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Die Antiquiertheit des Menschen

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Die Antiquiertheit des Menschen

C. H. Beck,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Günther Anders’ Mammutwerk über die Folgen des technischen Fortschritts.


Literatur­klassiker

  • Anthropologie
  • Moderne

Worum es geht

Sind wir vom selbstgemachten Fortschritt überfordert?

Das Internet, Smartphones, Smart Homes, Selfies, künstliche Intelligenz, selbstfahrende Autos – Günther Anders hätte diese Entwicklungen wohl mit einigem Grauen beobachtet. Seine Frage „Können wir emotional und geistig noch mit dem menschengemachten Fortschritt mithalten?“ ist heute so aktuell wie vor 70 Jahren. Seit dem Beginn des Maschinenzeitalters verläuft die technische Entwicklung immer schneller und niemals so rasant wie in den letzten Jahrzehnten. Unsere Emotionen und unsere Fantasie, mahnte Anders, sind von der Realität des Machbaren längst überholt worden. Viele von seinen Prophezeiungen haben sich bewahrheitet, doch längst nicht alle. Die Automatisierung hat uns nicht alle arbeitslos gemacht und trotz des Fernsehens gibt es weiter zivilgesellschaftliches Engagement. Anders’ Pessimismus müssen wir nicht teilen, doch seine Warnung, dass Technik nicht immer vorbehaltlos positiv zu sehen ist und dass nicht alles, was machbar ist, auch getan werden muss, gilt heute mehr denn je.

Take-aways

  • Die Antiquiertheit des Menschen ist das Hauptwerk des Philosophen und Schriftstellers Günther Anders.
  • Inhalt: Der vom Menschen gemachte technische Fortschritt hat Auswirkungen auf die menschliche Psyche und die Gesellschaft. Der Mensch ist vom Fortschritt überfordert und darum „antiquiert“. Die Welt wird vermittelt und verfälscht durchs Fernsehen wahrgenommen. Produkte stillen nicht Bedürfnisse, sondern wecken diese erst. Die Atombombe eröffnet dem Menschen die göttliche Macht, alles zu vernichten. Im Zeitalter der Technik wird alles, was machbar ist, auch gemacht.
  • Zwei Monstrositäten, die Atombombe und der Holocaust, sind Themen, um die Anders’ Überlegungen immer wieder kreisen.
  • Das Werk ist stark beeinflusst von Anders’ Lehrer Martin Heidegger, dem er in vielen Punkten widerspricht.
  • Anders arbeitete nach seiner Emigration in die USA in einer Fabrik und verarbeitete die Erfahrungen in seinem Werk.
  • Er war zeit seines Lebens erbitterter Atomkraftgegner und warnte unermüdlich vor den möglichen Folgen dieser Technik.
  • Sein Stil verbindet Journalismus und Philosophie: In Anlehnung an Goethes Gelegenheitsdichtung nannte Anders seine Essays Gelegenheitsphilosophie.
  • Zwischen den beiden Bänden von Die Antiquiertheit des Menschen liegen fast 25 Jahre. Ein dritter Band war geplant.   
  • Obwohl Anders im akademischen Bereich lange unbeachtet blieb, wurden seine Thesen von vielen Denkern aufgegriffen und weitergedacht.
  • Zitat: „Es wird eine der Hauptaufgaben der Philosophie der Technik sein, den dialektischen Punkt ausfindig zu machen und zu bestimmen, wo sich unser Ja der Technik gegenüber in Skepsis oder in ein unverblümtes Nein zu verwandeln hat.“

Zusammenfassung

Das prometheische Gefälle

Die technische Entwicklung verläuft rasant. Mit jedem neuen Gerät setzt ein Konsumzwang ein, dem man sich kaum verschließen kann. Die Geräte sind keine Mittel mehr, vielmehr ist die Welt selbst ein Makrogerät geworden, das den Erwerb immer neuer Geräte nötig macht. Kritik daran ist nicht gern gesehen und bringt jedem, der es versucht, den Vorwurf ein, reaktionär zu sein. In der ersten industriellen Revolution ging es um die Entfremdung des Menschen durch die neue Herstellungstechnik – die Weber wehrten sich dagegen. Nun betrifft die Revolution das Produkt selbst. Kennzeichen dieser Zeit ist das „prometheische Gefälle“: Die Technik entwickelt sich schneller, als die Menschen mithalten können. Der Mensch ist aufgrund seiner eigenen Fortschrittslust antiquiert.

