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Psychologische Typen

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Psychologische Typen

Patmos,

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What's inside?

„Du extravertierter Leichtmatrose!“ – „Du introvertierter Dickschädel!“ – gebildeter streiten mit C. G. Jung.


Literatur­klassiker

  • Psychologie
  • Moderne

Worum es geht

Zweierlei Wahrheit

1921, sechs Jahre bevor der Physiker Werner Heisenberg eine Grenze des Messbaren aufzeigte und zehn Jahre bevor Kurt Gödel eine Grenze des Beweisbaren postulierte, erschien das Buch Psychologische Typen des Schweizer Psychiaters C. G. Jung. Auch Jung wies auf eine Grenze hin: auf die Unfähigkeit der Menschen, sich über psychologische Unterschiede hinweg im tieferen Sinne zu verstehen. Das Thema lag wohl in der Luft; Jung war nicht der Einzige, der an einer solchen Typologie arbeitete. Einem Freund, mit dem er Ideen dazu austauschte, schrieb er von „zweierlei Wahrheit“. Gemeint war der kategoriale Gegensatz des extravertierten und des introvertierten Typus. Zwischen diesen, meinte Jung, liege ein Abgrund, der zwar nicht überbrückt, dessen Existenz aber doch berücksichtigt werden könne, um zu einem indirekten Verständnis des jeweils anderen zu gelangen – oder doch immerhin zur Anerkennung seiner Ebenbürtigkeit.

Take-aways

  • Mit der Abhandlung Psychologische Typen etablierte sich Carl Gustav Jung als eigenständiger psychologischer Denker und Freud-Gegner.
  • Inhalt: Zwischen dem extravertierten und dem introvertierten Menschentyp besteht ein kategorialer Gegensatz, was die Einstellung zu sich selbst und zur Welt betrifft. Mit den vier psychologischen Grundfunktionen Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren und den entsprechenden Typen kommt eine weitere Unterteilung hinzu.
  • Psychologische Typen ist eine facettenreiche Materialsammlung, die das Typenproblem aus vielerlei Perspektiven betrachtet.
  • Die Begriffe „extravertiert“ und „introvertiert“ sind Teil unserer Alltagssprache geworden.
  • Eines der Ziele Jungs war, die einseitig extravertierte Einstellung der Moderne auszubalancieren.
  • Jung selbst war introvertiert, was sich in seiner enormen Empfänglichkeit für die Macht des eigenen Unbewussten zeigte.
  • Zwischen 1913 und 1917 zog sich Jung vom akademischen Leben zurück und gab sich ganz der Erforschung seiner inneren Bildwelten hin.
  • Mit dem Typengegensatz lässt sich auch das Zerwürfnis zwischen Jung (introvertiert) und seinem Mentor Sigmund Freud (extravertiert) erklären.
  • Von der Vereinnahmung seiner Ideen durch die Nazis distanzierte sich Jung erst mit einiger Verspätung.
  • Zitat: „Die Typen ergänzen sich gegenseitig, und ihre Verschiedenheit ergibt gerade jenes Maß an Spannung, dessen das Individuum sowohl wie die Sozietät zur Erhaltung des Lebens bedarf.“

Zusammenfassung

Die zwei Einstellungstypen

Aus psychologischer Perspektive lassen sich Menschen grundsätzlich in zwei Gruppen einteilen: solche mit extravertierter und solche mit introvertierter Einstellung. Diese Unterscheidung bezieht sich auf die wesentliche Ausrichtung des Individuums zur Welt und zu sich selbst, aus der alle weiteren Eigenarten, alle Sichtweisen, Neigungen, Vorlieben, Haltungen, Meinungen usw. erst folgen. Die Begriffe „Extraversion“ und „Introversion“ bedeuten, grob gesagt, eine Nach-außen-Wendung bzw. Nach-innen-Wendung. Was dabei gewendet oder gerichtet wird, ist die Libido, die psychische Energie, die als Interesse, Wille oder auch Bewertung auftreten kann. Hat ein Mensch also eine vorwiegend extravertierte Einstellung, so wird seine Libido nach außen gerichtet und fließt der Objektwelt zu; hat er eine vorwiegend introvertierte Einstellung, wird die Libido von der Objektwelt abgezogen und kommt dem Subjekt zugute. In jenem Fall lebt das Individuum stärker äußerlich, in diesem stärker innerlich. Man kann verallgemeinernd vom extra- bzw. introvertierten Typus sprechen.

