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Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats

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Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats

dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Drama in zwei Akten.

Suhrkamp,

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10 take-aways
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What's inside?

Wie viele Tote darf eine Revolution fordern? Ein Stück im Stück soll Aufschluss geben.

Literatur­klassiker

  • Drama
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Mit Beilen und Messern die Welt verbessern?

In Peter Weiss’ Stück trifft die berüchtigtste Figur der Französischen Revolution auf die schillerndste. Mit den fiktiven Gesprächen zwischen dem Marquis de Sade und Jean Paul Marat wurde eine der Kernfragen der 68er-Generation vorweggenommen: Muss man auf dem Weg zu individueller Freiheit zuerst die äußeren Umstände ändern? Oder gilt es, unabhängig von den politischen Verhältnissen die „Gefängnisse des Innern“ zu sprengen? In Marat/Sade ist Marats Position am Ende knapp überlegen. Allerdings bleibt die Frage, ob die soziale Revolution auch mit Gewalt erkämpft werden darf, unbeantwortet. Durch seine Offenheit lässt das Stück zahlreiche Interpretationen zu. Fruchtbare Denkanstöße bietet es nicht nur für die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution oder mit den Erfahrungen der 68er, sondern auch für die Bewertung aktueller Entwicklungen – sei es des islamistischen Terrors oder der Demokratiebewegung in Nordafrika.

Take-aways

  • Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, bekannt als Marat/Sade, zählt zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Dramen der Nachkriegsgeschichte.
  • Inhalt: In der Pariser Irrenanstalt Charenton wird im Jahr 1808 ein Stück des Marquis des Sade aufgeführt, das die letzte Stunde des Revolutionsführers Jean Paul Marat thematisiert. Sade und Marat diskutieren über die Revolution und deren Ziele. Während Marat für die Rechte der Gesellschaft kämpfen will, ist Sade resigniert und individualistisch.
  • Peter Weiss war schon in seiner Jugend von der Figur Marats fasziniert.
  • Im Individualisten Marquis de Sade fand er den idealen Gegenspieler zum Sozialisten Marat.
  • Das Stück steht ihn der Tradition von Brechts epischem Theater, ist aber im Gegensatz zu diesem durchaus auf emotionale Wirkung bedacht.
  • Lange Zeit wurde Marat/Sade nur vor der Folie des Gegensatzes zwischen Kapitalismus und Sozialismus interpretiert.
  • Neuere Deutungen betonen auch die Gemeinsamkeiten der beiden Hauptfiguren.
  • Regisseure schätzen an dem Stück bis heute seine Offenheit gegenüber Neuinterpretationen des Stoffs.
  • Die größte formale Besonderheit des Stücks ist die Verflechtung dreier Zeitebenen.
  • Zitat: „Marat was ist aus unserer Revolution geworden / Marat wir wolln nicht mehr warten bis morgen / Marat wir sind immer noch arme Leute / und die versprochenen Änderungen wollen wir heute“

Zusammenfassung

Beginn der Aufführung

Der Marquis de Sade, im Pariser Hospiz von Charenton inhaftiert, hat ein Stück über den 15 Jahre zuvor ermordeten Revolutionsführer Jean Paul Marat geschrieben, das nun mit den Insassen der Klinik aufgeführt werden soll. Der Klinikleiter Coulmier fördert diese künstlerischen Bestrebungen grundsätzlich – schließlich sollen die Patienten auch unterhalten und erbaut werden, wie es dem neuen Menschenbild unter Napoleon entspricht. Als Bühne dient der Badesaal. Zu Beginn der Szene liegt der an einem Ausschlag und starkem Fieber leidende Marat in der Wanne und wird von seiner Lebensgefährtin Simonne Evrard gepflegt. Ein Ausrufer erklärt die Szene und weist das Publikum darauf hin, dass die Darstellerin der Charlotte Corday, der Mörderin Marats, an Schlafsucht leide und daher wohl nicht immer ganz konzentriert spielen könne. Auch die anderen Rollen und Darsteller werden vorgestellt. Gezeigt wird Marats letzte Stunde am 13. Juli 1793.