Die prometheische Scham

Die „prometheische Scham“ entsteht aus dem Gefühl der Unvollkommenheit, das der Mensch gegenüber seinen perfekten Produkten empfindet. Man sollte meinen, dass alle, die an der Herstellung neuer Produkte beteiligt sind, Stolz empfinden. Doch der einzelne Arbeiter hat aufgrund des vielteiligen Produktionsprozesses gar keine Beziehung zum fertigen Produkt. Der Mensch ist, wenn man ihn mit einer Maschine vergleicht, eine fehlerhafte Konstruktion. Abhilfe schaffen soll das „Human Engineering“: Die Grenzen des menschlichen Körpers werden verschoben, damit der Mensch den Geräten besser dienen kann. Eine kaputte Schraube kann leicht durch eine andere ersetzt werden, da Schrauben endlos reproduzierbar sind. Der Mensch dagegen kann zwar durch andere in seiner Funktion ersetzt werden, aber nicht in seiner Identität. Diese Einzigartigkeit wird im Vergleich zur Serienproduzierbarkeit der Dinge zum Makel. Das wird besonders deutlich am Phänomen der Bildersucht, der Ikonomanie. Foto und Film eröffnen die Möglichkeit, Ersatzstücke von sich zu schaffen, die in unbegrenzter Serie produziert werden können. Filmstars haben dieses Vorgehen perfektioniert – sie sind dem Traum, Ding zu werden, ganz nahe, und werden dafür von anderen Menschen verehrt.

„In keinem anderen Sinne, als es Napoleon vor 150 Jahren von der Politik, und Marx es vor 100 Jahren von der Wirtschaft behauptet hatte, ist die Technik nun unser Schicksal.“ (Bd. 1, S. 20)

Die Scham ist ein selbstreflexiver Akt, in dem sich der Mensch als mit sich selbst identisch und zugleich als nicht identisch begegnet. Oft ist die Eigenschaft, für die man sich schämt, zugleich etwas, auf das man keinen Einfluss hat, eine „ontische Mitgift“, mit der die Natur den Menschen ausgestattet hat. Ein Beispiel ist die Geschlechtsscham, bei der sich das Ich für sein Es, also das Vor-Individuelle, schämt. Auch vor den Dingen schämt sich der Mensch für sein Es. Das Ich wünscht sich, mit der Maschine konform zu sein, doch der Leib spielt nicht mit. Der Arbeiter muss sich in seine Aufgabe einspielen, lernen, zum ausführenden Organ der Maschine zu werden. In den Moment, wenn er seine Aufgabe nicht oder unzureichend erfüllt, kommt es zu einer Selbstbegegnung. Der Verlust der perfekten Konformität löst Scham aus.

Die Welt als Phantom und Matrize

Keine Technik ist nur Mittel, denn mit ihrer Existenz gibt sie schon ihre Nutzung vor. Als Tatsache prägt sie unser Leben. Die Freiheit, sie nutzen oder nicht nutzen zu können, ist eine Illusion. Die Konsumenten werden zu Heimarbeitern und ihre Arbeit ist die Transformation in Massenmenschen. Der Fernseher ist der neue Mittelpunkt des Heims, auf den sich die Familienmitglieder ausrichten. Die Ereignisse werden ins Haus geliefert, aber es sind keine echten Ereignisse mehr, sondern nur Bilder von Ereignissen. Das Ereignis wird durch seine Reproduktion zur Matrize für das Fernsehbild oder die Meldung. Das Ziel jeder Ware ist es, so leicht verwendbar wie möglich zu werden, also den Widerstand gegen ihre Nutzung gering zu halten. Deswegen müssen Sendungen darauf abzielen, optimal konsumierbar zu sein, die Ausgangsprodukte zu entkernen und abzuschleifen. 

