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Essais

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Essais

Diogenes Verlag,

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12 take-aways
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What's inside?

Montaignes berühmte Essais drehen sich um den Menschen in seiner unausdeutbaren Widersprüchlichkeit.


Literatur­klassiker

  • Essay
  • Renaissance

Worum es geht

Eine ungeheure Gedankenfundgrube

Michel de Montaignes Essais (deutsch: Essays) sind eine überaus reichhaltige Fundgrube an Gedanken, Beobachtungen, gelehrten Betrachtungen, Kommentaren, autobiografisch gefärbten Erlebnissen und Interpretationen klassischer Werke. Im Zentrum der Textsammlung steht der Mensch in seiner Widersprüchlichkeit. Aufgegriffen werden zahllose Fragen, die Sittlichkeit, Verhalten, Tugend und Laster betreffen. Montaigne vertritt eine gemäßigt skeptische Lebenshaltung und versucht, überkommene Vorstellungen und Dogmen im Licht der Vernunft zu betrachten – wobei er sich bewusst ist, wie sehr der Mensch dazu neigt, ebendiese Vernunft zu überschätzen. Die in einem mehr als 20-jährigen Prozess entstandene Essay-Sammlung hat weder einen roten Faden noch eine erkennbare innere Struktur, erhält jedoch durch Montaignes sachliche und schnörkellose Sprache eine gewisse Einheitlichkeit. Geschrieben wurden die Texte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Religionskriege zwischen Hugenotten und Katholiken tobten. Durch seine Essays wurde Montaigne zu einem der bedeutendsten Vertreter der französischen Renaissanceliteratur und zum Begründer der literarischen Gattung des Essays. Von der Vielzahl der Montaigne’schen Essays werden hier einige der prägnantesten zusammengefasst.

Take-aways

  • Michel de Montaigne gilt als Schöpfer der literarischen Gattung des Essays, der kurzen, geistreichen Abhandlung.
  • Seine Essay-Sammlung entstand zwischen 1572 und 1592 und enthält in ihrer Schlussfassung 107 Texte.
  • Montaigne greift zahllose philosophische, historische, sittengeschichtliche, soziologische und autobiografisch geprägte Themen auf.
  • Ein zentrales Motiv der Essays ist die Eigenständigkeit des Denkens, aber auch die Begrenztheit der menschlichen Vernunft wird ausführlich behandelt.
  • Bezeichnend für das Werk sind die nüchterne, anschauliche Sprache und der Reichtum an Beispielen.
  • Während Montaigne an den Essays schrieb, wurde Frankreich von blutigen Religionskriegen erschüttert, die das optimistische Menschenbild der Renaissance infrage stellten.
  • Montaigne hat immer wieder versucht, mäßigend auf die Kriegsparteien einzuwirken und zwischen Katholiken und Protestanten zu vermitteln.
  • Weil er in den Essays christliche Dogmen hinterfragte, setzte die katholische Kirche sein Werk auf den Index der verbotenen Bücher.
  • Michel de Montaigne ist neben François Rabelais der bedeutendste Autor der französischen Renaissance.
  • Montaigne hat sein Hauptwerk bis zu seinem Tod im Jahr 1592 immer wieder überarbeitet.
  • Er übte auf die französischen Moralisten und auf die Denker der Aufklärung einen prägenden Einfluss aus und gilt als einer der ersten liberalen Denker der Neuzeit.
  • Für spätere Essayisten wie Paul Valéry, Walter Benjamin oder Karl Kraus war sein Werk maßgebend.

Zusammenfassung

Von den starken Emotionen

Wahrhaft überwältigende Empfindungen und Leidenschaften können wir nicht ausdrücken und anderen mitteilen. Deshalb ist die echte, tief empfundene Traurigkeit stumm, während der lautstark geäußerte Gefühlsausbruch etwas Mittelmäßiges hat. Das gilt auch für Emotionen wie Verliebtheit oder Freude. Verschiedene Beispiele aus der antiken Geschichte und Mythologie belegen dies: Der ägyptische König Psammenit wurde gemeinsam mit seinem Sohn und seiner Tochter von dem Perser Kambyses gefangen genommen. Er musste mit ansehen, wie die Tochter zur Sklavin gemacht und der Sohn hingerichtet wurde. Dennoch blieb er äußerlich unbewegt, während seine Begleiter in Tränen ausbrachen. Als Psammenit hingegen einen seiner Bediensteten unter den Gefangenen sah, schlug er sich weinend gegen den Kopf: Die ersten beiden Schicksalsschläge waren zu gewaltig, um die Empfindungen ausdrücken zu können, der dritte hingegen nicht. Als weiteres Beispiel kann die Niobe-Gestalt aus der antiken Mythologie angeführt werden, die sieben Söhne und sieben Töchter verlor und danach in einen Fels verwandelt wurde – ein Sinnbild für die stumme Unempfindlichkeit, in die sich die menschliche Psyche flüchtet, wenn ein Gefühl ihre Verarbeitungskraft übersteigt.