„Marat was ist aus unserer Revolution geworden / Marat wir wolln nicht mehr warten bis morgen / Marat wir sind immer noch arme Leute / und die versprochenen Änderungen wollen wir heute“ (die vier Sänger und der Chor, S. 21)

Vier Jahre sind seit dem Beginn der Revolution vergangen, doch die Lebensumstände der Unterschicht haben sich noch immer nicht verbessert: Die Armen hungern genau wie zuvor, die versprochenen Reformen sind ausgeblieben. Die Repräsentanten des vierten Standes, vier Sänger, fordern Marat auf, die Versprechen endlich einzulösen. Die anderen Patienten greifen die Forderungen auf und erklären, dass sie weder Gleichheit noch Freiheit noch Brüderlichkeit kennen. Coulmier geht dazwischen: Die Aufführung wird ihm zu unruhig.

Cordays erster Besuch

Charlotte Corday klopft an die Wohnungstür und bittet darum, Marat sprechen zu dürfen. Sie komme aus Caen und habe wichtige Nachrichten für ihn. Simonne weist sie ab. In einer Pantomime wird Cordays Ankunft in Paris nachgestellt: Die Vertreter des vierten Stands berichten, dass sie sofort zu einem Messergeschäft gegangen sei. Die Pantomime wandelt sich nach und nach in einen Totentanz, der in einer Hinrichtung mündet.

„Ich muss doch um etwas Besänftigung bitten / Schließlich sind heute andere Zeiten als damals / und wir sollten uns bemühen / die längst überwundenen Missstände / in einem etwas verklärten Schimmer zu sehen“ (Coulmier, S. 22)

Marat wendet sich ans Publikum und erklärt, dass diejenigen, die durch die Revolution gestürzt wurden, viel größere Verbrechen begangen, viel mehr Menschen getötet und ausgebeutet hätten als die, die sich jetzt rächten. Coulmier geht das zu weit, er ruft Sade zur Ordnung. Der erklärt, dass es hier ja nur um längst vergangene Zustände ginge und inzwischen alles anders sei.

Sade und Marat diskutieren

Marat will mit Sade über dessen These sprechen, dass das Prinzip alles Lebendigen der Tod sei. Sade erklärt, dass die Menschen der Natur vollkommen egal seien: Nur der Mensch selbst sehe in seinem Leben einen Sinn und halte es für wertvoll. Sade möchte die Natur überwinden und sich nicht mehr ihren Gesetzen der natürlichen Auslese beugen. Er ist bestürzt über die Tatsache, dass Hinrichtungen nicht mehr wie früher in die Länge gezogen und wie Volksfeste zelebriert werden. Stattdessen werden die Morde wie am Fließband abgearbeitet. Marat wirft Sade vor, die Theorie von der Gleichgültigkeit der Natur nur vorzuschieben, um seine eigene Untätigkeit und Apathie zu rechtfertigen. Er selbst hingegen werde aktiv, gebe den Dingen einen Sinn und trete dann für diesen ein.

„Einmal dachten wir dass ein paar hundert Tote genügten / dann sahen wir dass tausende noch zu wenig waren / und heute sind sie nicht mehr zu zählen“ (Marat, S. 25)

Marat erklärt, den Menschen sei so lange eingeredet worden, dass die Monarchen für sie sorgten wie ein Vater, dass sie es schließlich selbst geglaubt hätten. Und obwohl die Kirche behaupte, keinem irdischen Herrscher zu unterstehen, seien die Priester untätig geblieben angesichts der Ausbeutung der Menschen. Stattdessen erklärten sie den Armen, dass diejenigen, die auf dieser Welt litten, in dem Himmel kämen, dass ihr Leid der Wille Gottes sei. Und dann nahmen sie ihr Geld und sagten ihnen, dass sie für die Ausbeuter beten sollten. Coulmier wirft ein, dass die Kirche sich um die Armen sorge, etwa indem sie Suppe verteile. Der Ausrufer stellt klar, dass sich das Gesagte natürlich nur auf die Vergangenheit beziehe.

Sades Kritik an der Revolution

Sade will nichts mehr mit der Revolution zu tun haben. Heroische Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft sind in seinen Augen völlig sinnlos. Marat dagegen hat trotz aller Rückschläge den Glauben an die Revolution nicht verloren. Er gesteht aber ein, dass die Arbeiter nun vom Bürgertum statt von den Adligen unterdrückt würden und dass viele die Situation ausgenutzt hätten, um sich zu bereichern. Sade will von Marat wissen, wie er noch immer an seinen Idealen festhalten, wie er an die Gerechtigkeit und Gleichheit glauben könne. In Sades Augen verhindert die Gleichheit der Menschen den Fortschritt: Jeder sei anders und habe individuelle Fähigkeiten, daraus würden sich zwangsläufig Unterschiede ergeben. Gäbe es diese nicht, würden die Menschen nur streiten. Marat erklärt, dass die Revolution noch nicht vollständig zu Ende geführt worden sei, es gebe noch immer Zweifler und Halbherzige, die man identifizieren und aussondern müsse. Erst dann könnten alle Ziele umgesetzt werden.