„Das wirkliche Heim ist nun zum ‚Container‘ degradiert, seine Funktion erschöpft sich darin, den Bildschirm für die Außenwelt zu enthalten.“ (Bd. 1, S. 123) “

Fernsehen und Radio machen uns glauben, direkt das Geschehen übermittelt zu bekommen. Doch ist eine Fernsehübertragung eines Gerichtsverfahrens wirklich dasselbe wie die direkte Teilnahme? Nein, denn das Gerät lässt keine Interaktion zu. Wir können zuhören, aber nicht antworten. Die Ereignisse werden zu Phantomen, Momentaufnahmen, die den Horizont der Zuschauer und -hörer nicht erweitern. Der Mensch von heute verrichtet bei der Arbeit für ihn inhaltsleere Tätigkeiten – und setzt dieses Verhalten fort, wenn er nicht arbeitet. Die Vorstellung, die Zeit der Muße mit eigener Beschäftigung füllen zu müssen, erfüllt den zur Unfreiheit erzogenen Menschen mit Angst.

Nachrichten und Konsumzwang

Nachrichten bestehen aus einem Subjekt und einem Prädikat, S und p. Zum Beispiel: „Der Kohlenkeller (S) ist leer (p).“ In jeder Nachricht liegt bereits eine Vorentscheidung, über was informiert wird, denn sie wird nie den ganzen Sachverhalt abbilden können. Fernseh- und Radiosendungen verwischen diese Tatsache, den Unterschied zwischen dem eigenen Erleben und dem nur Benachrichtigtwerden. Die Tatsache, dass Vor-Urteile verbreitet werden, wird verschleiert. Das Subjekt S erscheint als nichts mehr als sein Prädikat p und wird vollständig darauf reduziert. Dieser Vorgang gilt für alle Waren. Im Schaufenster wird der Gegenstand auf eine Eigenschaft reduziert, um Käufer anzulocken.

„Da sitzen wir also, und ein Bissen Welt fliegt uns ins Netz und ist unser. Aber was uns da zuflog, flog nicht, sondern wurde uns zugeworfen. Aber was uns da zugeworfen wurde, war kein Bissen Welt, sondern ein Phantom.“ (Bd. 1, S. 216) “

Die Schablone der Wirklichkeit wird also als Wirklichkeit ausgegeben. Die Konsumenten verlangen nach Sensation, die sich aber immer in die Schablone einfügen muss. Das Bedürfnis wird durch das Angebot geprägt, das Handeln durch das definiert, was gekauft werden soll. Dabei ist es unerheblich, ob man sich das Objekt der Begierde auch leisten kann. Zur Not wird auf Raten gezahlt. Wenn der Konsument das Objekt einmal hat, setzt ein zweiter Zwang ein: nämlich das Produkt auch zu nutzen. Man kauft nicht, was man braucht, sondern man benötigt, was man gekauft hat. Die Welt wird frei Haus geliefert, doch es ist eine Schlaraffenwelt, die wir nicht weiter bearbeiten können, die keine Mühe von uns verlangt.

Die Bombe

Das Zeitalter nach der Erfindung der Wasserstoffbombe ist unerforschtes Terrain, weil es die Menschheit vor völlig neue Herausforderungen stellt. Die Zerstörungskraft der Bombe ist so ungeheuer, dass die Macht der Menschen an die Stelle der göttlichen tritt. Der Mensch wird zum Titan. Die Bombe ist kein Mittel, denn sie ist in der Lage, die gesamte Menschheit zu zerstören. Das macht sie zu einem nicht mehr steigerbaren Absoluten. Auch wenn sie nicht gezündet wird, ist sie doch ständig im Einsatz – als Druckmittel und in den Experimenten, die keine mehr sind, weil ihre Verwüstungen real sind. Die Vorstellungskraft des Menschen reicht nicht aus, um die Folgen ihrer Verwendung abzusehen. Das macht uns unfähig, angemessene Angst davor zu haben.

