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Der fremde Freund/Drachenblut

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Der fremde Freund/Drachenblut

Suhrkamp,

15 min read
12 take-aways
Text available

What's inside?

Verzweiflung hinter kühler Fassade: Eine Ostberliner Ärztin erzählt von ihrem Leben und davon, wie sie sich immer mehr zurückzieht.


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Versteckte Verzweiflung

Der fremde Freund war 1982 Christoph Heins literarischer Durchbruch; inzwischen gilt die Novelle als Klassiker. Verstörend nüchtern berichtet die Ostberliner Ärztin Claudia über ihr Dasein als alleinstehende Frau und die undefinierte Beziehung zu ihrem Nachbarn Henry. Mit demonstrativer Kühle und Distanz zeichnet sie die Ereignisse nach und weigert sich – vor sich selbst genauso wie im Gespräch mit anderen Figuren –, Gefühle auszusprechen und zuzulassen. Indem sie sich gegen die Katastrophen des Lebens panzert und sich menschlicher Nähe verschließt, versucht sie, Schmerz zu vermeiden. Die einzige verwundbare Stelle in ihrem Panzer sind ihre Gefühle für Henry. Als er stirbt, kapselt Claudia sich völlig ab: In ihr Bad aus Drachenblut soll kein Lindenblatt mehr fallen. Dass das nicht funktioniert, ist offensichtlich, auch wenn es nur zwischen den Zeilen deutlich wird. Die Spannung des Textes und die große Kunst Christoph Heins bestehen darin, gerade durch die distanzierte Perspektive eine Nähe zu vermitteln: den stummen, verzweifelten Schrei.

Take-aways

  • Der fremde Freund war der literarische Durchbruch für Christoph Hein, die Novelle wurde auch international ein Erfolg.
  • Ein Jahr nach der Veröffentlichung in der DDR 1982 erschien sie in der BRD unter dem Titel Drachenblut.
  • Hein führt darin die Einsamkeit und Entfremdung des modernen Menschen vor.
  • Die geschiedene Ostberliner Ärztin Claudia erzählt nüchtern und distanziert aus ihrem Alltag.
  • Ihre Beziehungen zu Eltern und Freunden handhabt sie pragmatisch, auf emotionale Bindungen lässt sie sich nicht ein.
  • Durch die Ehen um sie herum, die allesamt Katastrophen sind, wird sie in ihrer Haltung bestätigt.
  • Die Affäre mit Henry, dem „fremden Freund“, ändert an ihrer Einstellung nichts - ebenso wenig wie sein plötzlicher Tod.
  • Claudia begründet ihre Haltung mit Rationalität und Fortschrittlichkeit; Gefühle und Beziehungen hält sie für verlogen und sentimental.
  • Sie meint wie Siegfried in der Nibelungensage in Drachenblut gebadet zu haben und so unverletzlich geworden zu sein.
  • Doch es gibt Risse in der kühlen Fassade. Claudias nüchterner Bericht enthält zwischen den Zeilen ihre uneingestandene Verzweiflung.
  • In der DDR wurde die Novelle als Darstellung allgemeiner zivilisatorischer Probleme verstanden, in der BRD als Polemik gegen das System der DDR.
  • Konflikte mit dem Staat sind allerdings, anders als in Christoph Heins Romanen, kein Hauptthema.

