abgesehen vom Tractatus, der 1921 erscheint, und zwei kleineren Aufsätzen werden sämtliche seiner Schriften erst nach seinem Tod veröffentlicht. Ab 1922 arbeitet Wittgenstein, der den Rest seines Erbes seinen Geschwistern geschenkt hat, als Dorfschullehrer in der österreichischen Provinz. Doch der Lehrerberuf zermürbt ihn. Zeitweise arbeitet er als Gärtnergehilfe und Architekt, ehe er sich 1929 wieder in Cambridge niederlässt, wo man seinen Tractatus als Dissertation anerkennt. 1939 wird Wittgenstein englischer Staatsbürger, im selben Jahr wird er zum Professor berufen. Mit seiner geniehaften Erscheinung beeindruckt er die Zeitgenossen. Während des Zweiten Weltkriegs unterbricht Wittgenstein die Lehrtätigkeit, um Hilfsdienste in einem Krankenhaus zu leisten. Er stirbt am 29. April 1951 an Krebs.

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