Philosophieren heißt sterben lernen

Schon Cicero sagte, Philosophieren bedeute nichts anderes, als sich auf den Tod vorzubereiten. Das höchste Bestreben des Menschen besteht darin, Glück zu empfinden, und deshalb verdrängen die meisten systematisch den Gedanken an den Tod. Das Todesbewusstsein würde jedes Glücksgefühl untergraben. Der Tod ist jedoch allgegenwärtig, und er kann jederzeit und völlig unerwartet zuschlagen: Der Dichter Aeschylus wurde von einer Schildkrötenschale erschlagen, die ein Adler aus der Luft hat fallen lassen, ein Kaiser ritzte sich mit einem Haarkamm und starb daran, Ausidius stolperte beim Eintritt in eine Ratsversammlung und stürzte tödlich, Speusipp starb beim Geschlechtsverkehr. Die Unvorhersehbarkeit des Todes macht es ratsam, sich mit ihm auseinanderzusetzen, statt ihn zu verdrängen. Die Vorbereitung auf den Tod ist die Vorbereitung auf die Freiheit; wer den Verlust des Lebens nicht als Unglück betrachtet, für den gibt es im Leben kein Unglück. Erstrebenswert ist ein geistiger Zustand, aus dem heraus man jederzeit Abschied nehmen kann, ohne verpasste Chancen und nicht verwirklichte Träume zu bedauern. Außerdem macht uns die Natur das Sterben leicht: Wer plötzlich stirbt, hat keine Zeit, sich vor dem Tod zu fürchten; und wer langsam dahinsiecht, hat ohnehin immer weniger von den Vergnügungen des Lebens, weshalb ihm der Tod am Ende sogar als vorteilhafter Tausch erscheint. Der Übergang von einem elenden Leben zum Nichtsein ist leichter zu ertragen als jener von einer blühenden zu einer kränkelnden, schmerzvollen Existenz. Darüber zu weinen, dass man in hundert Jahren nicht mehr lebt, ist ebenso dumm wie das Bedauern, vor hundert Jahren noch nicht gelebt zu haben. Der Tod gehört zur Ordnung der Natur und zum Leben.

Von der Erziehung der Kinder

Das Pflanzen von Gemüse ist einfach und geht leicht von der Hand, die Pflege des Gepflanzten hingegen ist schwierig. Genauso ist es mit den Menschen: Sie entstehen mühelos, doch die Erziehung ist mit viel Aufwand und Sorgen verbunden. Bei der Unterweisung der Kinder ist das Wissen kein Selbstzweck und das bloße Herunterleiern von Gelerntem sinnlos: Wichtig ist das intellektuelle Verständnis, das es dem Lernenden erlaubt, das erworbene Wissen auf verschiedene Gegenstände anzuwenden. Wer beispielsweise die Ideen eines Xenophon oder Platon aus selbstständiger Überlegung annimmt, der macht sie zu seinen eigenen – genauso wie die Bienen den Blütenstaub verwenden, um daraus Honig zu machen. Entscheidend ist nicht, zu wissen, an welchem Tag Karthago zerstört wurde, sondern von welchen Motiven sich Hannibal und Scipio leiten ließen. Nicht Faktenkenntnisse sind ausschlaggebend, sondern das Verständnis von Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Freiheit. Wichtig ist ferner das Kennenlernen fremder Kulturen durch Reisen und eine gewisse körperliche Widerstandsfähigkeit. Der Umgang mit der Welt schärft die Urteilskraft und die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Das oberste Ziel der Erziehung ist das Erlangen von Weltweisheit, die sich in einer beständigen Fröhlichkeit äußert. Im Übrigen ist ungezwungenes Lernen wirkungsvoller als die schulische Abrichtung. So kann man sich z. B. Latein und Französisch ohne Mühe aneignen, wenn es zu Hause häufig gesprochen wird.