Zusammenfassung

Henrys Beerdigung

Die Ostberliner Ärztin Claudia steht morgens vor ihrem Kleiderschrank. Sie fragt sich, was sie am Nachmittag zur Beerdigung ihres Freundes Henry anziehen soll – und ob sie überhaupt hingehen will. In der Klinik ärgert sie sich über Schwester Karla, die sich wie jeden Morgen mit einem Hinweis auf ihre Kinder verspätet. Karla geht ganz in ihrer Mutterrolle auf und wird nicht müde, das der kinderlosen Claudia gegenüber zu betonen. Schließlich zwingt sie Claudia sozusagen, zur Beerdigung zu gehen, indem sie ihren dunklen Mantel entdeckt – eindeutig ein Kleidungsstück für ein Begräbnis. Bevor sich Claudia auf den Weg macht, trinkt sie Kaffee mit Anne, die alle zwei Wochen von ihrem Mann vergewaltigt wird. Dann fährt sie los, immer noch unschlüssig, ob sie wirklich zur Trauerfeier will. Dieses Ritual scheint ihr im Grunde irrational, ein Rückschritt in eine ewigkeitsgläubige Zeit. Schließlich steht sie doch auf dem Friedhof. Vor der Kapelle warten zwei Gruppen auf verschiedene Beerdigungen. Sie weiß nicht, welche die ihre ist, und ihr wird klar, dass sie keine Angehörigen von Henry kennt. Erst der Küster, der sie fragt, ob sie wegen der „Feierlichkeit Henry Sommer“ hier sei, befreit sie aus ihrer Verlegenheit. Auch die Witwe ist da. Sie ist Mitte 30 und hat zwei kleine Kinder. Eine verbitterte Frau, die Claudia hasserfüllt ansieht.

Rückblick: der Anfang einer Affäre

Ein Jahr zuvor: Claudia lernt Henry in ihrem Hochhaus, das aus lauter Einzimmerappartements besteht, kennen; er wohnt auf der gleichen Etage. Eine Nachbarin macht sie auf ihn aufmerksam: Er sei ein merkwürdiger Mensch. Dann kommt Henry hinzu, die alte Frau verstummt. Henry und Claudia mustern sich und lächeln einander an. Am Abend klingelt er bei ihr und lädt sich zum Essen ein, indem er ihr einen qualmenden Kochtopf entgegenhält. Sie sagt, sie sei müde, doch er kommt trotzdem herein. Seine Gegenwart ist ihr angenehm. Henry wirkt vergnügt, obwohl er existenzielle Fragen stellt und eigentlich verzweifelte Dinge sagt. Claudia findet ihn amüsant. Schließlich kommt er zu ihr ins Bett.

„Sie ist dieser Typ Frau, der unbeirrt an der Mutterrolle festhält. Das kuhäugige, warme Glück, das lassen wir uns nicht nehmen, da weiß man doch, wozu man lebt.“ (über Schwester Karla, S. 13)

Drei Tage später gehen die beiden essen. Henry fährt sehr schnell Auto und erklärt, das gebe ihm das Gefühl, lebendig zu sein. Darauf komme es ihm an, auf echtes Leben. Sein Beruf erfüllt ihn nicht: Er ist Architekt, baut aber nur genormte Atomkraftwerke. Henry strahlt eine ironische Gelassenheit aus, die Claudia provoziert, aber es gelingt ihr nicht, sie zu durchbrechen. Als sie zu Hause sind und sich küssen, sagt sie ihm, dass er ihr sehr fremd sei. Etwas an ihm versteht sie nicht, und sie spürt: Diese Distanz wird bleiben.

„Sie hat vier Kinder und einen Mann, der sie alle zwei Wochen einmal vergewaltigt.“ (über Anne, S. 16)

Am folgenden Wochenende besucht Claudia ihre Eltern in Magdeburg, ein Pflichtbesuch. Prompt beklagt sich die Mutter über Claudias Kälte und Lieblosigkeit. Sie erzählt, dass sie Hinner getroffen hat, Claudias Exmann. Am liebsten sähe sie es, wenn die beiden wieder zusammen wären. Claudias Vater will über Politik reden. Er wirft seiner Tochter diesbezüglich Desinteresse vor. In der Nacht kann sie nicht einschlafen und schluckt schließlich zwei Tabletten. Am nächsten Tag ist sie mit ihren Eltern bei Tante Gerda und Onkel Paul zu Besuch. Der Onkel bezeichnet Claudia als fesche Person und wundert sich darüber, dass sie nicht längst wieder in festen Händen ist. Dabei fasst er ihr an die Brust. Auf dem Rückweg nach Berlin fotografiert Claudia märkische Landschaften. Fotografieren ist ihr Hobby.