Die vier Funktionen des Psychischen

Neben den beiden Einstellungstypen gibt es vier psychische Grundfunktionen: Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren. Sie sind die Erscheinungsformen der Libido; man könnte auch von Tätigkeiten der Psyche sprechen, von der Art und Weise, wie der Mensch Sinnesempfindungen oder psychische Inhalte in seinem Bewusstsein verarbeitet. Vermutlich ist der Ursprung des vierfachen Weltzugangs physiologisch. Die Welt selbst, also die Summe dessen, was unserer Erfahrung gegeben ist, lässt sich eben nach der Art und Weise, wie sie uns gegeben ist, unter vier Aspekte fassen: Die Funktion des Denkens ist eine biologische Anpassung an den logischen Aspekt der Welt, also an die Tatsache, dass die Welt in gewissen Erscheinungsformen (Kausalität, Raum, Zeit) logisch organisiert ist. Der Intuition entspricht die Welt, nach ihren Möglichkeiten befragt, dem Empfinden die sinnlich gegebene Welt, dem Fühlen die Welt im Spiegel der eigenen Lust oder Unlust. Im einzelnen Menschen ist fast immer eine der Funktionen vorherrschend, d. h., das Ich identifiziert sich in besonders hohem Maß mit ihr; es versteht sich etwa als wesentlich intuitiv oder empfindend. Die vorherrschende Funktion ist dann stärker differenziert, während die restlichen Funktionen vernachlässigt werden, was bis zu deren Verkümmerung gehen kann. Solche Schattenfunktionen sinken im Lauf des Lebens unter die Schwelle des Bewusstseins – ins Unbewusste.

Die Funktionstypen

Durch die Kombination der zwei Einstellungstypen mit den vier psychischen Funktionen ergeben sich acht Funktionstypen. Diese Einteilung ist verallgemeinernd, eben typisierend, vermag jedoch die in der psychiatrischen Praxis anzutreffenden konkreten Fälle durchaus sinnvoll zu erfassen. Allerdings sind die Typen wie auch die Einstellungen dynamisch zu denken: Die Bevorzugung einer der vier Funktionen kann zunächst geringfügig sein, sich im Lauf des Lebens aber zur Gewohnheit oder sogar zur krankhaften Einseitigkeit entwickeln. Die minderwertigen Funktionen können ihrerseits irgendwann einen höheren Wert und damit eine stärkere Differenzierung erhalten. Und schließlich kann ein Typus u. U. gänzlich in sein Gegenteil umschlagen. Dies geschieht, wenn die Verdrängung der minderwertigen Funktionen allzu gewalttätig abläuft. Die derart aus der Sphäre des Bewusstseins ausgeschlossenen Funktionen drängen nämlich zurück und fordern ihr Recht ein. Oft bringen sie sich in Form von Träumen, Bildern oder Stimmungen zu Bewusstsein oder mischen sich als mitbestimmende, oft widersinnige Tendenz in das Wirken der differenzierten Funktion ein. Im Extremfall äußern sich die vernachlässigten Funktionen in Form von Neurosen, Verhaltensstörungen oder sogar Geisteskrankheit.