Von den Kannibalen

Jedes Volk bezeichnet diejenigen Traditionen, Sitten und Verhaltensweisen als barbarisch, die es selbst nicht kennt. Der einzige Maßstab zur Beurteilung fremder Länder und Völker sind die eigenen Gepflogenheiten und Auffassungen, und diese sind relativ. Die so genannten „Cannibalen“ der Neuen Welt haben sich weniger als wir Europäer vom unverfälschten Naturzustand entfernt, weshalb sie in einem unverdorbeneren Verhältnis zur Schöpfung leben und dem von Platon beschriebenen Zustand einer idealen menschlichen Gemeinschaft nahekommen. Von der Natur erhalten diese „Wilden“ alles, was sie zum Leben brauchen, der Kampf um Eigentum und Reichtum ist deshalb überflüssig. Es gibt keine politischen Intrigen, keine Lügen, keinen Neid und keinen Verrat. Den Tag verbringen sie mit Tanzen, und während die jungen Männer auf die Jagd gehen, wärmen die Frauen deren Getränke. Wenn sie Krieg führen, tun sie dies auf edle und großmütige Weise, nicht um der Eroberung willen, sondern einzig aus Tapferkeit. Selbst der Kannibalismus, der ja darin besteht, tote Menschen zu essen, ist immer noch besser als das in Europa übliche Quälen lebendiger Menschen unter der Folter.

Von der Unbeständigkeit unserer Handlungen

Es ist nahezu unmöglich, die Handlungen eines Menschen nach einem festen Maßstab zu beurteilen, weil jeder von widersprüchlichen und sich ständig ändernden Motiven geleitet wird. So gilt z. B. Nero als Inbegriff der Grausamkeit – doch als er einst ein Todesurteil unterschreiben sollte, wurde ihm so bange, dass er sagte: „Wollte Gott, ich hätte niemals schreiben gelernt.“ Entsprechend ist auch das Bild, das ein Schriftsteller von einer literarischen oder historischen Figur zeichnet, nichts anderes als eine grobe Vereinfachung. Genauso unbeständig wie unsere Handlungen sind unsere Vorsätze, unsere Wünsche, unsere Meinungen und unser Begehren. Der tapfere Alexander der Große beispielsweise wurde stets von der Furcht umgetrieben, es könne ihm jemand nach dem Leben trachten, und deshalb ließ er sich zu grausamen und unvernünftigen Taten hinreißen. Das Leben selbst ist dem Zufall unterworfen, weil wir aufs Geratewohl leben und unsere Handlungen dem Moment gehorchen, nicht jedoch einem übergeordneten Prinzip. Ein Bogenschütze muss ein Ziel haben, bevor er Bogen, Hand, Pfeil und die notwendigen Bewegungen richtig koordinieren kann – und genau dieses Ziel fehlt den meisten. Ein Mensch kann deshalb nicht nach seinen Taten, sondern nur nach seinen inneren, freilich schwer zu durchschauenden Motiven gerecht beurteilt werden.

Von der Trunkenheit

Laster ist nicht gleich Laster: Ein Raubzug auf eine Kirche ist schlimmer als der Diebstahl einiger Kohlköpfe, und es geht nicht an, dass ein Mörder, ein Verräter oder ein Tyrann seine Untaten rechtfertigt, indem er auf die Müßigkeit oder mangelnde Wachsamkeit der anderen verweist. Die Trunkenheit ist entgegen der landläufigen Meinung ein schlimmer Charakterfehler, weil sie den Verstand ausschaltet. Es gibt Laster, die sich nur dank Fleiß, Tapferkeit oder Geschicklichkeit ausleben lassen. Die Trunkenheit hingegen ist völlig körperlich und irdisch, und es gibt für einen Menschen keinen schlimmeren Zustand, als wenn er seiner selbst nicht mächtig ist. Dafür gibt es schlagende Beispiele: Eine Frau in einer Stadt nahe bei Bordeaux wurde schwanger und glaubte, nie mit einem Mann geschlafen zu haben – bis sie erfuhr, dass ein Bauernknecht sie geschwängert hatte, als sie volltrunken ihren Rausch ausschlief. Die antiken Weisen und Philosophen sind erstaunlich nachgiebig gegenüber der Trunkenheit: Den Stoikern zufolge verschafft ein tüchtiger Rausch der Seele Erleichterung, Cato hat selbst viel getrunken, und Platon verbot zwar, sich zu betrinken, aber nur solange man das 40. Altersjahr nicht überschritten hatte. Selbst die Weisheit vermag nicht immer über die natürlichen und körperlichen Gelüste des Menschen zu triumphieren. Die Natur behält stets eine gewisse Macht über die Vernunft des Menschen, als Zeichen seiner Sterblichkeit und Unvollständigkeit.