„(…) und was du die Gleichgültigkeit der Natur nennst / ist deine eigene Apathie“ (Marat zu Sade, S. 35)

Daraufhin stellt der Revolutionär und ehemalige Priester Jacques Roux die Forderungen des Volkes: Alle Lebensmittel sollen gerecht verteilt werden, der Besitz soll allen gehören, es sollen Schulen eingerichtet und alle Kriege sofort beendet werden. Coulmier geht abermals dazwischen und will, dass die Szene gestrichen wird. Roux wird abtransportiert – er fordert Marat auf, seiner Aufgabe als Anführer gerecht zu werden. Sade erklärt Marat, dass er nur kurz die Galionsfigur der Revolution sein werde: Schon bald werde man ihm die Schuld für alle Versäumnisse geben und ihn an den Pranger stellen. Sade selbst hat die Zeit in Gefangenschaft dafür genutzt, sich mit allen Facetten der Gewalt auseinanderzusetzen, das Gewalttätige und Verbrecherische in sich selbst zu erforschen und sich brutale Orgien auszudenken. Die Revolution erschien ihm als reale Umsetzung einer solchen Orgie, doch er musste schnell erkennen, dass er das, was ihm in seiner Vorstellung so leicht gefallen war, in seinem Amt als Richter nicht anordnen konnte. Denn er erträgt den Anblick der Gewalt nicht. Was ihn vor allem schockiert, ist die mechanische Art der Hinrichtungen. Deshalb hat er sich abgewendet. Er will nur noch von außen beobachten und nicht mehr Teil von etwas sein, was alle Menschen zur Gleichförmigkeit zwingt und keinen Raum für Individualität lässt.

Hoffnung auf Veränderung

Corday trifft sich mit dem Abgeordneten Duperret: Sie singen gemeinsam von ihren Idealen, davon, dass irgendwann alle Menschen friedlich miteinander leben werden, in Freiheit und Gerechtigkeit. Marat hält eine Rede darüber, wie unrealistisch solche Ideen sind: Man erzähle sich derzeit, dass der ideale Staat käme, dass die Arbeiter bald mehr Lohn hätten und es bald keine Standesunterschiede mehr gäbe. All das seien Lügen: Die Reichen würden niemals auf ihr Geld verzichten, nicht freiwillig mehr Lohn bezahlen und die unteren Ständen nie als gleichberechtigt ansehen. Marat glaubt, dass sie das Volk nur in Sicherheit wiegen, um es dann umso einfacher in den nächsten Krieg schicken zu können. Der Ausrufer erklärt, Marat habe natürlich Unrecht gehabt, denn alle diese Ziele seien inzwischen erreicht worden. Corday besucht Marat zum zweiten Mal, doch Simonne weist sie erneut ab. Sade erklärt, die Menschen würden sich zu viel von der Revolution erhoffen – sie könne nicht alle Probleme lösen.

Marats Lebenslauf

Mehrere Personen betreten die Bühne. Der Ausrufer erklärt, dass es sich um wichtige Menschen in Marats Leben handelt, die erzählen, wer er wirklich ist. Der Lehrer berichtet, dass Marat schon als Kind für Unruhe bei den Schülern gesorgt und sie aufwiegelt habe. Die Eltern beklagen, dass er nicht auf sie gehört und sich gegen ihre Prügel gewehrt habe. Ein Offizier kritisiert, dass Marat unter falschem Namen Schriften veröffentlicht habe, ein Wissenschaftler, dass er in England als Dandy gelebt und des Diebstahl angeklagt worden sei. Marat soll vorgegeben haben, Arzt zu sein, um die gehobene Gesellschaft um ihr Vermögen zu bringen. Erst als er aufflog, habe er plötzlich behauptet, die Reichen hätten kein Recht auf ihr Geld und müssten gestürzt werden. Voltaire tritt auf und macht sich über Marats wissenschaftliche Thesen lustig, gefolgt von Lavoisier, der Marats physikalische Theorien für Unsinn erklärt. Sie alle meinen, dass er die Revolution nur angezettelt habe, weil er sich rächen wollte. Roux erscheint und erklärt Marats wahre Beweggründe: Er habe erkannt, dass alle Bemühungen sinnlos seien, solange sich die Verhältnisse nicht änderten.