Die extravertierten Funktionstypen

Ein Mensch des extravertierten Denktypus, bei dem das Denken die differenzierte Funktion ist, erfährt die Welt vorwiegend von ihrer rationalen, logischen Seite. Seiner extravertierten Einstellung zufolge neigt dieser Mensch dazu, sich in seinem Denken von der Objektwelt bestimmen zu lassen, er ordnet intellektuell die subjektiven Ansprüche seines Selbst den objektiven Ansprüchen etwa eines Gesprächspartners oder gesellschaftlicher Normen unter. Im guten Fall ist er sozial erfolgreich, verantwortungsbewusst und vernünftig; im schlechten Fall ist er ein überangepasster, vernünftelnder Moralapostel, der nicht nur sich, sondern auch seine Mitmenschen unter das Joch der „objektiven Tatsächlichkeit“ zwingt.

„Wenn wir einen menschlichen Lebenslauf betrachten, so sehen wir, wie die Schicksale des einen mehr bedingt sind durch die Objekte seiner Interessen, während die Schicksale eines anderen mehr durch sein eigenes Inneres, durch sein Subjekt bedingt sind.“ (S. 1)

Der extravertierte Fühltypus richtet sein Fühlen nach objektiven Normen aus; er fühlt, was man eben in dieser oder jener Situation zu fühlen hat, bewertet seine eigene Lust oder Unlust nach äußeren Kriterien. In Gesellschaft stiften solche Menschen Harmonie und Gemeinschaftsgefühl. Durch ihr völliges Aufgehen im objektiven Standpunkt opfern sie aber ihre Subjektivität, was Außenstehende oft als Kälte oder Seelenlosigkeit empfinden.

„Jeder Mensch aber besitzt beide Mechanismen, den der Extraversion sowohl wie den der Introversion, und nur das relative Überwiegen des einen oder des anderen macht den Typus aus.“ (S. 2)

Denken und Fühlen sind ihrem Wesen nach rational, da sie sich an Zusammenhängen orientieren, die für die Vernunft nachvollziehbar sind. Ihr Maß ist das Urteil. Dagegen gehören Empfindung und Intuition zu den irrationalen Funktionen. Sie gründen auf Sinnesempfindungen, die, als gegebene psychische Tatsachen, eine gleichsam vor-logische Wirklichkeit darstellen. Die irrationalen Funktionen sind ursprünglicher als die rationalen, die sich stammesgeschichtlich aus ihnen entwickelt haben und sich im Individuum jeweils von Neuem aus ihnen entwickeln. Daher sind rationale und irrationale Funktionen durchaus miteinander vereinbar; als sekundäre Funktion kann etwa die Intuition das Wirken der primären, differenzierten Fühlfunktion unterstützen. Untereinander jedoch stehen die Funktionen in schärfstem Gegensatz: Im Individuum wird sich entweder das Denken oder das Fühlen als differenzierte Funktion durchsetzen, entweder das Empfinden oder das Intuieren. Da das Unbewusste auf Ausgleich drängt, wird es dann der jeweils unterlegenen Funktion Geltung zu verschaffen suchen.

„Ganz allgemein könnte man den introvertierten Standpunkt als denjenigen bezeichnen, der unter allen Umständen das Ich und den subjektiven psychologischen Vorgang dem Objekt und dem objektiven Vorgang überzuordnen oder doch wenigstens dem Objekt gegenüber zu behaupten sucht.“ (S. 3)

Im Fall des extravertierten Empfindungstypus, der konkret als sinnenfreudiger Genussmensch erscheint, als oberflächlicher Ästhet, dem die unmittelbare Empfindung alles bedeutet, ist es die Intuition, die am lautesten auf Mitbestimmung drängt. Der extravertiert-intuitive Typus hingegen, verkörpert etwa im stets nach Möglichkeiten suchenden, oft rücksichtslosen Politiker oder Geschäftsmann, ist durch unterdrückte Sinnlichkeit gekennzeichnet.