Eine distanzierte Beziehung

Henry ist eine ganze Woche lang nicht da. Claudia ist zwar der Meinung, dass er sich nicht bei ihr abmelden muss, trotzdem ist sie enttäuscht. Sie besucht Charlotte Kramer, eine alte Studienfreundin, und deren Mann Michael. Nach ein paar Gläsern macht Charlotte Witze auf Kosten ihres Mannes. Später erzählt sie Claudia in der Küche, sie habe ein Verhältnis. Als Michael Claudia nach unten zum Taxi begleitet, will er sie küssen.

„Ich fürchte mich nicht davor zu sterben. Schlimmer ist es für mich, nicht zu leben. Nicht wirklich zu leben.“ (Henry, S. 35)

Henry kommt zurück, er war beruflich in Ungarn. Das Paar verbringt einen ganzen Vormittag im Bett. Als Claudia sagt, sie habe auf ihn gewartet und sich Sorgen gemacht, entgegnet er grob, das solle sie lassen, schließlich seien sie kein Ehepaar. Er warnt sie, sich bloß nicht in ihn zu verlieben. Dann fallen sie sich wieder in die Arme.

„Mir gefiel es, die andere Haut zu streicheln, ohne den Wunsch zu haben, in sie hineinzukriechen.“ (S. 36)

Bei einem gemeinsamen Ausflug aufs Land rammen sie wegen Henrys riskanter Fahrweise fast einen Traktor. Der Bauer ist so wütend, dass er Henry einen Faustschlag verpasst. Beim anschließenden Spaziergang im Wald erfährt Claudia beiläufig, dass Henry verheiratet ist, zwei Kinder hat und am folgenden Tag zu seiner Familie fahren will – eine Neuigkeit, die sie aufwühlt. Sie fühlt sich zur belanglosen Gespielin herabgewürdigt. Dennoch sagt sie nichts, denn sie weiß, dass ihre Übereinkunft mit Henry lautet, keine Rechte aneinander zu haben.

Urlaub am Meer

Ende Juni fährt Claudia allein in Urlaub – das hat sie mit Henry so vereinbart. Wie jedes Jahr verbringt sie ihre Ferien in einem Dorf am Meer. Dort gilt sie als Verwandte einer Bauernfamilie, weil die Dorfbewohner keine fremden Gäste beherbergen dürfen. Claudia hat Sehnsucht nach Henry, aber auf den zwei Ansichtskarten, die sie ihm schreibt, kann sie dieses Gefühl nicht ausdrücken. Sie besucht den befreundeten Zahnarzt Fred, der mit seiner Frau Maria im Nachbardorf Ferien macht. Als er Claudia fragt, ob sie noch solo sei, bejaht sie und fügt hinzu: „So ziemlich.“ Fred signalisiert süffisant, dass er versteht. Die Ehe von Fred und Maria ist in einem elenden Zustand. Er demütigt seine Frau vor Claudia, und sie schweigt dazu. Überraschend taucht Henry auf. Claudia verbringt ein schönes Wochenende mit ihm, aber dann schickt sie ihn zurück nach Berlin und bittet ihn, sie nie wieder so zu überrumpeln.

Alltag kehrt ein

Nach dem Aufenthalt hat Claudia Probleme in der Klinik: Eine Urlaubsvertretung hat gegen sie intrigiert und Patienten verunsichert. Sie will schon kündigen, aber ihr Chef überredet sie bei einer Abendeinladung, zu bleiben. Seine Frau sieht aus wie ein Dienstmädchen, und so behandelt er sie auch. Die beiden wirken einsam. Weiteren Einladungen weicht Claudia aus, sie möchte mit diesen fremden Konflikten nichts zu tun haben. Überhaupt hat sie zu zwischenmenschlichen Problemen ein pragmatisches Verhältnis: Sie weiß, dass jeder welche hat, ohne dass sie zu lösen wären. Also sieht sie keinen Sinn darin, sich mit eigenen oder fremden Konflikten zu beschäftigen. Verdrängung hält sie, entgegen der psychologischen Mode, für wichtig und nicht für schädlich.