Marat vor Gericht

Auf der Bühne wird die Nationalversammlung nachgestellt. Die Stimmung hat sich bereits gegen Marat gewendet, dennoch hält er seine Rede auf eine Art und Weise, als ob er die Zwischenrufe nicht hören würde. Marat prangert die Missstände an: Frankreich werde an allen Grenzen von fremden Armeen bedroht, das Heer habe nicht genug zu essen, weil das Getreide gewinnbringend an die Gegner verkauft werde. Die höheren Militärs warteten nur darauf, dass die alten Verhältnisse wiederhergestellt würden, Bankiers und Finanzfachleute würden ohnehin nur in die eigene Tasche wirtschaften, während sich das Volk kaum etwas zu essen leisten könne und ein neuer Bürgerkrieg ausgebrochen sei. Schon vor Jahren habe er, Marat, dazu geraten, allen Besitzlosen etwas Land zu geben. Stattdessen müssten sie noch immer für Ausbeuter arbeiten – nachdem sie für deren Freiheit gekämpft hätten. In den Augen des Bürgertums und der neuen Eliten sei das Volk noch immer eine gesichtslose Masse, mit der man machen könne, was man wolle. Um auch die Interessen des Volks zu wahren, soll die Versammlung nach Marats Meinung einen Vertreter ernennen; keinen Diktator, sondern jemanden, der in der Krise den Überblick behält. Das Publikum auf der Bühne ist gespalten: Einige sind noch immer gegen Marat, andere setzen neue Hoffnung in ihn. Sade weiß, dass am Schluss Marat die Schuld für alle Untaten gegeben wird.

Der Mord

Die vier Sänger teilen mit, dass Marat noch ahnungslos in seiner Wanne sitzt, in der er gleich sterben wird. Marat gesteht, dass er sein ganzes Leben der Suche nach Antworten verschrieben habe. Immer sei er auf neue Probleme gestoßen, immer habe er damit rechnen müssen, für seine Schriften getötet zu werden. Sade weist ihn darauf hin, dass seine Bemühungen sinnlos seien. Er könne nichts mehr befehlen, keine Anweisungen mehr geben. Marat beginnt an seinen Überzeugungen zu zweifeln. Die vier Sänger stellen fest, dass er mit seinen Ideen seiner Zeit um 100 Jahre voraus ist.

„(...) und zu den Hungernden sagten sie (...) / Leidet / leidet wie jener dort am Kreuz / denn so will es Gott“ (Marat über die Priester, S. 37 f.)

Die Schauspielerin der Corday wird geweckt. Der Ausrufer erklärt, sie müsse unbedingt aufwachen. Corday weiß, dass ihre große Stunde gekommen ist. Sie greift nach dem Dolch und macht sich bereit. Dann erklärt sie, dass Marat für all die Ungerechtigkeiten, die jeden Tag in der Stadt geschehen, die Verantwortung trage. Sade macht Marat auf Cordays körperliche Vorzüge aufmerksam, erzählt vom unerfüllten Verlangen, das sie in ihrer Zeit im Kloster gespürt haben müsse. Ohne sexuelle Freiheit bleibt die Revolution seiner Meinung nach unvollständig: Auch die Gefängnisse in den Köpfen der Menschen müssten geöffnet werden. Corday wird indessen zu Marat vorgelassen: Marat winkt sie näher, sie holt zum Dolchstoß aus. Da wird das Spiel unterbrochen. Der Ausrufer will vor dem Finale klären, was seit dem Mord an Marat alles geschehen ist: Marats Anweisungen entsprechend wurden Tausende ermordet. Wer sich gegen die Oberen auflehnte oder Zweifel bekundete, wurde erbarmungslos verfolgt. Marat war nur der erste Führer, der aus dem Weg geräumt wurde. Danton war seinen ehemaligen Weggefährten zu gemäßigt und wurde hingerichtet, Robespierre wurde ebenfalls von der Revolution überrollt. Auch Jacques Roux lebt nicht mehr. Nun ist nur noch Napoleon da, der sich Kaiser nennt und genau wie alle anderen vor ihm nichts gegen die Armut unternimmt.