Die introvertierten Funktionstypen

Dem introvertierten Denktypus bedeutet sein Ich alles, die Welt der Tatsachen nichts. Sein Denken entzieht dem Objekt Libido, beraubt es durch Abstraktion seiner konkreten und zufälligen Einzigartigkeit und damit letztlich seines Wertes. Was zählt, ist das Allgemeine, die Idee. Insofern erscheint ihm das Objekt als eigentlich belangloses Beispiel für seine Theorien. Andere Menschen erleben diesen Typus als wortkarg, verschlossen, sozial unbeholfen und stur und fühlen sich von ihm abgelehnt. Er ist ein schlechter Lehrer und lässt sich leicht von seinem Ehepartner manipulieren, da er weder das Interesse noch das Auge für die äußeren Umstände seines Lebens hat. Zu diesem Typus kann z. B. der Philosoph Immanuel Kant gerechnet werden.

„Als Grundfunktionen, d. h. als Funktionen, die sich sowohl genuin wie auch essenziell von anderen Funktionen unterscheiden, ergaben sich meiner Erfahrung das ,Denken‘, das ,Fühlen‘, das ,Empfinden‘ und das ,Intuieren‘.“ (S. 5)

In noch höherem Maß als der introvertierte Denktypus ist der introvertierte Fühltypus seinen Mitmenschen ein Geheimnis. Auch bei ihm folgt die Libido dem Gefälle vom Objekt zum Subjekt. Äußere Tatsachen werden von ihm gefühlsmäßig entwertet; das Subjekt befindet sich in Verteidigungshaltung gegenüber der als bedrohlich empfundenen Objektwelt. Im Extremfall entwickelt dieser Typus paranoide Vorstellungen.

„Die Psychologie muss sich mit der Existenz dieser zwei (oder mehrerer) Typen abfinden, und es jedenfalls unter allen Umständen vermeiden, den einen als ein Missverständnis des anderen aufzufassen (...)“ (S. 41)

Insgesamt sind die introvertierten Funktionstypen heutzutage „unmodern“. Die sozialen Anforderungen einer wissenschaftlich und objektiv ausgerichteten Gesellschaft bevorzugen klar die extravertierte Einstellung. Noch stärker als für den introvertierten Denk- und Fühltypus gilt daher für die entsprechenden irrationalen Typen des Empfindens und Intuierens, dass sie im Licht des modernen Objektivitätsglaubens gleichsam nutzlos erscheinen, wie aus der Zeit gefallen. Sie leben ganz in der eigenen Subjektivität, sind von außen nicht zu deuten.

„Die Typen ergänzen sich gegenseitig, und ihre Verschiedenheit ergibt gerade jenes Maß an Spannung, dessen das Individuum sowohl wie die Sozietät zur Erhaltung des Lebens bedarf.“ (S. 167)

Zwar teilt der introvertiert empfindende Typus die Sinneseindrücke des extravertiert empfindenden, doch ist es ihm allein um deren subjektiven Anteil zu tun. Seiner Wahrnehmung mischen sich mythologische Deutungen und Bilder bei, die ihm aus dem kollektiven Unbewussten aufsteigen. Der introvertierte Intuitionstypus lebt noch stärker inmitten dieser Bilder. Er verkörpert sich im Künstler, Fantasten, Propheten oder Seher.

Das vereinigende Symbol

Die bevorzugte Entwicklung einzelner Funktionen bringt stets die gewaltsame Verdrängung anderer Funktionen ins Unbewusste mit sich. Die menschliche Psyche strebt aber nach Ganzheit. Die Unterschiede zwischen den gegensätzlichen Einstellungen und Funktionen sind jedoch kategorialer Art und können daher nicht auf gleicher Ebene verhandelt oder gar ausgeglichen werden. Erst ein höheres Drittes vermag die Widersprüche aufzuheben. Diese vereinigende Qualität kommt dem lebendigen Symbol zu, einem archetypischen Bild, das aus den tiefsten Tiefen des Unbewussten stammt und damit gleichsam aus psychischer Urmaterie besteht. Ein solches Symbol wird geweckt, indem eine verdrängte Funktion ins Unbewusste hinabsinkt und dort weiterwirkt. Es steigt dann als Bild ins Bewusstsein oder bietet sich ihm in äußerlichen Umständen, Ereignissen oder Konstellationen zur Deutung dar. In diesem Prozess ist auch der Wesenskern des Religiösen zu finden. Ein Beispiel ist Jesus Christus, der Gott und Mensch zugleich ist und somit am Ewigen sowohl wie am Zeitlichen teilhat. Oder das chinesische Konzept des Tao, des mittleren Wegs, der die Gegensätze des Yin und Yang aufhebt.