Von der Religion

Der Spanier Raimond von Sebonde unternimmt in seinem Buch Theologia naturalis den Versuch, den christlichen Glauben mit vernünftigen Argumenten zu untermauern. Zwar beruht der Glaube auf einer letztlich irrationalen, die Vernunft übersteigenden, göttlichen Gnade. Dennoch ist es legitim, das dem Menschen ebenfalls von Gott geschenkte Mittel der Vernunft zum Verständnis von Welt und Religion zu gebrauchen. Der Wert der Religion besteht nicht so sehr in einer absoluten Wahrheit, sondern darin, dass sie einen Menschen Liebe und Gerechtigkeit lehrt. Trotzdem lässt er sich häufig von einem unsäglichen Stolz leiten. Er bildet sich ein, göttliche Eigenschaften zu besitzen, und dies verleitet ihn u. a. dazu, die Tiere für unwürdige, niedrigere Wesen zu halten. Zu Unrecht, denn zahlreiche Beispiele beweisen, dass die Tiere Eigenschaften und Fähigkeiten besitzen, die jene des Menschen sogar noch übertreffen: Ein Elefant bereut es, seinen Wärter umgebracht zu haben, und verweigert danach das Fressen so lange, bis er stirbt. Einige Fische eilen einem Artgenossen zu Hilfe, wenn dieser einen Angelhaken verschluckt hat. Es gibt Hunde, die die Mörder ihres Besitzers verfolgt und zur Strecke gebracht haben. Der Mensch sollte sich selbst nicht zu hoch einschätzen: Die Begrenztheit der menschlichen Vernunft und Erfahrung macht jede Aussage über Gott vorläufig und zweifelhaft. Jemand, der nichts von Musik versteht, kann einen Sänger nicht beurteilen, und wer nie im Feld gekämpft hat, kann nicht über den Krieg disputieren – genauso geht es dem Menschen, wenn er über Gott redet.

Man soll sich nicht krank stellen

Sich krank zu stellen, um einer Pflicht zu entgehen, ist gefährlich und deshalb alles andere als ratsam. Denn oft will es das Schicksal, dass die vorgetäuschte Krankheit durch die Verstellung erst heraufbeschworen wird und dann tatsächlich ausbricht. So gab sich einst ein Mann als Einäugiger aus, damit ihn die römische Obrigkeit nicht in die Verbannung schickte. Als er das Pflaster, das er über sein angeblich verlorenes Auge geklebt hatte, wieder entfernte, hatte er auf diesem tatsächlich die Sehkraft verloren – vielleicht weil sie durch die lange Ruhephase ans andere Auge übergegangen war. Der Autor selbst hat aus Gewohnheit stets einen Stock bei sich, auf den er sich manchmal abstützt. Zahlreiche Freunde haben ihn gewarnt, eines Tages werde er an Fußgicht erkranken und den Stock tatsächlich nötig haben. Doch weil noch nie jemand aus seiner Familie dieser Krankheit zum Opfer gefallen ist, macht er sich keine Sorgen.

Vom Zorn

Handlungen, die im Zorn begangen werden, sind unvernünftig. Kinder oder Angestellte in einem Anfall von Wut zu prügeln oder zu bestrafen, ist schändlich und sollte verboten werden. Denn nachdem der Zorn einmal verraucht ist, betrachtet man ein Vergehen oft in einem günstigeren Licht, und es kann nicht angehen, dass unsere Taten von kurzlebigen Affekten bestimmt werden. Außerdem ist eine gelassen und bestimmt auferlegte Strafe wirksamer, weil sich der Betroffene nicht einreden kann, sie sei aufgrund mangelnder Selbstkontrolle ausgesprochen worden und deshalb ungerechtfertigt. Als Platon einmal auf einen seiner Knechte wütend war, ließ er ihn von einem anderen bestrafen. Im Umgang mit zeternden und tobenden Frauen ist es am wirkungsvollsten, Ruhe und kaltes Schweigen zu bewahren, um ihren Zorn nicht zusätzlich anzufachen. Allerdings muss diese Haltung auf wahrer innerer Gelassenheit beruhen, denn das krampfhafte Unterdrücken von Gefühlen schadet der Gesundheit.