„Ich ersinne die ungeheuerlichsten Torturen / und wenn ich sie mir beschreibe / so erleide ich sie selbst“ (Sade, S. 41)

Die Mordszene wird zu Ende geführt und das anschließende Bild dem Gemälde von Jacques-Louis David nachempfunden. Marat betritt noch einmal die Bühne, um die Lehre aus dem Gezeigten zu ziehen. Sein Ziel sei es gewesen, die Reichen zu stürzen und die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Corday tritt hinzu und erklärt, dass sie ganz ähnliche Ziele hatte. Marat sei für seine Ziele jedoch über Leichen gegangen, und das habe sie nicht zulassen wollen. Roux warnt vor Menschen wie Corday, die im Namen der Reinheit und mit hohen Idealen doch nur den Unterdrückern helfen würden.

„Wir fordern / dass alle Werkstätten und Fabriken in unsern Besitz übergehn (...) / Wir fordern / dass in den Kirchen Schulen eingerichtet werden / sodass dort endlich einmal etwas Nützliches verbreitet wird“ (Roux, S. 57)

Schließlich erklärt Sade seine Intention: Er wollte in seinem Stück verschiedene Thesen gegeneinander abwiegen und seine Figuren über verschiedene Formen von Gewalt diskutieren lassen. Allerdings sind für ihn die Fragen, die er sich gestellt hat, offengeblieben. Er hat erkannt, dass seine Gewalt eine andere ist als die von Marat, die ein höheres Ziel verfolgt und nicht nur eine persönliche Fantasie ist. Coulmier betont noch einmal, dass diese Zeit ja nun vorbei sei und es heute allen besser gehe. Die vier Sänger und der Chor bekräftigen dies: Schließlich wissen alle, dass eventuelle Entbehrungen auf dem Weg zu einem besseren Leben notwendig sind. Sie lassen Napoleon hochleben. Ein Tumult bricht aus, den Coulmier mithilfe der Pfleger gewaltsam niederzuschlagen versucht. Dann lässt er den Vorhang zuziehen.

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Aufbau und Stil

Das Stück ist in zwei Akte und insgesamt 33 Szenen gegliedert. Fast alle Szenen spielen im Badezimmer von Jean Paul Marat. Weiss’ Sprache ist einfach, aber es werden auch Versformen verwendet, die die sarkastischen Untertöne und die surreale Atmosphäre, die durch den Schauplatz des Stücks – die Irrenanstalt – bereits angelegt ist, noch verstärken. Die Figuren von Marat und Sade stechen stilistisch hervor. Ihre Formulierungen sind poetischer als die des restlichen Personals, ihre Argumentationen eloquenter. Sades Sprache ist immer dann besonders bildreich, wenn es um Sex und Gewalt geht. Als etwas paradox erscheint die Tatsache, dass Marat nicht nur Sades Gegenspieler, sondern auch eine von Sade erschaffene Figur ist. Die Vielseitigkeit des Stückes zeigt sich auch darin, dass es Elemente der antiken Tragödie wie den Chor mit solchen der Oper und des surrealen Dramas kombiniert. Der schnelle Wechsel zwischen den Zeitebenen von 1793, 1808 und teilweise sogar der Gegenwart der 1960er Jahre erfordert vom Leser einiges an Konzentration. Auf Satzzeichen verzichtet Weiss vollständig und lässt damit viel Raum für Interpretation.