„‚In dubio contra reum‘. Das bedeutet: Solange der Täter das Gerät nicht abschafft; (…) solange er seine Aktionen, die er zu Unrecht ‚Versuche‘ nennt, fortsetzt, so lange muss er als schuldig angesehen werden.“ (Bd. 1, S. 328)

Die wichtigste Aufgabe unserer Zeit besteht darin, das prometheische Gefälle zwischen unseren Produkten und unseren Vermögen (wie Handeln, Denken, Fühlen) zu überbrücken. Der moderne Mensch ist nicht mehr in der Lage, das große Ganze zu sehen. Deswegen kann es auch nicht überraschen, dass in den Konzentrationslagern Menschen gearbeitet haben, die zu Hause liebende Familienväter waren. Der Arbeiter verrichtet seinen Dienst „aktiv-passiv-neutral“, er tut mit, ohne dass das Endprodukt einen Einfluss auf seine Arbeit hat. Sein Gewissen bleibt von dem moralischen Status des Produkts unberührt. Er ist „gewissenloser“ Konformist. Aus diesem Grund ist es nicht ausgeschlossen, dass sich die Grauen des Dritten Reiches wiederholen. Der einzige Ausweg ist das Gelöbnis, sich jeder Mitarbeit an der Bombe, und sei sie auch noch so gering, zu verweigern und zugleich das Thema immer wieder anzusprechen und sich von denen abzuwenden, die ihre Existenz zu rechtfertigen versuchen.

Die dritte industrielle Revolution

Seit dem ersten Band sind 25 Jahre vergangen und die technische Entwicklung hat sich weiter beschleunigt. Es ist die Zeit der dritten industriellen Revolution. Sie wird durch die Möglichkeit definiert, dass sich die Menschheit durch eine selbst geschaffene Waffe selbst auslöscht und durch die Gentechnik eine neue Spezies erschafft. Aufgrund der fortschreitenden Automatisierung steht vielen eine Existenz ohne Arbeit bevor. Der Grundsatz dieser dritten Revolution ist die These, dass alles Machbare auch getan wird und alles Rohstoff ist, der genutzt werden will.

„In der Tat können wir unserem ‚prometheischen Gefälle‘ nun eine dritte Version geben. Denn dieses besteht nun zwischen dem Maximum dessen, was wir herstellen können, und dem (beschämend geringen) Maximum dessen, was wir bedürfen können.“ (Bd. 2, S. 19) “

Produkte werden immer schneller durch neue Modelle ersetzt. Es kann nichts so schnell benötigt werden, wie es hergestellt wird; deswegen werden künstliche Bedarfe erschaffen. Neue Ware wird schon als Ausschuss produziert, denn kaum ist sie auf dem Markt, erklärt uns die Werbung, sie sei schon wieder veraltet. Wir leben in einer Wegwerfwelt. Die Gegenstände, die wir besitzen, haben gar keine Zeit mehr, unser Eigentum zu werden. Die Produkte werden liquide – am eindrücklichsten zeigt sich das bei den Fernsehsendungen, die schon beim Konsum verbraucht werden.

„Die Mode ist die Maßnahme, die die Industrie verwendet, um ihre eigenen Produkte ersatzbedürftig zu machen.“ (Bd. 2, S. 54)

Die Menschen werden in „Masseneremiten“ verwandelt, die sich kaum noch zu einer gemeinsam agierenden Menge zusammenschließen können. Sie werden passiv und unfähig zur Revolution. Da die Arbeiter heute einen höheren Lebensstandard haben, stellt sich die Frage, ob sie noch als Proletarier bezeichnet werden können. Der Begriff trifft weiterhin zu, weil der Grad der Unfreiheit immer noch sehr hoch ist. Der Arbeiter an der Maschine bedient nur noch und ist von seinem Produkt vollständig entfremdet. Je weiter die Automatisierung fortschreitet, umso mehr Menschen werden zur Nichtarbeit verdammt sein. Die, die noch arbeiten, werden um die Lust an der Anstrengung gebracht. Diese Lust suchen sich die Menschen dann in der Freizeit, vor allem im Sport, der ihnen Wettbewerb und Solidarität bietet.