Von der Kunst, sich mit anderen zu unterreden

Die Unterhaltung und der Disput mit anderen Menschen sind lehrreich und kurzweilig, im Gegensatz zum Bücherlesen, das schläfrig macht. Bei der Unterhaltung ist man zwar häufig mit der Dummheit seines Gegenübers konfrontiert, weshalb man sich aber keinesfalls ärgern sollte, denn der eigene Ärger ist ebenso fehl am Platz wie die fremde Beschränktheit, und es gibt keine größere Narrheit, als sich über die Narrheit der Welt aufzuregen. Außerdem muss sich jeder selber eingestehen, dass er täglich Dummheiten von sich gibt – wie viel Unsinn redet er dann erst aus der Sicht der anderen. Die Vorwürfe, die man anderen macht, lassen sich häufig gegen einen selbst richten, sodass man sich im Streitgespräch leicht mit seinen eigenen Waffen verletzt. Das heißt nicht, dass man niemanden tadeln darf – aber man muss sich selbst ebenso streng beurteilen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Montaigne selbst hatte offenbar keine besonders hohe Meinung von seiner Essay-Sammlung. Er bezeichnete sie u. a. als „Salat“, „schlechtes Ragout“, „Fricassée“ „Sammelsurium“ und „Sudelgeköch“. In der Tat fehlt dem opulenten Werk eine in sich geschlossene Struktur oder ein logischer Aufbau, und es stellt auch kein kohärentes philosophisches System dar. Vielmehr besteht es aus einem bunten, an eine Collage erinnernden Nebeneinander unterschiedlichster Themen, die mal auf einer einzigen Seite, mal in ausführlichen Erörterungen abgehandelt werden. Der Essay zur Verteidigung des spanischen Theologen Raimond von Sebonde beispielsweise ist ganze 384 Seiten lang.

Überraschend und stellenweise geradezu verwirrend ist auch die Vielfalt der Formen: Anekdoten, Erzählungen, Übersetzungen, wörtlich wiedergegebene Texte aus der Antike, Aphorismen, Gelehrtes und Witziges, Allgemeines und Autobiografisches – bei Montaigne findet sich nahezu alles. Was dem Werk dennoch eine gewisse Einheitlichkeit verleiht, sind Montaignes Geisteshaltung und Stil: Der Autor ist gemäßigt skeptisch, gelassen und liberal. Seine Sprache besticht durch ihre Nüchternheit und den Verzicht auf Pathos oder intellektuelle Wichtigtuerei.

Interpretationsansätze

  • Das Wort „Essai“ bedeutet „Versuch“. Es ging Montaigne nicht um eine geschlossene oder gar wissenschaftliche Darstellung seines Weltbilds, sondern um immer wieder neue Ansätze des Denkens, gewissermaßen um Selbstversuche. Dafür spricht auch, dass er die Texte bis zu seinem Tod wiederholt bearbeitete und dabei mitunter auch den Sinn veränderte; so groß war seine geistige Beweglichkeit.
  • Montaigne vertritt in seinen Essais eine heiter-gelassene, von einer gemäßigten Skepsis geprägte Welt- und Lebensanschauung. Die Einsicht in die Zweifelhaftigkeit des menschlichen Wissens formuliert er in seinem viel zitierten Motto „Que sais-je?“ („Was weiß ich?“). Montaigne glaubte beispielsweise an Gott, lehnte aber jede Spekulation über dessen Wesen ab, weil eine solche der begrenzten menschlichen Vernunft nicht zustehe.
  • Die Idealisierung des Naturzustandes und die Verteidigung der „Cannibalen“ aus der Neuen Welt machen Montaigne zu einem Vorläufer Rousseaus.
  • In der wuchernden Unkontrollierbarkeit von Montaignes Themen kann man eine Entsprechung zu der von ihm thematisierten Unbeständigkeit des menschlichen Daseins sehen: Diese lässt sich nur mithilfe einer unsystematischen Darstellungsweise annähernd erfassen.
  • Wenn Montaigne andere Dichter und Denker zitiert oder paraphrasiert (was er ausgiebig tut), dann nicht, um mit diesen Autoritäten seine eigenen Aussagen zu untermauern, sondern um die Vielfalt der widerstreitenden Meinungen und letztlich die Relativität von Wahrheit auszudrücken.

