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Die Flüchtige

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Die Flüchtige

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 6

Suhrkamp,

15 min read
12 take-aways
Text available

What's inside?

Der sechste Band von Prousts Jahrhundertwerk: Liebe, Freundschaft, Trauer – nichts bleibt außer einer flüchtigen Erinnerung.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Die Flüchtige ist Teil von Prousts Lebenswerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Ich-Erzähler Marcel berichtet darin von seinem Versuch, seine lebenslange Schreibblockade zu überwinden und seinem müßigen Leben einen Sinn zu verleihen. In diesem sechsten von sieben Bänden ist das Licht am Ende des Tunnels bereits in Sicht. Denn der Schlüssel zur Erschaffung von Kunst liegt in der Erinnerung, und die ist in diesem Buch allgegenwärtig: Nach Albertines Flucht und ihrem Tod lässt Marcel seine Geliebte in der Vorstellung wiederauferstehen. Er stemmt sich gegen das Vergessen, indem er seiner Eifersucht neue Nahrung zuführt. Dennoch kann er nicht verhindern, dass Albertine sich langsam verflüchtigt und ihm schließlich gleichgültig wird. Proust schuf mit dieser Schilderung manischer Selbsterforschung ein beklemmendes Bild menschlicher Trauer. Er selbst hielt es für das am besten geschriebene seiner Werke – eine Einschätzung, die viele Kritiker zur Zeit der Erstveröffentlichung 1925 nicht teilten. Zu düster und obsessiv, lautete ihr Urteil. Aus heutiger Sicht möchte man eher sagen: entsetzlich ehrlich.

Take-aways

  • Die Flüchtige ist der sechste Band des siebenteiligen Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, eines der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts.
  • Zwischen 1913 und 1927 erschienen, ist Prousts Lebenswerk ein nostalgischer Abgesang auf die Belle Époque und ein modernes Erzählexperiment.
  • Die Flüchtige handelt von der Unbeständigkeit menschlicher Beziehungen und Überzeugungen.
  • Marcel versucht mit faulen Tricks, die aus seinem Haus entflohene Albertine zurückzuholen.
  • Gerade als er sie anflehen möchte, zu ihm zurückzukehren, erhält er die Nachricht, dass sie bei einem Reitunfall ums Leben gekommen ist.
  • Immer noch von Eifersuchtsfantasien verfolgt, lässt Marcel einen Freund in Albertines Vergangenheit wühlen.
  • Geschichten über wilde lesbische Orgien kommen ans Licht – ob den Informationsquellen zu trauen ist, weiß Marcel allerdings nicht.
  • Seine Vorstellung von Albertine zerfällt in so viele Einzelteile, dass er ihren Tod schließlich akzeptiert.
  • Er erkennt, dass keine noch so sicher geglaubte Wahrheit Bestand haben muss.
  • Dass sich sein bester Freund als homosexuell entpuppt, ist nur einer von vielen Fällen, in denen ihn seine Wahrnehmung getäuscht hat.
  • Proust schrieb den Text kurz vor seinem Tod 1922 radikal um. Sein Bruder versteckte diese Fassung und veröffentlichte eine andere, von ihm bearbeitete.
  • Prousts unvollendete Version wurde erst 1986 gefunden. Der Streit um die richtige Fassung dauert bis heute an.