„Für mich eine grässliche Vorstellung: Sie hätte mir die Hand gegeben, sie würde mir von nun an jeden Tag die Hand geben, einmal am Morgen, einmal am Nachmittag.“ (über Schwester Karla, S. 45)

Die Wochenenden verbringt Claudia jetzt meist allein. Sie braucht die Zeit für sich, und außerdem soll Henry nicht das Gefühl haben, sich zwischen ihr und seiner Familie, die er alle zwei bis drei Wochen besucht, aufteilen zu müssen. Seine Frau, eine Chemikerin, und die Kinder leben in Dresden. Die Distanz zwischen ihr und Henry war erst beruflich bedingt, dann haben sie sich darin eingerichtet. Sie hat einen Freund, der bei ihr lebt, und mit diesem Zustand sind alle einverstanden; eine Scheidung steht nicht zur Diskussion. Claudia gefällt diese Regelung. Sie findet, dass der Staat nicht in persönliche Beziehungen eingreifen sollte. Die Ehe sieht sie als eine Zwangsinstitution, die die Menschen in ein unerträgliches Korsett presst. Auf ihrem Hochzeitsfoto erkennt sie sich selbst kaum wieder. Von Hinner hat sie sich getrennt, weil sie beide nichts verband.

„Im Hintergrund das Wissen um meine stete Bereitschaft, mich aufzugeben, Sehnsucht nach der Infantilität. Der schwere, süßliche Wunsch, geborgen zu sein.“ (S. 59)

Claudia entwickelt die Landschaftsfotografien aus dem Urlaub. Eine aufwändige Aktion, die ihr zudem sinnlos erscheint, denn in ihrem Schrank stapeln sich die Bilder schon. Der Akt des Fotografierens und Entwickelns erinnert sie an eine Zeugung. Claudia war zweimal schwanger und hat beide Male abgetrieben. Sie hatte nicht das Gefühl, dass das entstehende Leben etwas mit ihr zu tun habe.

Ein Ausflug in die Vergangenheit

Claudia verbringt zwei freie Tage in der Stadt ihrer Kindheit, Henry begleitet sie. Sie lebte dort, bis sie 14 war, dann zog die Familie nach Magdeburg. Claudia erinnert sich an einen lüstern-sadistischen Sportlehrer, aber auch an einen Geschichtslehrer, der von allen Mädchen geliebt wurde. Wegen einer angeblichen Affäre mit einer Neuntklässlerin verschwand er plötzlich. Die damaligen Andeutungen verstand die Schülerin Claudia kaum – sie war noch nicht aufgeklärt und wuchs in einem Klima auf, in dem Sexualität als schmutzig galt. Zu Katharina, ihrer besten Schulfreundin, hatte sie die bedingungsloseste Beziehung ihres Lebens. Katharinas Familie war gläubig und geriet dadurch in Konflikt mit dem Staat. Ihre drei Brüder konnten die gewünschte Ausbildung nicht machen – sie gingen dann in den Westen –, und Katharina wurde der Besuch der Oberschule verweigert, obwohl sie und Claudia die besten Schülerinnen waren. Claudias Eltern rieten ihr, sich von Katharina fernzuhalten, und schließlich zerbrach die Freundschaft am gesellschaftlichen Druck. Claudia fiel Katharina vor der ganzen Klasse in den Rücken. Noch ein anderer Verrat prägte Claudias Jugend: Im selben Jahr kam heraus, dass ihr Onkel Gerhard Sozialdemokraten und Kommunisten an die Nazis verraten hatte – einer der Gründe für den Umzug der Familie nach Magdeburg. Claudia war schockiert, ihr eigenes Entsetzen über die Naziverbrechen erschien ihr nun verlogen.

