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Schattenorganisation

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Schattenorganisation

Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Campus,

15 min read
9 take-aways
Audio & text

What's inside?

Über den Versuch, zu viel Bürokratie mit noch mehr Bürokratie zu bekämpfen.


Bewertung der Redaktion

8

Qualitäten

  • Wissenschaftsbasiert
  • Augenöffner
  • Hintergrund

Rezension

Wäre es nicht wunderbar, wenn bei der Arbeit nur noch zählt, was man kann, und nicht mehr, wer man ist? Genau das verspricht das Holacracy-Konzept. Rollenerwartungen sollen so genau definiert werden, dass es am Ende egal ist, wer sie erfüllt. Leider haben die Verfechter der Methode ihre Rechnung ohne die Alphatiere, Mauschler und Flurfunker gemacht, die auch nach der Verkündung der neuen Heilslehre in ihrem Schatten weiterwirken, sagt der Organisationsforscher Stefan Kühl. Sein Buch zeigt deutlich, dass Managementmoden immer mehr versprechen, als sie halten können.

Take-aways

  • Holakratische Organisationen wollen Bürokratie abbauen, indem sie Rollen extrem detailliert und präzise beschreiben.
  • Formalisierte Strukturen sollen helfen, den Einfluss zwischenmenschlicher Beziehungen zu reduzieren.
  • Um Hierarchien und Silodenken zu überwinden, regelt Holacracy die Beziehungen zwischen Rollen, nicht zwischen Menschen.
  • Das Ziel von Holacracy ist, den Traum von sinnstiftender Arbeit zu verwirklichen.
  • Holakratische Organisationen schaffen ständig neue Rollen und Aufgaben, ohne die alten abzuschaffen.
  • Die Hyperformalisierung fördert Drückebergerei und erstickt Eigeninitiative.
  • Das egalitäre Ethos wird durch Schattenabteilungen und -hierarchien unterlaufen.
  • Managementmoden versprechen immer mehr, als sie halten können.
  • Überlegen Sie genau, ob Holacracy sich eignet, das Zusammenspiel von Rollen und Personen in Ihrem Unternehmen zu verbessern.

Zusammenfassung

Holakratische Organisationen wollen Bürokratie abbauen, indem sie Rollen extrem detailliert und präzise beschreiben.

Viele Managementmoden sind altbekannte Ideen in neuem Gewand. So wurden unter dem Schlagwort der Agilität jahrzehntealte Konzepte angepriesen, die Hierarchien abbauen und Silobildung verhindern sollen. Man könnte also meinen, dass es sich bei der Holacracy ähnlich verhält. Die Organisationsform unterscheidet sich jedoch in einem wesentlichen Punkt von anderen agilen Methoden: Holacracy verspricht, alle Rollen im Unternehmen so präzise zu definieren und zu formulieren, dass Hierarchien und Abteilungen überflüssig werden.

„Jede Übernahme einer Aufgabe, jede Zuordnung zu einem Kreis, jede noch so kleine Verschiebung von Zuständigkeiten wird in der holakratischen Steuerungssoftware der Organisation für alle sichtbar fixiert.“

Die Folge ist eine Hyperformalisierung. So sind zum Beispiel 30- bis 40-seitige Stellenbeschreibungen keine Ausnahme. Hinzu kommt, dass Mitarbeitende die Erwartungen an ihre Rollen ständig an neue Anforderungen anpassen, um flexibler auf Veränderungen reagieren zu können.

Formalisierte Strukturen sollen helfen, den Einfluss zwischenmenschlicher Beziehungen zu reduzieren.

Verfechter der Holacracy versuchten, das Konzept patentieren zu lassen: Neben der Möglichkeit, Gebühren für die Nutzung zu erheben, wollten sie die konzeptionelle Entwicklung bis ins kleinste Detail kontrollieren. Sie scheiterten mit ihrem Antrag. Doch auch ohne Patent haben sie die wichtigsten Prinzipien in einer holakratischen Verfassung festgehalten. Eine standardisierte Steuerungssoftware sorgt dafür, dass bei der praktischen Umsetzung des Konzepts wenig Handlungsspielraum bleibt.