Zusammenfassung

Tödlicher Ausbruch

„Mademoiselle Albertine ist fort!“ – Die hämischen Worte der Haushälterin Françoise treffen Marcel wie ein Hammerschlag. Sein Wunsch, sich von der Freundin zu trennen und allein nach Venedig zu reisen, ist vergessen. Nun überlegt er fieberhaft, warum sie geflüchtet ist und wie er sie zurückholen kann. Sein Stolz verbietet Marcel, sie um ihre Rückkehr anzuflehen. Stattdessen schreibt er einen lügnerischen Abschiedsbrief, in dem er die Trennung als endgültig anerkennt, und schickt seinen Freund Saint-Loup zu Madame Bontemps, der Tante Albertines, bei der diese eingezogen ist. Er soll die habgierige Dame diskret bestechen, damit ihre Nichte zu Marcel zurückkehrt. Doch der Plan geht schief: Saint-Loup gelingt es nicht, das Treffen vor Albertine zu verbergen. Verärgert schreibt sie Marcel, dass sie sich derartige versteckte Manöver verbitte: Wenn er sie brauche, hätte er es ihr direkt sagen sollen, sie wäre liebend gern zu ihm zurückgekehrt. Scheinheilig antwortet er, dass er sie keinesfalls wiedersehen wolle. Allerdings habe er kurz vor ihrer Flucht eine Jacht und einen Rolls-Royce für sie bestellt, und er brauche ihre Unterschriften, um diese nun unnötigen Käufe rückgängig zu machen. Dann kündigt er an, dass er ihre Freundin Andrée zu sich kommen lassen wolle, damit sie Albertines Platz einnehme.

„,Mademoiselle Albertine ist fort!‘ Um wie viel psychologischer als die Psychologie ist doch das Leiden!“ (S. 7)

Als ihm Saint-Loup dann von der gescheiterten Mission in der Touraine berichtet, wird Marcel misstrauisch. Albertines Tante, so Saint-Loup, sei gar nicht auf das Geldangebot eingegangen. Vielmehr habe sie einfach nicht daran geglaubt, dass Marcel ihre Nichte heiraten wolle. Marcel zweifelt an dieser Version und verdächtigt seinen Freund, die Rückkehr Albertines absichtlich sabotiert zu haben. Er beginnt sich Albertines Tod herbeizuwünschen, nur um seiner Eifersucht ein Ende zu setzen. Schließlich vergisst er seinen Stolz und bittet Albertine in einem Telegramm, sofort zu ihm zurückzukehren. Doch kaum hat er es abgeschickt, erreicht ihn selbst eines von ihrer Tante: Albertine ist bei einem Reitunfall ums Leben gekommen.

Eifersüchtige Trauer

Marcel blickt Françoise an wie ein Irrer, als sie mit zwei Briefen von Albertine in sein Zimmer tritt. Sie sind wenige Tage bzw. Stunden vor ihrem Tod geschrieben worden. Im ersten beglückwünscht sie ihn zu seiner Entscheidung, Andrée zu seiner Geliebten zu machen. Im zweiten nimmt sie alles zurück und fragt, ob sie noch immer zu ihm zurückkehren dürfe. Marcel empfindet ihre letzten Worte als tröstlich. Während er sich voller Sehnsucht an die zärtlichsten Momente ihrer Beziehung erinnert, ist er sich schmerzlich bewusst, dass er Albertine eines Tages nicht mehr lieben und völlig vergessen haben wird.

„Nur kommt es tatsächlich selten vor, dass man sich im Guten trennt, wäre man nämlich im Guten miteinander, würde man sich nicht voneinander trennen!“ (S. 17)

Marcels tiefe, dumpfe Trauer wird schon bald von kurzen Blitzen eifersüchtigen Misstrauens erhellt. Errötete seine Freundin nicht einmal, als jemand in Balbec ihren Bademantel erwähnte? Und was hatte das mit ihren häufigen Besuchen einer Duschanstalt zu tun? Marcel schickt Aimé, einen befreundeten Oberkellner, nach Balbec, um das herauszufinden. Während er über die unterschiedlichen Stationen seiner Liebe nachdenkt, wird ihm vieles bewusst: die Willkür des Lebens, wenn zufällige Ereignisse wie eine verpasste Verabredung das Schicksal eines Menschen besiegeln können; die zerstörerische Kraft der Eifersucht, die jegliche Ehrlichkeit im Keim erstickt; und die Unmöglichkeit, Macht über das Leben eines anderen zu gewinnen, wie er es bei Albertine versucht hat.