Interpretationsansätze

  • Marat/Sade ist ein Versuch, zwei Ideologien einander gegenüberzustellen: Auf der einen Seite steht Marat für eine soziale, politische Umwälzung der Verhältnisse, auf der anderen Seite fordert Sade eine individuelle Revolution, womit nicht zuletzt auch die sexuelle Revolution gemeint ist. Lange Zeit sah man deshalb Sade als Stellvertreter des Kapitalismus, während Marat als Personifizierung des Sozialismus interpretiert wurde.
  • In den 70er Jahren setzte sich eine andere Sicht auf das Stück durch, die sich mehr auf die tatsächlichen Inhalte und die Gemeinsamkeiten der Hauptfiguren konzentrierte: Ansatzpunkte waren etwa die Kritik an der Kirche oder die These, dass nach jeder Revolution die neuen Eliten selbst zu Ausbeutern würden.
  • Marat/Sade steht in der Tradition des epischen Theaters, das vor allem von Bertolt Brecht entwickelt wurde. Dessen Grundidee ist eine durchgängige Brechung der Illusion, die den Zuschauer zu keinem Zeitpunkt vergessen lässt, dass er gerade ein Theaterstück sieht, und die ihn zugleich in das Geschehen auf der Bühne einbezieht. Im Unterschied zu Brecht hat Weiss’ Stück aber durchaus den Anspruch, emotional zu wirken.
  • Das wichtigste Element des epischen Theaters in Marat/Sade ist der Verfremdungseffekt, der vor allem durch das Spiel auf drei Zeitebenen erreicht wird: die Ebene des Mordes (1793), die der Aufführung durch die Patienten (1808) und die der tatsächlichen Aufführung (1964 bzw. heute). Der Zuschauer wird ständig dazu aufgefordert, herauszufinden, auf welcher Ebene man sich gerade befindet.
  • Eine weitere auf Brecht zurückgehende Forderung besteht in der Historisierung der dargestellten Ereignisse: Sie sollen jederzeit so präsentiert werden, dass der Zuschauer sich ein Urteil über das Geschehene bilden kann. Damit wandte sich Brecht gegen die traditionell-aristotelische Auffassung, dass das Theater eine Flucht aus dem Alltag bieten solle. Dieser Gegensatz wird in Weiss’ Stück thematisiert: Während Sade „ständigen Zweifel erhellen“ will, wendet Coulmier ein, das könne man „nicht Erbauung nennen“.

Historischer Hintergrund

Deutschland in den 60er Jahren

Nach den ersten Jahren des Wirtschaftsbooms in der Nachkriegszeit kam in Westdeutschland, vor allem unter Studenten, Unmut über ausbleibende Reformen und zu wenig Demokratie auf. Zentrale Forderungen der so genannten Außerparlamentarischen Opposition (APO), die sich u. a. infolge des Ausschlusses des Deutschen Studentenbundes aus der SPD formierte, waren soziale Reformen, gesellschaftlicher Wandel und eine Aufarbeitung der Verbrechen im Dritten Reich. Schon früh standen auch westdeutsche Literaten und Wissenschaftler für diese Forderungen ein, darunter die Gruppe 47 und die Vertreter der Frankfurter Schule (etwa Theodor W. Adorno und Max Horkheimer). Viele sahen die im Zuge des Kalten Krieges mehr oder weniger stark abgeriegelten Ostblockstaaten als Vorbild sozialistischer Staatsordnungen, denen es auch in den westlichen Ländern nachzueifern galt. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Frauenrechtsbewegung und die Kritik am Vietnamkrieg waren weitere wichtige Entwicklungen, die sich auf die öffentlichen Debatten in Deutschland auswirkten. Mit dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg (1967) und dem Anschlag auf Rudi Dutschke (1968) fand der Protest schließlich seinen Höhepunkt. Uneinigkeit, vor allem darüber, welche Mittel zur Herbeiführung gesellschaftlicher Veränderungen moralisch gerechtfertigt sind, führten wenig später zu einer Zersplitterung der Bewegung.

Entstehung

Peter Weiss wurde 1962 gebeten, einen Radiobeitrag zur Französischen Revolution zu schreiben. Schon seit seiner Jugend hatte er sich für Jean Paul Marat und dessen Rolle in der Revolution interessiert. Einer Hörspielfassung folgte ein Theaterstück über Marats Ermordung, zu dem ihn u. a. das berühmte Gemälde Der Tod des Marat von Jacques-Louis David inspirierte. Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts stilisierte Marat zur Schreckensfigur der Französischen Revolution. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde seine Person und Rolle differenzierter betrachtet. Als eines Tages ein Bekannter Weiss von dem berüchtigten Marquis de Sade erzählte, einer anderen schillernden Gestalt der Revolution, beschloss er, diesen als Figur in das Stück zu integrieren. Viele Details in Marat/Sade entsprechen historischen Fakten, etwa Marats Krankheit und seine Ermordung durch Charlotte Corday; und Sade war tatsächlich von 1801 bis zu seinem Tod im Jahr 1814 in Charenton interniert. Andere Elemente, wie die Auseinandersetzung der beiden, entspringen allein Weiss’ Fantasie.

Eine erste Version des Stücks stellte Weiss 1963 fertig. Auf Nachfrage ergänzte er sie um detailliertere Bühnenanweisungen. Am 29. April 1964 wurde das Stück unter der Regie von Konrad Swinarski am Berliner Schillertheater uraufgeführt. Danach überarbeitete Weiss das Stück noch zweimal. Die vierte Fassung wurde 1965 veröffentlicht.