„Ich war nichts anderes als das Verhältnis eines verheirateten Mannes. Das übliche, lächerliche, tausendmal durchgespielte, banale Verhältnis.“ (S. 59)

Der Besuch in der Heimatstadt kommt ihr zunehmend unsinnig vor, und sie macht sich mit Henry auf den Rückweg. Als sie ihn nach seiner Kindheit fragt, erzählt er nichts. Er hält solches Erinnern für zwecklos und für unnötig belastend. Auf der Autobahn kommt es wieder fast zu einem Unfall. Instinktiv greift Claudia ins Lenkrad. Genauso spontan schlägt Henry sie daraufhin ins Gesicht. Keiner von beiden kommentiert diesen Vorfall, aber für Claudia ist klar, dass jeder Mann irgendwann einmal eine Frau schlägt – ein Bestandteil des unbewussten männlichen Überlegenheitsgefühls im jahrhundertealten Patriarchat.

Jahresende

Zweimal holt Claudia Henry von der Arbeit ab, was sie zuvor nie getan hat. Er ist nervös, weil er Probleme mit seiner Frau hat. Sie ruft ihn oft an, immer mit scheinbaren Katastrophenmeldungen; er soll nun jedes Wochenende nach Dresden kommen. Mit ihrem Freund scheint es nicht mehr zu klappen. Claudia hat schlimme Rückenschmerzen und lässt sich krankschreiben. Sie bekommt Besuch von ihrem Chef, der über die Wehleidigkeit der heutigen Generation klagt. Er ist entsetzt über ihre kleine Wohnung.

„Die Demütigungen werden noch leichtfertig übersehen, die aufdringlichen Insignien der Niederlage: Vertrag, Unterschrift, Gruppenfoto. Willkommen im Schoß aller unserer Gestern, daheim im unschuldigen Würgegriff.“ (über die Ehe, S. 86)

Am Samstag vor Weihnachten wird Claudia von Vogelgezwitscher geweckt. Nur langsam begreift sie, dass es die Vögel aus der Nachbarwohnung sein müssen. Bei Frau Rupprecht macht niemand auf. Schließlich öffnet der Hausmeister die Tür, die alte Frau sitzt in ihrem Sessel – tot.

Weihnachten verbringen Claudia und Henry getrennt: er bei seiner Frau und seinen Kindern, sie bei ihren Eltern. Zuerst langweilt sie sich, doch dann kommt ihre Schwester Irene zusammen mit Hinner zu Besuch. Die beiden sind jetzt ein Paar, was Claudia und ihren Eltern erst nach und nach klar wird. Claudia fühlt sich gedemütigt, obwohl ihr das selbst irrational erscheint. An Silvester kommt Henry nach Magdeburg. Claudias Eltern sind von ihm begeistert – bis auf die Tatsache, dass er verheiratet ist.

Ein plötzlicher Tod

Im Februar wird Claudia 40. Sie wünscht sich, dass etwas mit ihr geschehe, nur weiß sie selbst nicht, was. Fürs Fotografieren findet sie keine Motive mehr, vielleicht weil die Schrankfächer schon von Fotos überquellen. Manchmal besucht sie Freunde, meist wird ihr dann aber langweilig, oder sie hat Angst, zu sehr in fremde Probleme verstrickt zu werden. Auch mit Henry spricht sie nicht über dessen Beziehungsschwierigkeiten.

„Mich drängt nichts, irgendwelche Rätsel des Lebens zu erforschen. Der Vorwurf, dass ich bewusstlos existiere (...), berührt mich nicht. Ich bin lediglich ungeeignet für jede Art von Mystik.“ (S. 88)