Liebesspiele unter der Dusche

Marcels Neugierde auf die Geheimnisse seiner verstorbenen Geliebten wird immer größer. Aimé schreibt aus Balbec, dass die Badefrau Marcels Verdacht bestätigt habe: Albertine habe sich mit verschiedenen Frauen in Duschkabinen getroffen und immer ein fürstliches Trinkgeld hinterlassen. Nach dem ersten Schock erinnert Marcel sich jedoch daran, dass seine Großmutter die besagte Badefrau für eine Lügnerin gehalten hat. Wie verlässlich kann also deren Aussage sein? Er wünscht sich Gewissheit und unternimmt doch alles, um die einmal erlangte wieder zu untergraben. Marcel trägt Aimé nun auf, sich neben der Villa von Madame Bontemps einzuquartieren, um mehr über Albertines Leben nach ihrer Flucht zu erfahren. Der Kellner geht mit einer Wäscherin ins Bett, die behauptet, Albertine habe am Ufer des Flusses mit ihr und ihren Freundinnen zärtliche Orgien gefeiert. In Marcels Vorstellung zerfällt Albertine allmählich in unzählige Teile und Identitäten.

„P. S. Ich antworte nicht auf Ihre Bemerkung wegen angeblicher Vorschläge, die Saint-Loup (...) Ihrer Tante gemacht haben soll. Das klingt ja nach Sherlock Holmes. Wofür halten Sie mich?“ (Marcel an Albertine, S. 64)

Noch immer quälen ihn viele offene Fragen. Andrée gegenüber gibt er vor, dass Albertine ihm seinerzeit alles über ihre und Andrées gemeinsame Vorliebe für Frauen erzählt habe. Andrée gesteht die Neigung für sich selbst lächelnd ein, streitet jedoch ab, jemals mit ihrer Freundin eine lesbische Beziehung geführt zu haben. Marcels Bitte, ihr beim Liebesspiel mit Frauen zuschauen zu dürfen, weist sie entrüstet ab. Er lässt deshalb zwei Wäscherinnen in ein Stundenhotel kommen und lauscht im Nebenzimmer, um sich Albertines geheimes Treiben besser vorstellen zu können. Die eigentümlichen Lustlaute erschrecken und faszinieren ihn zugleich. Er nimmt Frauen mit zu sich nach Hause, die ihn an die Verstorbene erinnern. Allerdings wird ihm dabei nur bewusst, dass ein Mensch nicht zu ersetzen ist. Schließlich akzeptiert er Albertines Tod als Tatsache. Erst dann setzt das Vergessen ein.

Eine alte Freundin

An einem schönen Novembermorgen sieht er im Bois de Boulogne einige junge Frauen, die ihn an die kleine Schar der Mädchen in Balbec erinnern. Wenige Tage später begegnet er ihnen vor dem Tor seines Hauses wieder. Eine Blonde wirft ihm vieldeutige Blicke zu. Marcel erkundigt sich nach ihrem Namen; er glaubt eine entfernte Verwandte der Guermantes zu erkennen, von der Saint-Loup ihm berichtet hat, dass sie in Stundenhotels verkehre. Sofort ist er schwer verliebt und möchte sie um jeden Preis kennen lernen. Seine Begeisterung erhält jedoch einen Dämpfer, als Saint-Loup ihm auf seine Anfrage mitteilt, dass sie keinesfalls die besagte Dame sei; jene sei klein und brünett.

„Wie wenig weiß man von dem, was man in seinem Herzen trägt!“ (S. 91)