Wirkungsgeschichte

Marat/Sade ist Peter Weiss’ bekanntestes Drama und zählt zu den international erfolgreichsten deutschsprachigen Stücken der Nachkriegszeit. Die offene Form des Stücks lässt Raum für vielseitige Interpretationen, Inszenierungsformen und Improvisationen. Weiss’ Kollegen reagierten zunächst skeptisch bis ablehnend, als er es am 24. Oktober 1963 bei einer Tagung der Gruppe 47 in Saulgau vorstellte; Uwe Johnson soll gelangweilt eine Zeitung gelesen haben. Vor Publikum war Marat/Sade dagegen größerer Erfolg beschieden: Das Stück wurde schon bei der Uraufführung begeistert ausgenommen und erhielt überwiegend positive Kritiken. Bereits 1964 wurde es von Peter Brook für das Living Theatre in London adaptiert, von wo aus es 1966 an den Broadway gelangte. Die Inszenierung wurde mit dem begehrten Theater- und Musicalpreis „Toni Award“ ausgezeichnet.

Der Erfolg von Marat/Sade ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass Weiss darin wichtige Fragen der Studentenbewegung der 60er Jahre aufgriff und sie am Beispiel einer der größten, wohl aber auch blutigsten Revolutionen der Geschichte argumentativ zu lösen versuchte. Jürgen Habermas war der Meinung, das Stück mache deutlich, „dass die Französische Revolution ein sehr gegenwärtiges Element unserer unbewältigten Vergangenheit ist“. Marcel Reich-Ranicki meinte in der FAZ Anfang 2010 rückblickend, Marat/Sade habe „unsere Epoche beinahe mitten ins Herz getroffen. Denn dem unbeirrbaren Revolutionär Marat, der nur an die Sache und die Idee glaubt, stellte Weiss de Sade gegenüber, den Verfechter des Individualismus“.

Über den Autor

Peter Weiss wird am 8. November 1916 als Sohn des zum Christentum übergetretenen jüdischen Textilfabrikanten Eugen Weiss und der Schauspielerin Frieda Weiss in Neubabelsberg bei Berlin geboren. Er beschäftigt sich schon früh intensiv mit Literatur und beginnt zu malen. Nach der Machtergreifung Hitlers emigriert die Familie nach England, später in die Tschechoslowakei. 1937 nimmt Weiss Kontakt zu Hermann Hesse auf, der ihn ermuntert, weiter künstlerisch tätig zu sein. Ab 1940 wohnt Peter Weiss in Stockholm, wo er bis zu seinem Lebensende bleiben und dreimal heiraten wird. In den 50ern beschäftigt er sich vor allem mit dem Medium Film: Zahlreiche Experimental-, Spiel- und Dokumentarfilme entstehen. Einen ersten größeren Erfolg hat er 1960 mit dem Prosatext Der Schatten des Körpers des Kutschers. Seine stilistische Eigenart, die Umgebung des Erzählers so detailreich wie möglich zu beschreiben, findet schnell Nachahmer. Für seinen Roman Fluchtpunkt von 1962 wird er mit dem Charles-Veillon-Preis ausgezeichnet, wenig später wird er Mitglied der Gruppe 47. In den 60ern steht für Weiss die Beschäftigung mit dem Drama im Vordergrund: Die Stücke Marat/Sade, Die Ermittlung und seine Bühnenfassung von Kafkas Der Prozess zählen zu den bedeutendsten Ergebnissen dieser Arbeit. Weiss sagt sich öffentlich von der westdeutschen Künstlerriege los und stellt sich auf die Seite des Sozialismus – eine Entscheidung, die er spätestens mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei bereut. Ab 1972 arbeitet Weiss an seinem dreibändigen Hauptwerk Die Ästhetik des Widerstands, das er erst kurz vor seinem Tod fertigstellt. Er wird mit mehreren Preisen ausgezeichnet; zwei Universitäten tragen ihm die Ehrendoktorwürde an, die er jedoch ablehnt. Peter Weiss stirbt am 10. Mai 1982 im Alter von 64 Jahren in Stockholm. Seit 1989 setzt sich die Internationale Peter Weiss-Gesellschaft für die Pflege und Erforschung von Weiss’ umfangreichem Werk ein.

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