Am 18. April stirbt Henry. Claudia erfährt es am folgenden Tag. Um Genaueres zu erfahren, ruft sie Henrys Kollegen an. Die sagen, er sei in einer Kneipe erschlagen worden. Eine Gruppe von Jugendlichen habe über seinen Filzhut gespottet, es sei zu einer Rangelei gekommen. Beim ersten Schlag eines der Jungen sei Henry bereits umgefallen, denn ein Schlagring habe ihn tödlich getroffen. Claudia erfährt bei der Gelegenheit, dass Henry einmal Boxer war. Einen Monat später findet die Beerdigung statt. Claudia geht es schlecht, aber sie hat den Verdacht, dass sie nicht von echter Trauer geplagt wird, sondern von Selbstmitleid. Sie fühlt sich von Henry im Stich gelassen. Ein halbes Jahr später hat sie sich wieder daran gewöhnt, allein zu leben. Sie fühlt sich nun gegen alle weiteren Katastrophen des Lebens gewappnet. Manchmal hat sie den Wunsch, ein Kind anzunehmen, durchschaut ihn aber sofort als egoistisch. Claudia beschwört, dass es ihr gut geht. Alle Koordinaten ihres Lebens stimmen. Sie hat inzwischen auch wieder eine Beziehung.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die in Ich-Form erzählte Novelle besteht aus 13 Kapiteln, die zeitlich eine komplexe Struktur bilden: Das erste Kapitel handelt von Henrys Beerdigung, dann springt die Erzählung um ein Jahr zurück – so lange kannte Claudia Henry – und führt dann bis in die Jetztzeit der Erzählerin, rund ein halbes Jahr nach Henrys Tod. Der eigentlichen Handlung vorangestellt ist ein kurzer Text, den man als Traum Claudias lesen kann, und der die Novelle symbolisch verdichtet: Ein Ich muss mit einem Begleiter über eine Brücke gehen, die nur aus zwei morschen Balken besteht. Beide haben große Angst. Der Begleiter streckt seine Hand aus, aber das Ich will, dass jeder für sich geht.

Die Ich-Erzählerin gibt die Handlung und ihre Gedanken sachlich und nüchtern wieder. Es dominieren Hauptsätze, die öfters unverbunden nebeneinanderstehen – ein Abbild von Claudias Weigerung, Sinnzusammenhänge zu finden. Ihr scheinbar distanzierter Bericht hat zwei Ebenen: Unter der Oberfläche, sozusagen zwischen den Zeilen, gibt es eine Tiefenerzählung, die das Gegenteil von dem vermittelt, was Claudia behauptet: dass es ihr gut gehe, dass sie alles im Griff habe, dass man auf Überschwänglichkeiten besser verzichte. So liest sich das eigentlich stille, vermeintlich emotionslose Buch auf der zweiten Ebene wie ein einziger unterdrückter Schrei.

Interpretationsansätze

  • Der Text führt die Entfremdung der Menschen in der modernen Zivilisation vor. Nicht nur Henry, der „fremde Freund“, ist auf Distanz, Claudia findet auch zu anderen keinen Zugang, nicht einmal zu sich selbst. Sie erzählt zudem kaum von Gefühlen, aber die Tatsache, dass sie immerzu Schlaf- und Beruhigungsmittel nimmt, spricht für sich.
  • Die politischen Verhältnisse in der DDR sind zwar nicht das Hauptthema, aber sie tragen zum Grundgefühl der Enge und Ausweglosigkeit bei, das die Novelle prägt: Nachbarn bespitzeln einander, wichtige Dinge erhält man nur über Beziehungen, abweichende Meinungen gefährden Karrieren. Und es ist schwer, sich von der Masse zu unterscheiden: Bis hin zur Einrichtung und Raumaufteilung ist in Claudias und Henrys Einzimmerwohnungen alles gleich.
  • In allen Lebensbereichen will Claudia traditionelle Rollen verlassen. Sie meint, alles Institutionalisierte durchschaut zu haben, und misstraut sogar ihren eigenen Gefühlen: Trauer hält sie für Selbstmitleid, ihren Kinderwunsch für Egoismus. Damit begibt sie sich in unauflösbare Widersprüche und in immer größere Einsamkeit.
  • Die Novelle vermittelt ein sehr negatives Bild der Ehe: Die Ehen um Claudia herum sind allesamt von Demütigungen, Lügen und Gewalt bestimmt. Ein Beispiel gelungener und lange währender Zweisamkeit sucht man im Text vergeblich.
  • Claudia „badet in Drachenblut“ wie Siegfried in der Nibelungensage, nachdem er das Untier besiegt hat. Damit wird er unverwundbar – bis auf eine Stelle zwischen den Schulterblättern, auf die beim Bad ein Lindenblatt gefallen ist. Claudia glaubt nach Henrys Tod keine schutzlose Stelle mehr zu haben, einen perfekten Panzer zu tragen. Sie glaubt, sich gegen das Leben wappnen zu können – und verpasst es damit.