Eine andere Nachricht hebt Marcels Stimmung wieder: Endlich ist ein Artikel von ihm im Figaro erschienen. Voller Stolz liest er ihn immer wieder und stellt sich die vielen Leser bei der Lektüre vor. Seine Selbstzweifel schwinden, und er begibt sich gut gelaunt zu den Guermantes. Dort wird ihm das blonde Mädchen vorgestellt – und entpuppt sich als niemand anders als seine erste große Liebe Gilberte! Ihre Mutter Odette hat nach dem Tod ihres Gatten Swann ihren alten Liebhaber, den adligen, aber finanziell ruinierten Forcheville, geheiratet. Um Gilbertes Aussichten auf eine glanzvolle Heirat zu verbessern, adoptierte dieser das Mädchen und verlieh ihr damit seinen guten Namen. So begann ihr gesellschaftlicher Aufstieg. Die Herzogin von Guermantes etwa, die sich über Swanns Heirat mit einer Kokotten stets empört und sich geweigert hatte, Odette oder deren Tochter zu empfangen, öffnete Gilberte nach der Namensänderung plötzlich die Tore zu ihrem Salon. Swanns Herzenswunsch wurde also erfüllt – zu dem Preis, dass die geliebte Tochter ihren jüdischen Vater nach dessen Tod verleugnet. Marcel erfüllt dieser Gedanke mit Traurigkeit. Und noch etwas ernüchtert ihn: Der Herzog von Guermantes und seine Frau haben seinen Artikel gar nicht bemerkt.

Gründe für Albertines Flucht

Marcel sehnt sich nun nicht mehr nach Albertine. Ihr Leben erfüllt ihn aber noch immer mit Neugierde. Einmal, während er Andrée streichelt, erzählt er ihr von seinem Wunsch, zärtliche Beziehungen zu einer von Albertines Geliebten zu unterhalten. Andrée lächelt nur schief und sagt, das sei unmöglich, weil er ein Mann sei. Dann erzählt sie ihm im Widerspruch zu früheren Beteuerungen, dass sie mit Albertine eine Liebesbeziehung geführt habe. Außerdem habe Albertine oft mit Morel paktiert, der jungen Fischer- und Wäschermädchen den Kopf verdreht habe, um sie dann Albertine zu überlassen. In einem Bordell hätten sie manchmal zu viert oder fünft Orgien gefeiert. Im Grunde habe Albertine gehofft, durch eine Heirat mit ihm, Marcel, von ihrem lasterhaften Leben erlöst zu werden.

„Die Illusion der väterlichen Liebe ist vielleicht nicht geringer als die der anderen; viele Töchter sehen in ihrem Vater nur einen alten Mann, der ihnen sein Vermögen hinterlässt.“ (S. 263)

Ist dies nun der endgültige Beweis? Marcel weiß es nicht. Er traut Andrée zu, aus reiner Missgunst die Unwahrheit zu erzählen. Zwar ist sie nicht von Natur aus schlecht. Doch sobald ein Mensch ihr zufrieden erscheint, spürt sie den Drang, sein Glück zu trüben. Später erfährt Marcel von Andrée weitere Einzelheiten, die die Handlungen Albertines in ein völlig neues Licht rücken. Marcels Verdacht, sie habe seinerzeit bei den Verdurins die lesbische Tochter Vinteuils und deren Freundin treffen wollen, war offenbar unbegründet. Tatsächlich hatte Albertine vor, dort ihren heimlichen Verlobten Octave zu treffen. Denn Marcel schien es damals mit einer Heirat nicht ernst zu meinen, und Madame Bontemps drängte ihre Nichte, in dieser Frage endlich etwas zu unternehmen. Andrée glaubt, dass Albertine Marcel vor allem auf Druck ihrer Tante verlassen hat. Marcel ist erstaunt und beschämt zugleich. Blind vor Eifersucht fehlte ihm anscheinend der Sinn für das Offensichtliche: Als unverheiratetes Mädchen befand sich Albertine in seinem Haus in einer prekären Lage, und ihre mutmaßliche Vorliebe für Frauen schloss den Wunsch nach einer Heirat keinesfalls aus. Octave, über dessen vermeintliche Oberflächlichkeit sich in Balbec sowohl Marcel als auch die kleine Schar lustig gemacht haben, wird übrigens später Andrée heiraten und ein berühmter Theaterautor werden.