Konformismus

Die Apparate streben danach, zu einem einzigen großen Apparat zusammenzuwachsen und sich die Menschen als Maschinenteile einzuverleiben. In diesen immer größeren Maschinennetzen haben schon kleine Störungen große Folgen. Die Science-Fiction-Literatur zeigt uns jetzt schon, was eines Tages möglich sein wird. Deren Autoren stehen im Dienst der Technokratie, weil sie ihre Leser für die zukünftige Herrschaft der Maschinen vorerziehen.

„Es wird eine der Hauptaufgaben der Philosophie der Technik sein, den dialektischen Punkt ausfindig zu machen und zu bestimmen, wo sich unser Ja der Technik gegenüber in Skepsis oder in ein unverblümtes Nein zu verwandeln hat.“ (Bd. 2, S. 141)

Die Menschen werden Konformisten. Ihre Einzigartigkeit wird durch die Medien abgeschliffen und gleichgeschaltet. Egozentrik gilt als krankhaft. Selbst in der Freizeit sind die Konformisten Angestellte der Werbung, und diese Unfreiheit ist umso effektiver, weil sich die Betroffenen ihrer Ketten nicht bewusst sind. Sie sind „Geheimagenten“, vor denen geheimgehalten wird, wozu ihr Handeln letztlich dient: Ihre Knechtschaft wird Ihnen als Genuss verkauft, während die eigentlichen Genießer diejenigen sind, die am Konsum verdienen. Ob in dieser Welt überhaupt noch von einem freien Willen die Rede sein kann, ist fraglich. Kennzeichen der Zeit sind die Abhörgeräte und die Tatsache, dass viele Menschen sie nicht schlimm finden, da sie ja nichts zu verbergen haben. Im totalitären konformistischen Staat schämen sich die Menschen für ihre Scham.

Raum, Zeit, Sinn

Die Kategorien Raum und Zeit sind nicht mehr wie bei Kant Bedingungen der Anschauung, sondern Bedingungen der Behinderung geworden, was die Verwirklichung der Schlaraffenwelt betrifft, in der uns der Braten in den Mund fliegt. Zwischen dem Bedürfnis und seiner Erfüllung sollen möglichst wenig Raum und Zeit liegen. Das Problem: Durch die immer schnellere Erfüllung entstehen Zeitüberschüsse, mit denen wir nichts anzufangen wissen.

„Wir sind in eine industrielle Oralphase hineinlaviert worden, in der der Kulturbrei glatt hinuntergeht.“ (Bd. 2, S. 282)

Wenn es ein Gefühl gibt, das unsere Zeit prägt, ist es das der Sinnlosigkeit. Statt jedoch die zugrunde liegende Tatsache in den Fokus zu nehmen, wird nur das Gefühl bekämpft. Hunderte von Ratgebern sollen bei der Sinnsuche helfen, doch sie verkennen, dass es einen solchen Sinn nicht gibt. Die meisten von uns führen sinnleere Tätigkeiten aus, und in unserer Freizeit setzen wir diese Beschäftigung fort, indem wir uns mit sinnlosen Hobbys die Zeit vertreiben. Kein Wunder, dass so viele Menschen Zuflucht zu Drogen nehmen. Grundsätzlich ist zu fragen, ob ohne einen Gott überhaupt sinnvoll von einem Sinn gesprochen werden kann. Ein Sinn muss immer auf etwas gerichtet sein, er muss ein „für“ haben, das endlos weitergegeben werden kann und ohne eine göttliche Macht keinen Endpunkt hat. 