Historischer Hintergrund

Frankreich zur Zeit der Hugenottenkriege

Das 16. Jahrhundert war eine Zeit großer kriegerischer Auseinandersetzungen, die das Menschenbild der Renaissance schwer erschütterten: Das Individuum erschien entgegen den Idealvorstellungen der Epoche plötzlich doch nicht selbstbestimmt und vernünftig, sondern von religiösem Fanatismus und einem irrationalen Hang zu exzessiver Gewalt infiziert. Diese Widersprüchlichkeit schlug sich auch in Montaignes Essays nieder. Die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Hugenotten – den französischen Protestanten – brachten eine fiebrige Abfolge von Friedensverträgen und neuerlichen Kriegsausbrüchen mit sich. Der Protestantismus, der sich in Form des Calvinismus im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts in Frankreich ausbreitete, fand vor allem beim Hochadel viele Anhänger. Dies machte ihn zu einer Bedrohung für die Macht der katholischen Könige. Katharina von Medici, die während der Amtszeit ihres unschlüssigen und charakterschwachen Sohnes Karl IX. (1560–1574) die wahre Macht in Frankreich innehatte, bemühte sich zunächst um eine Politik der Verständigung zwischen den beiden Parteien und räumte den Hugenotten 1562 einige Rechte ein. Dennoch kam es bis zum Ende des Jahrhunderts zu insgesamt acht Bürgerkriegen, wobei die Bartholomäusnacht als besonders blutrünstige Episode in die Geschichte einging: Unmittelbar nach der Hochzeit des Hugenotten Heinrich von Navarra (des späteren Königs Heinrich IV.) mit der Schwester Karls IX., eigentlich zur Versöhnung der beiden Kriegsparteien inszeniert, ließ Katharina von Medici in der Nacht zum Bartholomäustag, dem 24. August 1572, rund 3000 in Paris versammelte Hugenottenführer ermorden. In der Provinz wurden nochmals rund 10 000 Protestanten niedergemetzelt. Erst 1598 – sechs Jahre nach Montaignes Tod – ging der Bürgerkrieg unter König Heinrich IV. zu Ende. Der zum Katholizismus konvertierte Heinrich (genannt der „gute König Heinrich“) sicherte mit dem Edikt von Nantes seinen früheren Glaubensgenossen Toleranz, Gewissens- und Kultusfreiheit zu.

Entstehung

1572, im Jahr der Bartholomäusnacht, zog sich der damals 38-jährige Montaigne in die Abgeschiedenheit seiner Bibliothek zurück, um mit der Niederschrift seiner epochalen Essays zu beginnen. Als Inspirationsquellen dienten ihm zum einen seine eigenen Lebenserfahrungen und Beobachtungen, zum anderen antike Autoren – insbesondere jene, die in ihren Schriften eine ruhige, gelassene Weltanschauung vertreten und die Bedeutung menschlicher Vernunft und geistiger Freiheit betonen, so etwa Sokrates, Epikur, Seneca und Cicero. Montaigne behandelt diese Autoren in der Tradition des gelehrten Textkommentars, wobei er dieser typisch humanistischen literarischen Form ein eigenes Gesicht verleiht. Aber auch dem großen Humanisten Erasmus von Rotterdam und dessen Übersetzungen klassischer Werke verdankte Montaigne viel. Die erste Ausgabe der Essais erschien 1580 in zwei Bänden, die acht Jahre später um einen dritten Band erweitert wurden. Montaigne arbeitete bis an sein Lebensende an seinem Hauptwerk und nahm immer wieder Verbesserungen und Ergänzungen vor. Die letzte, 107 Kapitel starke Fassung der Essais wurde von der Montaigne eng verbundenen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Marie de Gournay im Jahr 1595 veröffentlicht.