In der Stadt des Vergessens

Marcel reist mit seiner Mutter für einige Wochen nach Venedig. Vom ersten Moment an vergleicht er die Stadt seiner Träume mit der Stätte seiner Kindheit, Combray. Letztere erscheint ihm neben der marmornen Pracht und den saphirblauen Kanälen kümmerlich. Voller Leidenschaft saugt er die melancholisch-volkstümliche Atmosphäre der Stadt in sich auf. Ihre einzigartigen Kunstschätze faszinieren ihn ebenso wie die geheimnisvolle Schönheit der venezianischen Arbeiterinnen, die er während seiner Gondelfahrten durch die dunklen Nebenkanäle anstarrt. Er spürt, dass er Albertine „wie in den Bleikammern eines inneren Venedigs“ in sich eingeschlossen hat, einem Gefängnis, zu dem ihm nur noch sporadische Erinnerungen Zugang verschaffen. Dann erreicht ihn völlig überraschend ein Telegramm, in dem die tot Geglaubte erklärt, sie sei sehr lebendig und wünsche, über Heirat zu sprechen – gezeichnet von Albertine. Marcel wird sich nun seiner völligen Gleichgültigkeit gegenüber Albertine bewusst: Er hat überhaupt keine Lust, die in seiner Vorstellung gealterte und aufgedunsene Exgeliebte wiederzusehen und dafür die jungen Schönheiten Venedigs aufzugeben. Er ignoriert das Telegramm.

„Die Erinnerung an Albertine war bei mir so fragmentarisch geworden, dass sie mir keine Trauer mehr bereitete und nur noch die Überleitung zu neuen Wünschen schuf, so wie ein Akkord den Übergang zu neuen Harmonien bildet.“ (S. 273)

Kurz vor seiner Abreise erfährt er, dass die Baronin Putbus eingetroffen ist. Deren Kammerfrau ist laut Saint-Loup ganz besonders freizügig. In der Hoffnung auf erotische Abenteuer besteht Marcel darauf, in Venedig zu bleiben. Seine Mutter fährt resigniert zum Bahnhof. Allein auf der Hotelterrasse sitzend erscheint ihm die Stadt plötzlich grau und schäbig. Der Gedanke an die Traurigkeit seiner Mutter lähmt ihn. In allerletzter Sekunde springt er auf und eilt zum Zug.

Eine Welt gerät ins Wanken

Unterwegs öffnen Mutter und Sohn Briefe, die sie noch im Hotel erhalten haben. In dem einen gibt Gilberte ihre Heirat mit Saint-Loup bekannt. Marcel wird klar, dass das Telegramm ebenfalls von ihr stammte – die schnörkelige Schrift Gilbertes wurde im Telegrafenbüro offenbar falsch entziffert. Seine Mutter indes erfährt aus ihrem Brief von der Heirat zwischen dem jungen Cambremer und Mademoiselle d’Oloron. Hinter dem vornehmen Namen verbirgt sich die Nichte des Westenmachers Jupien, die der Baron von Charlus nach seinem Zerwürfnis mit Morel adoptiert und der er einen seiner vielen Adelstitel vermacht hat.

„Einerseits ist die Lüge häufig ein Charakterzug; andererseits ist sie bei Frauen, die sonst nicht verlogen sind, eine natürliche, improvisierte, dann immer besser ausgebaute Verteidigungsstellung gegen jene plötzliche Gefahr, die imstande wäre, jedes Leb“