Die Zukunft deuten

Umgeben vom rasanten technischen Fortschritt sind wir alle heute schon von gestern. Diese Lücke zu überbrücken, scheint beinahe unmöglich. Wie sollen wir mit dieser Situation umgehen? Es ist ja nicht so, als hätten wir die Wahl, die Technik zu nutzen – wir sind dazu gezwungen. Eine Lösung wäre eine neue Bescheidenheit – der bewusste Verzicht im Angesicht des Überflusses. Was moralisch geboten ist, ist die prognostische Deutung der Zukunft, um mit dieser Schritt halten zu können.

Zum Text

Aufbau und Stil

Auf über 900 Seiten und in zwei Bänden analysiert Günther Anders die Verfassung des Menschen im Zeitalter der Technik. Die Atombombe und der Holocaust – beides Themen, die zu groß und zu monströs sind, um sie ganz erfassen zu können, sind dabei immer wieder Auslöser und Ankerpunkt seiner Überlegungen. Um sie zu beschreiben, greift Anders zur Übertreibung (um der Verharmlosung entgegenzuwirken) und zur Verfremdung, die er Brechts Theater entlehnt, sowie zur Collage, indem er verschiedene Textarten verbindet. Dieses Vorgehen kündigt er in der Einleitung des ersten Bandes an: Sein Thema sei Neuland – deswegen werde man mit einer rein philosophischen Vorgehensweise nicht weiterkommen. Beispiele aus dem Alltag reihen sich ein zwischen akribischen Begriffsdefinitionen, Dialogen, Tagebucheinträgen und Zitaten und Anders’ eigenen „molussischen“ Fabeln. Diesen Genremix beschreibt Anders als Gelegenheitsphilosophie – eine Anspielung auf Goethes Gelegenheitsdichtung. Er nutzt Alltagssprache, oft nah am journalistischen Stil, was seine Abhandlung flüssig lesbar macht. Durch den essayistischen Charakter ist es jedoch auch schwer, einen roten Faden auszumachen. In 37 Aufsätzen ohne systematische Reihenfolge nähert sich Anders aus verschiedenen Perspektiven seinem Kernthema: der wachsenden Diskrepanz zwischen den technischen Möglichkeiten und dem menschlichen Vermögen, diese mit der Vorstellung und dem Gefühl zu fassen.

Interpretationsansätze

  • Anders’ Werk steht in der Tradition der philosophischen Anthropologie, die die besondere Stellung des Menschen in der Welt untersucht. Anders selbst wirft jedoch die Frage auf, ob seine Abhandlung überhaupt Philosophie zu nennen sei oder ob sie besser als technikpsychologische Analyse zu bezeichnen wäre.
  • Der Titan Prometheus aus der griechischen Mythologie taucht in Anders’ Werk immer wieder als Metapher auf: Prometheus, der den Menschen das Leben und das Feuer schenkte und später von Zeus dafür bestraft wurde, gilt als Symbol für die menschliche Schöpfungskraft. Diese, glaubt Anders, ist im 20. Jahrhundert außer Kontrolle geraten.
  • Mit seiner Analyse der modernen Technokratie, also der durch Technik durch und durch geprägten Welt, widerspricht er seinem Lehrer Martin Heidegger, dem er eine falsche Ausgangsposition vorwirft. Heideggers Technikbegriff sei „vorkapitalistisch“.
  • Mit seiner Kritik am Fernsehkonsum, der authentische Erfahrung ersetze, ist Anders seiner Zeit voraus: Seine Thesen werden später von Medientheoretikern wie Marshall McLuhan (Die magischen Kanäle) und Neil Postman (Wir amüsieren uns zu Tode) weitergedacht.
  • Einer der zentralen Kritikpunkte – dass der Konsument der Möglichkeit zu antworten beraubt wird – ist in Zeiten des Web 2.0 überwunden. Anders selbst revidierte seine rein negative Einschätzung des TV-Konsums später und gestand zu, dass der Blick auf die Welt durch die Medien geweitet werden kann.
  • Anders entwirft ein Schreckensszenario von einer Apparatewelt, in der die Menschen zu Sklaven der Maschine werden und sich ihrer eigenen Unfreiheit nicht einmal bewusst sind. Diese Vorstellung wurde 1999 mit dem Film Matrix auf die Spitze getrieben.