Historischer Hintergrund

Rückzugskultur in der DDR

Die erzählte Zeit von Der fremde Freund erstreckt sich über die Jahre 1979 und 1980, eingeflochtene Erinnerungen führen bis ins Jahr 1958 zurück. Die Protagonistin Claudia gehört der Generation ihres Autors Christoph Hein an – einer Generation, die alle Phasen der DDR erlebt hat: z. B. die restriktive Sexualmoral und rückständige 50er-Jahre-Pädagogik samt Lehrern, deren Willkür man völlig ausgeliefert war, oder den Aufstand des 17. Juni 1953 und seine Niederschlagung. DDR-Bürger, die durch ihr kirchliches Engagement in Konflikt mit der Staatsdoktrin gerieten und denen Karrieren verwehrt wurden, hatten vor dem Mauerbau 1961 noch die Möglichkeit, in den Westen zu gehen.

Von 1963, nach dem VI. Parteitag der SED, bis 1971 folgte eine Phase wirtschaftlicher Reformen, in der die DDR zum Vorbild für die sozialistischen Nachbarländer aufstieg und zur stärksten Industriemacht des Ostblocks nach der Sowjetunion wurde. 1972 kam Erich Honecker an die Macht. Er erhob die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik zur Leitlinie, was zwar soziale Sicherheit für den Einzelnen garantierte, langfristig aber die Industrie der DDR ruinierte, die Arbeitsmoral verschlechterte und in der Bevölkerung den Glauben an den Sozialismus aushöhlte.

Zugleich wurde ein härterer Kurs gegen Kritiker des Regimes eingeschlagen, was im Lauf der 70er Jahre zu zahlreichen Hausarresten, Verurteilungen und Abschiebungen von Künstlern und Intellektuellen führte – etwa zur Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann 1976. Die sozialistische Utopie vom neuen Menschen war gescheitert, Mitläufermentalität und Opportunismus machten sich breit. Viele zogen sich in die private Nische zurück und suchten ihr Glück im verordneten Kleinbürgertum, in Datschen, Schrebergärten oder Hobbys.

Entstehung

Christoph Hein schrieb und feilte lange an Der fremde Freund. Ausgangspunkt war eine Begebenheit in seinem Umfeld: Ein Bekannter starb auf ähnlich absurde Weise wie Henry. Ursprünglich sollte die Novelle daher die Geschichte eines Mannes werden. Hein hatte den Text schon bis zur Hälfte geschrieben, als dieser ihn zu langweilen begann. Er ging zu einer weiblichen Hauptfigur über, und die Herausforderung, diese Perspektive zu gestalten, machte ihm die Arbeit sehr viel spannender: Er wollte beweisen, dass ein männlicher Autor stimmig aus weiblicher Sicht erzählen kann.

Der traumartige Anfang der Novelle, das Verfahren, ein Geschehen von einem fantastischen Ort her zu entwickeln, erinnert an Heins literarische Vorbilder, etwa an Gabriel García Márquez, Georg Büchner, Franz Kafka oder Miguel Cervantes. Das Buch passierte die DDR-Zensur ohne Schwierigkeiten. Bevor es allerdings ein Jahr später auch in der BRD erscheinen konnte, musste Der fremde Freund aus Titelschutzgründen in Drachenblut umbenannt werden.