Das Eheglück ist in beiden Fällen nicht von langer Dauer: Die Nichte Jupiens stirbt wenige Wochen nach der Heirat an Typhus. Der Baron von Charlus widmet sich daraufhin ganz seinem homosexuellen Schwiegersohn. Und Saint-Loup stellt sich zu Marcels großem Erstaunen ebenfalls als „Bewohner Sodoms“ heraus. Er nimmt sich Morel zum Geliebten und überschüttet diesen mit dem Luxus, der ihm dank seiner reichen Gattin zur Verfügung steht. Gleichzeitig unterhält er zum Schein mehrere Geliebte, um von seiner Veranlagung abzulenken. Marcel erkennt, dass keine als unverrückbar geglaubte Wahrheit mit der Zeit Bestand hat. Anlässlich eines Besuchs bei Gilberte auf ihrem Anwesen in der Nähe von Combray wird er darin bestärkt. Während eines Spaziergangs zeigt sie ihm einen Weg, der über Méséglise nach Guermantes führt – als Kind hat er beide Gegenden für völlig unvereinbar gehalten. Und sie erzählt ihm, dass sie vor vielen Jahren, bei ihrem ersten Treffen vor der rosigen Weißdornhecke, in ihn verliebt war. Mit einer anzüglichen Geste, die er als verachtend empfand, habe sie ihn zu einem geheimen Treffen aufgefordert. Außerdem sei auch sie vor ihrer Verlobung eher den Frauen zugetan gewesen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Ein Großteil von Die Flüchtige spielt im Pariser Zimmer des Ich-Erzählers – wie dies schon im vorangehenden Band Die Gefangene der Fall ist. Anstatt sich selbst zu rühren, schickt Marcel Freunde und Bekannte los, um Albertine zurückzuholen bzw. um nach ihrem Tod pikante Details aus ihrem Privatleben auszugraben. Mehr noch als ein Handlungsschauplatz ist das Zimmer im sechsten Band des Romanzyklus ein Ort der Erinnerung: Während die chronologische Abfolge der spärlichen Ereignisse zunehmend verschwimmt, wird der Leser ständig auf Vergangenes verwiesen. Anders als in den vorangehenden Bänden bilden diese Rückblenden das eigentliche Erzählgerüst des Romans. Dem Prinzip der Erinnerung stellt Proust die im Verborgenen wirkende Kraft des Vergessens entgegen. In drei Etappen legt der Ich-Erzähler den Weg seiner Liebe umgekehrt zurück: von rasender Eifersucht über verständnisvolle Zuneigung bis hin zu völliger Gleichgültigkeit. Der Autor arbeitet wiederholt mit thematischen Spiegelungen: etwa wenn er die bescheidene Schönheit Combrays dem erhabenen Flair Venedigs gegenüberstellt oder wenn er Marcels Vergessen damit vergleicht, wie Gilberte ihren Vater verleugnet.

Interpretationsansätze

  • Der Titel Die Flüchtige umschreibt nicht nur Albertines Flucht aus der Gefangenschaft, sondern auch Marcels Unvermögen, sie als ein ganzheitliches Wesen zu begreifen. Nicht zufällig nennt er sie „Göttin der Zeit“: Albertine zerfällt in viele Teile, ist unbeständig und unfassbar.
  • Objektive Erkenntnis ist unmöglich: Alle Berichte über Albertines angebliche Verdorbenheit könnten auch der Fantasie ihrer Urheber entspringen, und Marcel muss die eigenen, sicher geglaubten Überzeugungen immer wieder revidieren – etwa Saint-Loups Wandlung vom Frauenheld zum Schwulen oder Albertines ungeahnte Heiratspläne.
  • Proust zeichnet das düstere Bild einer schrankenlosen und unmoralischen Gesellschaft: Hetero-, Homo- und Bisexuelle vergnügen sich an Flussufern, unter Duschen und in Bordellen. Adlige und Kleinbürger treiben es mit Arbeiterinnen und Erwachsene mit Kindern. Und auf dem Heiratsmarkt zählt nur das eine: eine beiderseits profitable Vereinigung von Geld und gesellschaftlichem Prestige.
  • Proust variiert wiederholt die Idee vom fließenden Übergang zwischen Tugend und Laster, den beiden Aspekten der menschlichen Natur. In Die Flüchtige werden Marcels Pilgerfahrten zu den Sehenswürdigkeiten Venedigs mit seiner nächtlichen Jagd nach erotischen Abenteuern kontrastiert. Auch in den Charakterisierungen Morels (künstlerisches Genie vs. gemeine Natur) oder Albertines (loyale Freundin vs. lügnerische Verräterin) scheint diese Ambivalenz immer wieder durch.
  • Das Schaffen von Kunst durch Erinnerung steht im Mittelpunkt von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Proust unterscheidet zwischen dem willentlichen und dem unwillkürlichen Erinnern. Während Ersteres oft scheitert, wird Letzteres spontan durch unvermittelte Sinneseindrücke hervorgerufen.