Wirkungsgeschichte

Dank seines Hauptwerkes gilt Michel de Montaigne als Begründer der literarischen Gattung des Essays. Neben François Rabelais (Gargantua und Pantagruel) ist er überdies der bedeutendste Vertreter der französischen Renaissanceliteratur. Seine Textsammlung fand bereits bei seinen Zeitgenossen beachtlichen Anklang, rief jedoch auch die erbitterte Kritik kirchlicher Kreise hervor. Montaignes skeptische Grundhaltung und seine Zweifel an den christlichen Dogmen und Jenseitsvorstellungen veranlassten etwa Blaise Pascal, von einem „antichristlichen Werk der eitlen Selbstgefälligkeit“ zu sprechen. 1676 setzte die katholische Kirche die Essais auf den Index verbotener Bücher. Die Bedeutung, die Montaigne dem natürlichen moralischen Bewusstsein beimisst, machte ihn – in Verbindung mit seinen Vorbehalten gegenüber ewigen Wahrheiten und starren ethischen Normen – zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts, insbesondere für La Rochefoucauld und La Bruyère. Außerdem übte Montaigne mit seiner liberalen, der Welt zugewandten Geisteshaltung großen Einfluss auf die Schriftsteller und Philosophen der Aufklärung aus, beispielsweise auf Montesquieu und Voltaire. Doch auch außerhalb des französischen Sprachraums wurde der Verfasser der Essais in zeitlich weit auseinander liegenden Epochen von unterschiedlichen Autoren geschätzt und bewundert, etwa von Francis Bacon, William Shakespeare, Johann Wolfgang von Goethe und Arthur Schopenhauer. Montaignes Einfluss auf die gesamte europäische Literatur ist deshalb kaum zu überschätzen. Friedrich Nietzsche formulierte seine Verehrung für den Franzosen und dessen Bewusstsein für die Brüchigkeit der menschlichen Existenz in dem berühmt gewordenen Satz: „Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden.“ Auch auf spätere große Essayisten wie Paul Valéry, Karl Kraus und Walter Benjamin übte Montaignes Werk eine starke Wirkung aus.

Über den Autor

Michel de Montaigne wird am 28. Februar 1533 auf Schloss Montaigne in der Dordogne im Südwesten Frankreichs geboren. Sein Vater ist ein katholischer Kaufmann, seine Mutter Jüdin. Die Familie ist seit zwei Generationen adelig und hat durch den Handel mit Wein und Fisch bedeutenden Reichtum erworben. Montaigne erhält eine humanistische Erziehung, sein deutscher Hauslehrer spricht mit ihm ausschließlich Latein. Zwischen 1546 und 1554 studiert er in Bordeaux und Toulouse Jura, danach amtiert er als Parlamentsrat in Bordeaux. Auf Wunsch seines Vaters heiratet er die Tochter eines Ratsherrn, mit der er jedoch nicht mehr als eine reine Vernunftehe führt. Als Montaigne mit 38 Jahren das väterliche Herrschaftsgut erbt, zieht er sich aus dem öffentlichen Leben zurück, um in der Abgeschiedenheit der Schlossbibliothek klassische Autoren zu lesen und die ersten beiden Bände der Essais zu verfassen, die 1580 erscheinen. Danach unternimmt er eine längere Reise durch die Schweiz, Deutschland und Italien. Seine Erlebnisse und Beobachtungen hält er in einem ausführlichen Reisetagebuch fest, das jedoch erst 1774 unter dem Titel Journal de voyage erscheinen wird. Von 1582 bis 1585 ist Montaigne Bürgermeister von Bordeaux, wobei er zwischen den Glaubens- und Bürgerkriegsparteien vermittelt und wesentlich dazu beiträgt, dass die Stadt nicht von der Katholischen Liga erobert wird. Seine letzten Jahre widmet Montaigne der Überarbeitung und Erweiterung seines Hauptwerks, der Essais. Er führt ein zurückgezogenes Leben, dessen Beschaulichkeit jedoch unterbrochen wird, als der Schriftsteller 1588 in Paris in die von einem Aufstand entfachten Wirren gerät und für einige Stunden als Gefangener in der Bastille sitzt. Um sich weiter seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmen zu können, verzichtet Montaigne zwei Jahre später, von einem schweren Nierenleiden gequält, auf ein Staatsamt, das ihm Heinrich IV. anbietet. Am 13. September 1592 stirbt er auf Schloss Montaigne.

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