Historischer Hintergrund

Deutschland und Europa nach dem Zweiten Weltkrieg

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Im Pazifik ging der Krieg zwischen den USA und Japan noch monatelang weiter und endete wenige Tage nach den verheerenden Atombombenabwürfen der USA auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August. Deutschland wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt und 1949 offiziell zweigeteilt: Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) wurden gegründet. Ab 1961 war diese Teilung durch eine gesicherte Grenze sichtbar. Zu dieser Zeit standen die Supermächte USA und Sowjetunion einander längst im Kalten Krieg gegenüber.

In Westeuropa gewannen Einigungsbewegungen Zulauf: Aus den ersten Ansätzen in den 50er-Jahren (Schuman-Plan 1950, Montanunion 1951 und Römische Verträge 1957) ging 1993 die Europäische Union (EU) hervor. Die Wirtschaft, die in der Nachkriegszeit infolge des technischen Fortschritts massiv gewachsen war, schwächelte in den 70er-Jahren. Die Folgen waren, auch verstärkt durch die Ölkrise, steigende Arbeitslosigkeit und Lohnrückgang. Durch Automatisierung und Computertechnik (die sogenannte dritte industrielle Revolution) schwanden Arbeitsplätze in der Industrie, was der aufstrebende Dienstleistungssektor nur zum Teil kompensieren konnte. Der Neoliberalismus prägte die Wirtschaftspolitik: Gewerkschaften wurden geschwächt und viele Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge privatisiert. Die Entwicklung von technischen und elektronischen Geräten als Massenartikel veränderte das Leben rasant. Haushaltsgeräte, Ton- und Bildwiedergabegeräte und später auch Computer brachten neue Kommunikationswege mit sich und erleichterten den Alltag. Mit der Weiterentwicklung des Verbrennungsmotors nahm der Individualverkehr rasch zu und schlug sich in neuen Paradigmen der Stadtplanung nieder.

Entstehung

Nachdem Günther Anders 1936 in die USA emigriert war, musste er verschiedene Jobs annehmen, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Unter dem Eindruck der Arbeit am Fließband in einer Fabrik begann er Die Antiquiertheit des Menschen zu verfassen. Er stellte das Werk in den 50er-Jahren in Wien fertig. Er bemerkte später, dass „überhaupt die falschen Jobs die richtigsten sind, weil sie uns Erfahrungen einbringen, die man in einem nach Maß geschneiderten Beruf niemals sammeln kann.“ 

Als Anlass zur Gelegenheitsphilosophie dienten Anders nicht nur Episoden aus seinem eigenen Leben, sondern so vielseitige Einflüsse wie Samuel Becketts Theaterstück Warten auf Godot, Jazzmusik oder die Reaktionen der Zuhörer auf Orson Wells’ Hörspiel Krieg der Welten. Die Antiquiertheit des Menschen ist durchzogen von Verweisen auf zwei Jahrtausende Philosophiegeschichte von Platon bis Karl Marx, wobei Anders’ Lehrer Martin Heidegger als wichtiger Einfluss spürbar ist, vor allem dann, wenn Anders in Opposition zu dessen Thesen tritt. Endet der erste Band noch mit einem hoffnungsvollen Ton, fällt der zweite, der Arbeiten aus mehreren Jahrzehnten umfasst, deutlich pessimistischer aus. Anders plante noch einen dritten Band, den er nicht vollendete. Die österreichische Zeitschrift Forvm veröffentlichte noch zu Anders’ Lebzeiten einige Artikel, die für diesen dritten Band vorgesehen waren.