„Wenn man eine holakratische Organisation kennt, kennt man alle.“

Ziel der holakratischen Verfassung ist es, die Erwartungen an bestimmte Rollen so genau zu definieren, dass die Mitarbeitenden sich automatisch so verhalten, wie die Organisation es sich wünscht. Dahinter steht die Überzeugung, dass wir in Organisationen mit formalisierten Strukturen effizienter und innovativer arbeiten als in solchen mit informellen Strukturen. Die Arbeitsmotivation soll von der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen entkoppelt werden.

Um Hierarchien und Silodenken zu überwinden, regelt Holacracy die Beziehungen zwischen Rollen, nicht zwischen Menschen.

Holacracy organisiert nicht die Beziehungen zwischen Menschen, sondern die Beziehungen zwischen Rollen. Nicht die Mitarbeitenden verfolgen Zwecke, haben Zuständigkeitsbereiche und erledigen Aufgaben, sondern ihre Rollen. Diese Rollen sind in unter- und übergeordneten Kreisen mit verschiedenen Zielrichtungen organisiert. Jeder Kreis agiert in sich autonom, mit einem sogenannten Lead-Link oder Circle-Lead als Koordinator.

„Aufgaben werden in Besprechungen nicht an ‚Rebecca‘, ‚Kim‘ oder ‚Brian‘ übertragen, sondern an ‚Trainer‘, ‚Programm-Designer‘ oder ‚Finanzen‘.“

Holakratische Organisationen wollen damit die Sackgassen vermeiden, in denen sich traditionell geführte Unternehmen häufig wiederfinden. Sie wollen

  • Abteilungsgrenzen aufbrechen: Jede Person kann und soll verschiedene Rollen in unterschiedlichen Kreisen übernehmen.
  • Hierarchien aufweichen: Der Lead-Link kann nur innerhalb seines Kreises Rollen besetzen oder Personen aus diesen entfernen. In anderen Kreisen hat er diese Befugnis nicht. Wie eine Rolle beschaffen ist, entscheiden alle Kreisangehörigen gemeinsam, nicht der Lead-Link.
  • Bürokratisierung überwinden: Durch eine klare Definition der Rollenerwartungen soll ein Rückfall in Silobildung und personenzentrierte Hierarchien verhindert werden.
  • Ständige Anpassung an Veränderungen ermöglichen: Wenn eine bürokratische Organisation ihre Ziele verfehlt, werden Rollenerwartungen beibehalten und Personen ausgetauscht. In der holakratischen Organisation ist es umgekehrt.
  • Endlose Diskussionen vermeiden: Nicht alle Mitglieder eines Kreises müssen veränderten Rollenerwartungen aktiv zustimmen. Entschieden wird, wenn niemand schwerwiegende Einwände hat. Es gilt das Konsentprinzip statt des Konsensprinzips. 

Das Ziel von Holacracy ist, den Traum von sinnstiftender Arbeit zu verwirklichen.

Holakraten fordern ein Upgrade für die in ihren Augen veralteten Betriebsmodelle der Unternehmen, die auf Silos und Hierarchien basieren. Sie vergleichen dieses Upgrade mit dem Umbruch, als MS-DOS von den Computern verbannt wurde und durch interaktive, benutzerfreundliche und selbststeuernde Betriebssysteme wie Windows ersetzt wurde. Der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der alte Traum von sinnstiftenden Organisationen: Mitarbeitende brauchen demnach einen höheren Sinn, um sich langfristig für ihre Arbeit zu motivieren.

„Menschen‘, so die Vorstellung, gingen ‚mit Freude‘ zur Arbeit, begegneten sich dort ‚als Menschen‘ und ‚entfalteten ihr Potenzial‘.“

In der holakratischen Organisation wird der Purpose oder Urzweck des Unternehmens im übergeordneten Ankerkreis festgelegt. Daraus leitet sich eine Vielzahl von Unterzwecken ab, die auf Rollenbeschreibungen für immer kleinere Kreise heruntergebrochen werden. Der Lead-Link entscheidet dann, welche Personen die identifizierten Aufgaben ausführen sollen. Auf diese Weise will man verhindern, dass sich informelle Strukturen bilden, die dem allumfassenden Purpose entgegenwirken oder gar widersprechen.

Holakratische Organisationen schaffen ständig neue Rollen und Aufgaben, ohne die alten abzuschaffen.