Historischer Hintergrund

Belle Époque und Fin de Siècle

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit spielt im Frankreich der Belle Époque, in einer Zeit des relativen Friedens und Wohlstands zwischen dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Die 1875 ausgerufene Dritte Republik bescherte dem aufstrebenden Großbürgertum ideale Bedingungen, um von der zweiten Welle der industriellen Revolution zu profitieren. Automobile verdrängten die Kutschen von den Straßen, Flugzeuge und die Verbreitung des Telefons ließen Entfernungen schrumpfen, und zur Pariser Weltausstellung 1889 baute man den Eiffelturm, der bis in die schwindelnde Höhe von 300 Metern emporgetrieben wurde. In den Pariser Salons feierten die Reichen und Privilegierten das Leben, die Schönheit und sich selbst.

Im kulturellen Leben gewann ab 1890 der Begriff des Fin de Siècle an Bedeutung. Die rasanten Veränderungen in Wissenschaft und Gesellschaft sorgten für mehr Freiheit, während bestehende Wertvorstellungen ins Wanken gerieten. Viele Künstler rebellierten gegen die Zwänge und Konventionen ihrer Zeit mit einer frivolen Lebensweise, exzessivem Drogenkonsum und einem offeneren Umgang mit der Sexualität, auch der gleichgeschlechtlichen. Der typische Dandy des Fin de Siècle sah seine Lebensaufgabe in erster Linie darin, seinen Stil und sich selbst zu kultivieren. Marcel Proust gilt als großer Chronist dieser untergehenden Epoche und zugleich als Wegbereiter der anbrechenden literarischen Moderne.

Entstehung

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit war ursprünglich nur als zweibändiges Werk geplant. Als der erste Band Unterwegs zu Swann 1913 in Druck ging, zeichnete sich ab, dass das Gesamtwerk wohl drei Teile umfassen würde (letztendlich wurden es dann sieben), woraufhin Proust die Gliederung veränderte und neue Figuren und Episoden hinzufügte. Der zweite Band war bereits gesetzt, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und Prousts Verleger das Projekt auf Eis legte. Auch das Leben des Autors schrieb den Roman mehrmals um: Im Mai 1914 kam Prousts Sekretär Alfred Agostinelli, eines von mehreren Vorbildern für die Figur der Albertine, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Proust entwickelte daraufhin einen neuen Romanteil, der Albertines Gefangenschaft, ihre Flucht und ihren Tod behandelte.

Die Flüchtige blieb unvollendet. Obwohl Proust seinem Verleger versichert hatte, dass im Fall seines Todes die nachgelassenen Texte als vollendet gelten dürften, schrieb er das Typoskript von Die Flüchtige in den Monaten vor seinem Tod im November 1922 radikal um: Er strich über die Hälfte des Textes, darunter auch Aimés Nachforschungen in Balbec und die drei Etappen des Vergessens. Anstatt Albertine in der Touraine sterben zu lassen, verlegte er ihren Tod ans Ufer der Vivonne nach Montjouvain – im Roman ein Symbol der lesbischen Liebe. Sein Bruder Robert Proust sah in dieser Fassung offenbar eine Bedrohung für den Ruf des Autors und hielt sie zeitlebens unter Verschluss. Die 1925 erschienene Erstausgabe von Die Flüchtige war insofern ein Artefakt Robert Prousts. Er hatte herausgegriffen, was ihm gefiel, den Band in Kapitel eingeteilt und diese eigenhändig mit Überschriften versehen.