Wirkungsgeschichte

Zu Lebzeiten setzte sich die akademische Welt kaum mit Anders auseinander und bis heute fristet die Anders-Forschung ein Nischendasein. Er gehörte keiner Schule an und fand seine Leser außerhalb der philosophischen Fakultäten. Die heute etwas breitere Rezeption ist Forschern wie dem Ethiker Konrad Paul Liessmann zu verdanken. Über die Hälfte des umfangreichen Nachlasses von Anders ist Schätzungen zufolge noch unveröffentlicht.

Vieles von dem, was Anders schon im ersten Teil von Die Antiquiertheit des Menschen schrieb, sollte später prophetisch wirken. Die Entfremdung vom Endprodukt der eigenen Arbeit und die folgende Gewissenlosigkeit gegenüber dessen Verwendung sind auch heute sichtbar: Gentechnik, Überproduktion, Umweltverschmutzung und Atomtechnik stellen uns weiterhin vor Probleme. Hans Mayer sagte, „dass Anders nicht nur weitgehend Recht hatte, sondern auch schon sehr früh, vielleicht allzu früh.“ Doch viele von Anders’ Argumenten wurden auch von der Zeit eingeholt und wirken heute altmodisch. Die abwertende Haltung gegenüber dem Jazz gehört dazu. Kritiker warfen Anders das Fehlen einer grundlegenden Methodik, Fortschrittspessimismus und Dogmatismus vor. Anders wirkte nachhaltig auf so unterschiedliche Denker wie Jean-Paul Sartre, Konrad Lorenz und Marshall McLuhan. In einem Brief beschrieb Anders’ langjähriger Freund Hans Jonas über dessen Ketzereien das Gefühl, das wohl viele bei der Lektüre teilen: „Das blitzt und donnert, knistert und kracht, dass einem Hören und Sehen verginge … Never a dull moment, aber viele, wo man gern ein Wort dazwischen werfen möchte.“

Über den Autor

Günther Anders wird am 12. Juli 1902 in Breslau, dem heutigen Wrocław, geboren. Seinen Geburtsnamen Günther Siegmund Stern verwendet er seit den 20er-Jahren für Veröffentlichungen nicht mehr. Die Eltern William und Clara, beide Psychologen, zeichnen ihre Beobachtungen der drei Kinder (Anders hat zwei Schwestern) von frühester Kindheit auf. 1914 veröffentlichen sie ihre Erkenntnisse unter dem Titel Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahr. Mit 15 Jahren wird Anders im Ersten Weltkrieg zwangsrekrutiert. Nach dem Krieg studiert er Philosophie und Kunstgeschichte in Hamburg. 1923 promoviert er in Freiburg bei Edmund Husserl. Seine Habilitation muss er aufgrund der politischen Lage aufschieben. 1925 lernt er Hannah Arendt kennen, die er wenig später in Berlin heiratet. Nach dem Reichstagsbrand flieht er mit Arendt nach Paris und beginnt mit der Arbeit an Die molussische Katakombe, das erst 1992 erscheinen wird. Auch Frankreich wird bald zu gefährlich. 1936 flieht Anders in die USA und verhilft 1941 auch Arendt, von der er bereits seit 1937 geschieden ist, zur Einreise. In den folgenden 14 Jahren hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und widmet sich seinen philosophischen Studien. Er hält Kontakt zu den Geistesgrößen unter den Emigranten, ist aber keinem der etablierten Kreise zugehörig. Mit seiner zweiten Frau Elisabeth Freundlich kehrt er 1950 nach Europa zurück und stellt in Wien den ersten Teil seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen fertig. Er arbeitet als Journalist und Übersetzer und engagiert sich in der jungen Antiatombewegung. Sein Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly erscheint 1961. Erst in den 70er- und 80er-Jahren wird ihm höhere Anerkennung zuteil. 1983 erhält er den Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt. Anders stirbt am 17. Dezember 1992 in einem Pflegeheim in Wien.

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