Der Typengegensatz in der Geistesgeschichte

Das Gegensatzpaar introvertiert und extravertiert ist keine moderne Erfindung, sondern hat im Lauf der Geschichte schon manchen Denker beschäftigt. Es zeigt sich in den philosophischen Konflikten der Antike und des Mittelalters, z. B. im so genannten Universalienstreit, in dem sich zwei Lager gegenüberstanden: die (introvertierten) Realisten, denen zufolge die Ideen und Begriffe, als abstrakte „Blaupausen“ der sinnlich erfahrbaren Einzeldinge, größere Wirklichkeit besaßen als die Dinge selbst; auf der anderen Seite die (extravertierten) Nominalisten, die sagten: „Alles nur Worte, allein die konkreten Dinge sind wirklich!“ Ein anderes Beispiel ist Nietzsches Unterscheidung der (introvertierten) apollinischen von der (extravertierten) dionysischen Natur der alten Griechen, schließlich vereint in der attischen Tragödie. Friedrich Schiller vermutete eine ähnliche Aufhebung der Gegensätze (er nannte sie „Formtrieb“ vs. „sinnlicher Trieb“) im „ästhetischen Zustand“, d. h. im Zustand der Betrachtung von Schönheit.

„Der Introvertierte macht immer den Fehler, das Handeln aus der subjektiven Psychologie des Extravertierten ableiten zu wollen, der Extravertierte aber kann das geistige Innenleben immer nur als eine Folge äußerer Umstände begreifen.“ (S. 172)

An Schillers Beispiel zeigt sich allerdings auch ein prinzipielles Problem: In jede Betrachtung über das Typenproblem spielt die jeweils eigene Einstellung mit hinein und verfälscht das Ergebnis der Betrachtung. Schiller etwa weist Züge des introvertierten Denktypus auf; entsprechend überschätzte er die Rolle der Vernunft bei der Vereinigung der Gegensätze, die doch nicht ohne Beteiligung der irrationalen, unbewussten Anteile der Psyche stattfinden kann.

Konsequenzen

Besonders im Bereich der Philosophie und der Psychologie müssen Konflikte und Widersprüche im Licht der Typenproblematik bewertet werden, zumal die Unvereinbarkeit von Theorien und damit einhergehend die wissenschaftliche Parteibildung zum großen Teil auf das Konto unterschiedlicher Einstellungen gehen. Es liegt ja in der Natur der Sache, dass etwa ein Vertreter des extravertierten Einstellungstypus mit der abstrakten, unrealistischen Gedankenwelt seines introvertierten Gegenparts nicht warm wird, während dieser verächtlich auf die oberflächliche, willkürliche „Tatsachensklaverei“ seines Gegenübers herabschaut. Es gibt auch keinen neutralen Standpunkt, von dem aus sich die Überlegenheit der einen über die andere Einstellung beweisen ließe. Sie sind daher schlechthin als ganz und gar gleichberechtigt zu betrachten.