Wirkungsgeschichte

Trotz Robert Prousts Bemühungen blieb nicht allen Kritikern verborgen, dass der Band Stückwerk war. Es ging sogar das Gerücht um, der Autor habe nur skizzenhafte Entwürfe hinterlassen. Während viele die relative Eintönigkeit des Textes kritisierten, sah Henri Bidou sie als einen Gewinn: In La Revue de Paris würdigte er das Buch als „das eindringlichste Werk“ Prousts, da es frei sei „von jenen die Bewegung hemmenden Abschweifungen, die die anderen Bände überwuchern“. Das Originaltyposkript wurde erst 1986 im Archiv von Robert Prousts Tochter gefunden, und der Streit um die richtige Fassung dauert bis heute an.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gilt vielen als das wichtigste literarische Werk des 20. Jahrhunderts. Spätestens 1972 fand es mit einem Sketch der britischen Komikergruppe Monty Python auch in die Popkultur Eingang: Darin sollen die Teilnehmer eines „Proust-Zusammenfassungs-Wettbewerbs“ den Inhalt der sieben Bände in 15 Sekunden wiedergeben – alle scheitern, und am Ende gewinnt „das Mädchen mit den größten Titten“. Volker Schlöndorff verfilmte 1984 den ersten Band unter dem Titel Eine Liebe von Swann. Zur Jahrtausendwende kam es dann zu einem echten Proust-Revival: Alain de Botton schrieb 1997 den augenzwinkernden Ratgeber Wie Proust Ihr Leben verändern kann, und 1998 erschien in Frankreich zum Entsetzen orthodoxer Proust-Fans Stéphane Heuets Comic-Adaption des Romans. Raoul Ruiz verfilmte 1999 Die wiedergefundene Zeit, Chantal Akerman 2000 Die Gefangene, und das Londoner Royal National Theater brachte im selben Jahr das Proust Screenplay des britischen Dramatikers Harold Pinter auf die Bühne.

Über den Autor

Marcel Proust wird am 10. Juli 1871 in Auteuil bei Paris geboren. Sein Vater ist ein berühmter Arzt, die Mutter stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Bankiersfamilie. Ab 1878 verbringt er die Ferien in dem Dorf Illiers bei Chartre, das später als Vorbild für das fiktive Combray dienen wird. 1881 erleidet der kränkliche Proust seinen ersten Asthmaanfall. Ab dem Folgejahr besucht er das Lycée Condorcet, wo er zusammen mit Schulkameraden verschiedene literarische Zeitschriften herausbringt. Nach dem Abitur dient Proust trotz seiner schwachen Gesundheit für ein Jahr in der Armee in Orléans. Anschließend studiert er Politik und Jura, bricht ab und macht in Philosophie und Literatur einen Abschluss. Auf Druck seines Vaters nimmt er 1895 eine unbezahlte Stelle als Bibliothekar an, lässt sich aber bald darauf krankschreiben. Sein nach außen hin müßiges Leben, die exzellenten Verbindungen zum Adel sowie die Besuche in den schicksten Pariser Salons verschaffen ihm den Ruf eines Snobs und gesellschaftlichen Emporkömmlings. Der Autor kämpft zeitlebens mit seiner Homosexualität, die sein Vater ihm während seiner Jugend noch durch einen Bordellbesuch hat austreiben wollen. Proust hat zahlreiche Liebhaber, bekennt sich aber nie offen zu seiner sexuellen Orientierung. 1896 erscheint sein erstes Buch, die Kurzgeschichtensammlung Les plaisirs et les jours (Freuden und Tage). Mit einem Kritiker, der sich abschätzig darüber äußert, duelliert er sich. 1903 stirbt sein Vater und zwei Jahre darauf die über alles geliebte Mutter. Proust erbt ein Vermögen, das ihm ein arbeitsfreies Leben im Luxus ermöglicht. Doch seine Gesundheit verschlechtert sich zusehends. Er zieht sich mehr und mehr in das Schlafzimmer seiner Pariser Wohnung zurück und arbeitet an seinem Lebenswerk À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Den ersten der sieben Bände gibt er 1913 auf eigene Kosten heraus. Die letzten drei veröffentlicht sein Bruder posthum bis 1927. Marcel Proust stirbt am 18. November 1922 an einer Lungenentzündung.

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