Wirkungsgeschichte

Die Novelle stieß sofort auf große Aufmerksamkeit bei der Literaturkritik wie bei den Lesern, sowohl in Ost- wie auch in Westdeutschland. Hein wurde von Leserbriefen überhäuft und zu Kritiker- und Lesergesprächen eingeladen. Ein Lesezirkel aus Ärzten der Berliner Charité kam zu dem Ergebnis, dass das Buch von einer Frau geschrieben sein müsse, die den Namen Christoph Heins als Pseudonym gewählt habe – ein ebenso kurioser wie schlagender Beweis, dass dem Autor die Erzählung aus weiblicher Perspektive gelungen sein musste.

Die DDR-Literaturkritik lobte die präzise Darstellung von Einsamkeit und Entfremdung als allgemeine Folge der modernen Gesellschaft, ohne sie auf das politische System zu beziehen. Allerdings waren auch vereinzelte Stimmen zu vernehmen, die dem Text Verrat an der Emanzipation vorwarfen.

In der BRD lasen manche Kritiker die Novelle zunächst als Polemik gegen die DDR, während andere wie ihre ostdeutschen Kollegen die Allgemeingültigkeit der Problematik betonten. Im Publikationsjahr der Novelle, 1982, erhielt Christoph Hein den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR, ein Jahr später folgte der westdeutsche Kritikerpreis.

Auch im Ausland fand Der fremde Freund rasch große Beachtung, in so unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Systemen wie etwa Finnland und der Sowjetunion. „Hier stößt der Leser auf eine Prosa, die sich von keiner Seite ideologisch ausbeuten ließ“, begründete Hajo Steinert den internationalen Erfolg im Deutschlandfunk. Insgesamt wurde das Buch in 21 Sprachen übersetzt.

Über den Autor

Christoph Hein wird am 8. April 1944 in Heinzendorf (Schlesien) geboren. Er wächst in Bad Düben bei Leipzig als Sohn eines Pfarrers auf. Als solcher bleibt ihm die Oberschule in der DDR verwehrt, und er besucht bis zum Mauerbau ein Gymnasium in Westberlin. 1961 muss er es ohne Abschluss verlassen. Sein Geld verdient er u. a. als Montagearbeiter, Schauspieler, Buchhändler und Kellner. 1964 holt er sein Abitur an der Abendschule nach. Von 1967 bis 1971 studiert er in Berlin und Leipzig Philosophie. Anschließend wird er Dramaturg, später Autor der Ostberliner Volksbühne. In seinen Theaterstücken beschäftigt er sich mit revolutionären Umbrüchen; seine Komödie Die Ritter der Tafelrunde ist 1989/90 das meistgespielte Stück. Ab 1979 lebt Hein als freier Schriftsteller; nicht selten hat er Schwierigkeiten mit der Zensur in der DDR. 1980 debütiert er als Prosaautor mit ersten Erzählungen, 1982 feiert er mit Der fremde Freund einen durchschlagenden Erfolg. Unter dem Titel Drachenblut macht ihn diese Novelle auch in Westdeutschland und international bekannt. In den Romanen Horns Ende (1985) und Der Tangospieler (1989) stehen die Krisen der Helden dann in weitaus direkterem Zusammenhang mit dem politischen System der DDR. Stark autobiografisch gefärbt ist sein Roman Von allem Anfang an (1997), in dem er von der Kindheit eines Pfarrerssohns in einer ostdeutschen Kleinstadt erzählt. Willenbrock (2000) wiederum handelt von einem ostdeutschen Wendegewinner, den eine Serie von Raubüberfällen nachhaltig verunsichert. 1998 wird Christoph Hein der erste Präsident des wiedervereinigten Schriftstellerverbands P.E.N. Seine Ehefrau, die Filmregisseurin Christiane Hein, stirbt 2002. Bis 2006 ist Hein Mitherausgeber der Wochenzeitung Freitag. Er hat zwei Söhne und lebt in Berlin.

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