„Wenn einer so denkt, fühlt und handelt, mit einem Wort, so lebt, wie es den objektiven Verhältnissen und ihren Anforderungen unmittelbar entspricht, im guten wie im schlechten Sinn, so ist er extravertiert.“ (S. 357)

Fatal ist auch das Festhalten am politisch-ideologischen Dogma der Gleichheit aller Menschen im Unterschied zur Gleichberechtigung. Es führt notwendig zur Tyrannei, da es die grundsätzliche Verschiedenheit der Einstellungs- und Funktionstypen ignoriert.

Zum Text

Aufbau und Stil

Psychologische Typen ist im Grunde eine Materialsammlung. Der verbindende Aspekt der verschiedenen Texte ist das „Typenproblem“. Dieses bettet Jung in unterschiedlichste Kontexte ein: Er betrachtet das Typenproblem in der Dichtkunst, in der antiken und mittelalterlichen Geistesgeschichte, in der modernen Philosophie sowie in Bezug auf weitere Aspekte. Der schiere Umfang dieser überaus detailreich und gründlich ausgearbeiteten Seitenstücke stellt das zentrale Kapitel „Allgemeine Beschreibung der Typen“ etwas in den Schatten, zumal dieses im hinteren Drittel des Buches platziert ist. Es ist darum ratsam, hier den Einstieg zu suchen – oder sich sogar zunächst den noch weiter hinten liegenden Abschnitt „Definitionen“ vorzunehmen –, um sich die Grundvoraussetzungen für das Verständnis der übrigen Texte anzueignen. Diese Nichtlinearität ist typisch für die Denk- und Schreibweise C. G. Jungs. Mehrmals nähert er sich seinem Gegenstand aufs Neue, jedes Mal aus einer anderen Richtung. Gleiches gilt für die einzelnen Begriffe, auf denen das Jung’sche Gedankengebäude ruht: Nie bleibt Jung bei einer einmal gefundenen Formulierung stehen, stets entwickelt er die Begriffe im jeweiligen Kontext neu. Das gibt dem Ganzen einen enormen Facettenreichtum, fordert aber auch höchste gedankliche Flexibilität vonseiten des Lesers. Dieser muss bereit sein, dem Autor aus den Niederungen der psychiatrischen Praxis in den Elfenbeinturm der Philosophie, aus der archivarischen Trockenheit philologischer Untersuchung in die transzendenten Welten des Religiösen zu folgen. Ein verlässliches Geländer in diesem Treppenlabyrinth ist Jungs überaus genauer, dabei sehr zurückgenommener und wunderbar natürlicher Schreibstil.

Interpretationsansätze

  • Die Jung’sche Typentheorie hat eine biografische Wurzel; der Typendualismus beschäftigte Jung schon als Kind. Intensive religiöse Erlebnisse brachten ihn dazu, sich selbst als zweifach zu begreifen. Die konkrete, nach außen gewandte, gesellschaftlich kompatible Seite seiner Natur nannte er „Persönlichkeit Nr. 1“. Von ihr unterschied er „Persönlichkeit Nr. 2“ – die nach innen und auf Gott gerichtete Seite.
  • Jung selbst war introvertiert. Das machte ihn, der eigenen Lehre gemäß, notwendig voreingenommen in der Beschreibung der extravertierten Typen. Natürlich wusste er um diese Schwierigkeit und war bemüht, Gerechtigkeit walten zu lassen. Dennoch lässt sich Psychologische Typen als Plädoyer für die introvertierte Einstellung lesen, die Jung als gesellschaftlich und kulturell unterrepräsentiert empfand.
  • Psychologische Typen ist vom methodischen Ansatz her ein Statement gegen Jungs Konkurrenten Freud und Adler. Deren Psychologie geht reduktionistisch vor, sie will psychische Inhalte (z. B. Träume) auf dahinterliegende, körperliche Motive zurückführen. Für Jung hingegen ist die Psyche selbst Autorin dessen, was sie ausdrückt.
  • Jungs Theorie läuft der Annahme zuwider, alle Menschen seien von Geburt an gleich und würden erst durch gesellschaftliche Einflüsse geformt. Dieser so genannten Tabula-rasa-Theorie setzt Jung ein vehementes „Ungleichheitspostulat“ entgegen. Die Unterschiede der Einstellungs- und Funktionstypen denkt er sich durchaus biologisch.

Historischer Hintergrund

Rumoren im kollektiven Unbewussten

Psychologische Typen entstand in einer weltgeschichtlich bewegten Zeit. Ein Krieg von nie da gewesenem Ausmaß hatte das rationale Kalkül der noch jungen Moderne bis zur letzten, höllischen Konsequenz geführt. Doch daraus lernte man im Großen und Ganzen nichts: Zu tief saß der lähmende Schock bei denen, die Zeugen des Grauens geworden waren; zu weit weg von den „killing fields“ der Westfront waren die anderen gewesen, um sich in ihrer bürgerlichen Behaglichkeit stören zu lassen. Diese lasen weiter ihren Goethe und ergingen sich in Fantasien von deutscher Größe.

Die demokratischen Errungenschaften der Weimarer Republik, 1918 auf den Trümmern des Kaiserreichs errichtet, änderten nichts daran, dass es in der Gesellschaft irrationale Kräfte gab, die auf eine zweite Kriegskatastrophe zusteuerten. Zwar fiel in diese Zeit auch eine Blüte der Wissenschaften: Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Penicillin, Psychoanalyse und Raketentechnologie ließen auf eine goldene Zukunft hoffen. Doch dem ungehemmten Fortschrittsglauben der einen stand der ahnende Pessimismus der anderen, besonders der künstlerischen Avantgarde, gegenüber: Surrealismus, Fauvismus und Dada verstanden sich als Anschläge des Irrationalen auf die technokratischen Luftschlösser der Mehrheitsgesellschaft.

Entstehung

Die Geschichte der Jung’schen Typenlehre beginnt 1912, mit dem Bruch der Freundschaft zu Sigmund Freud. Danach machte sich Jung auf den Weg zu einer eigenständigen Psychologie. Seit 1909 behandelte er in seiner Praxis am Zürichsee die verschiedensten Fälle seelischer Störungen. Unter seinen Patientinnen war Edith McCormick, eine Tochter des Ölmagnaten John D. Rockefeller. Diese fühlte sich Jung derart verbunden, dass sie ihm unter Einsatz des väterlichen Vermögens ermöglichte, 1916 den Psychologischen Club Zürich ins Leben zu rufen. Hier wurden im kleinen Kreis Ideen ausgetauscht und Streitfragen debattiert.

Obwohl Jung die Problematik der psychologischen Typen schon eine Weile mit sich herumgetragen hatte, kamen seine Gedanken erst in den folgenden Jahren zur Entfaltung. Unklar ist bis heute, welchen Anteil daran andere prominente Figuren des Clubs für sich reklamieren können; erwähnt werden muss der Gedankenaustausch mit dem Basler Psychiater Hans Schmid, der an einer ähnlichen Theorie arbeitete. Daneben war es die Analytikerin Sabina Spielrein, Jungs ehemalige Geliebte, die ihn immer wieder ermunterte, seine Gedanken zu konkretisieren, und auch eigene Ansätze beisteuerte. Mit beiden unterhielt Jung intensive Briefwechsel, in denen es für ihn allerdings bald nur noch darum ging, seinen Standpunkt durchzusetzen und sich voller Gehässigkeit gegen vermeintliche Angriffe auf seinen Status als alleiniger Urheber der Typentheorie zu wehren. So ließ er Spielrein schließlich kalt abblitzen: „Dazu müsste ich ein Buch schreiben. Es ist allerdings schon geschrieben. Ihre Fragen sind dort ausführlich beantwortet.“ Das war 1919. Psychologische Typen erschien zwei Jahre später.

Wirkungsgeschichte

Insofern es Jung um größtmögliche Distanzierung von Sigmund Freud gegangen war, hatte er dieses Ziel mit den Psychologischen Typen erreicht: Es sei „keine neue Idee daran“, befand der vergrätzte Wiener, vielmehr handle es sich um das „Werk eines Snobs und eines Mystikers“. Mit den Begriffen von Jungs System gefasst, waren die Persönlichkeiten der beiden Männer (Freud: extravertiert; Jung: introvertiert) natürlich zur Gegnerschaft verdammt. Entlang derselben Linie formierten sich dann auch die Fronten derjenigen, die Jungs Theorien entweder enthusiastisch begrüßten oder sie kategorisch zurückwiesen. In einer Ära scheinbar alles beherrschender Vernunft war dieser Konflikt vorgezeichnet: Die einen litten unter der kollektiven Verdrängung des Irrationalen, des nicht im Sinne des Fortschritts Nützlichen; die anderen identifizierten sich ganz und gar mit der kollektiven Bevorzugung extravertierten Denkens und Fühlens, sprich mit der Moderne.

Spätestens mit Erscheinen der Psychologischen Typen wurde aus Jung der Prophet des Unbewussten. Wo Freud ihm pseudowissenschaftliche Dunkelschwärmerei vorwarf, gab es andere, die in ihm einen wahren Mystiker in der Tradition eines Meister Eckehart erblickten. Zur letzten Partei sind z. B. Thomas Mann oder Hermann Hesse zu zählen. Letzterer ließ sich von Jung analysieren und nahm in literarischen Schöpfungen wie Narziß und Goldmund auf die Typenlehre Bezug. So oder so, die Unterscheidung zwischen extra- und introvertiert ist heute in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen und hat Jungs Modell, jenseits aller fachlichen Dispute, zu enormer praktischer Wirksamkeit verholfen.

Über den Autor

Carl Gustav Jung wurde am 26. Juli 1875 als Sohn eines Dorfpfarrers im Schweizer Kanton Thurgau geboren. Früh zeigte er sich empfänglich für die Macht des Unbewussten, er erlebte seine Träume als überaus real und rang oft verzweifelt mit ihrer Auslegung; durch sie fühlte er sich mit dem Göttlichen verbunden, zugleich aber getrennt von seinen Mitmenschen. „Meine ganze Jugend kann unter dem Begriff des Geheimnisses verstanden werden“, sagte er später. Ab 1895 studierte er in Basel Medizin. 1900 trat er in Zürich eine Stelle in der psychiatrischen Klinik Burghölzli an, wo er erstmals mit den Schriften Sigmund Freuds in Berührung kam. 1907 besuchte er Freud in Wien; eine intensive Freundschaft entstand, die jedoch 1912 mit der Veröffentlichung von Jungs Wandlungen und Symbole der Libido abrupt endete. Darin wich Jung entscheidend von Freuds Theorien ab, was dieser ihm nicht verzieh. 1913 legte Jung seine akademische Karriere auf Eis und widmete sich ganz der mythologischen Erforschung seiner inneren Bildwelt. Die folgenden vier Jahre bezeichnete er später als die wichtigste Zeit seines Lebens. Es folgten Reisen nach Afrika, Indien und zu den Pueblo-Indianern in Nordamerika. Jung erhoffte sich eine Außenperspektive auf die abendländische Welt. Mittlerweile war er als Begründer der analytischen Psychologie weltberühmt. Als die Nazis seine Lehren in ihrem Sinn ausdeuteten, versäumte Jung, sich entschieden dagegen auszusprechen, und ließ sich sogar zu Gerede über psychologische Unterschiede zwischen Juden und Germanen hinreißen. Erst 1936 erwachte er aus seiner Verblendung; 1939 wurden seine Werke von den Nazis verboten. Bis zu seinem Tod am 6. Juni 1961 blieb Jung äußerst produktiv und legte in zahlreichen Schriften seine Ideen zur Psychologie des Unbewussten sowie zu religiösen und kulturellen Themen nieder.

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