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine entscheidende Lücke: Holakratische Organisationen schaffen zwar ständig neue Kreise, Rollen und Aufgaben, um besser auf veränderte Umweltbedingungen reagieren zu können. Diese werden aber bei gleichbleibender Mitarbeiterzahl nur selten wieder abgeschafft. Das Ergebnis sind immer mehr formale Regeln, die nicht gelebt werden. Rolleninhaber füllen die neu zugeordneten Rollen nicht aus, die formulierten Erwartungen werden nicht mehr erfüllt, manche Rollen werden nicht nachbesetzt. Die betroffenen Unternehmen reagieren darauf häufig mit dem Ruf nach Verschlankung. Paradoxerweise entstehen dadurch aber noch mehr Funktionen – zum Beispiel die der „Müllmänner“, die überflüssige Rollen entsorgen sollen.

Die Hyperformalisierung fördert Drückebergerei und erstickt Eigeninitiative.

Unbestimmte Arbeitsverträge mit fluktuierenden Aufgaben ermöglichen es den Mitarbeitenden, sich vor ungeliebten Arbeiten zu drücken. Lässt die Erfüllung einer Rolle zu wünschen übrig, kann der Rolleninhaber leicht darauf verweisen, dass er gerade in anderen Rollen viel Einsatz zeigen muss. Holakratische Organisationen versuchen das Problem zu lösen, indem sie jeder Rolle eine bestimmte Punktzahl zuweisen. Erst wenn Mitarbeitende über einen längeren Zeitraum nicht genügend Punkte sammeln, werden sie entlassen.

„Am Ende machen die Mitarbeiter, so jedenfalls das Risiko, nur noch ‚Dienst nach holakratischer Vorschrift‘.“

Hinzu kommt: Wer Ideen einbringt, die den formalen Vorgaben widersprechen, wird schnell als Unruhestifter abgestempelt. Durch die extreme Kodifizierung von Verantwortung erstickt das System gemäß Kritikern die Initiative und Kreativität der Mitarbeitenden. Ein offener Austausch ist kaum möglich. Darüber hinaus gilt die holakratische Verfassung mit ihrer universellen Steuerungssoftware faktisch als unantastbar. Sie hindert Mitglieder daran, ihre Organisation von unten nach oben zu verändern.

Das egalitäre Ethos wird durch Schattenabteilungen und -hierarchien unterlaufen.

Holakratische Organisationen nehmen für sich in Anspruch, Machtkämpfe, Klüngelei und intransparenten Buschfunk abgeschafft zu haben. In der Praxis bilden sich jedoch Schattenstrukturen heraus, die klassischen Abteilungen ähneln. So arbeiten Programmierer oder Personalmanager automatisch mit Kollegen ihrer Zunft zusammen, ohne dass es dafür einen entsprechenden Kreis gibt. Im operativen Geschäft agieren agile Projektteams in einer Parallelwelt mit Scrum-Mastern und separatem Projektmanagement, ohne dass dies von der Steuerungssoftware erfasst wird.

„Je stärker Transparenz in der Organisation eingefordert wird, desto stärker sind die Bemühungen des Versteckens.“

Auch der Ankerkreis verwandelt sich schnell in eine Schattenhierarchie: In der Regel ist dieser mit Unternehmensgründern, Kapitalgebern oder ehemaligen Topmanagern besetzt, die wichtige Entscheidungen in Hinterzimmern treffen statt wie gefordert auf offener Bühne. Schwarze Listen mit Mitarbeitenden, die entlassen werden sollen, sind keine Seltenheit. Auch gibt es immer wieder Abweichler, die über informelle Kommunikationskanäle die Abspaltung von Unternehmensbereichen vorbereiten und durchführen. Die Befürworter der Holacracy erkennen das Problem der Schattenstrukturen zwar an, meinen aber, es durch eine stetige Optimierung ihrer Methoden in den Griff bekommen zu können. Der Beweis für diese These steht noch aus.

Am Ende steht die Erkenntnis, dass Abteilungen und Hierarchien durchaus Vorteile haben: Schließlich helfen sie den Mitgliedern einer Organisation, sich auf Teilziele zu konzentrieren und schnelle Entscheidungen zu treffen.

Managementmoden versprechen immer mehr, als sie halten können.

Managementmoden werden als radikal neue Antworten auf nie dagewesene Herausforderungen angepriesen. Heute sind dies unter anderem die weltweit wachsende soziale Ungleichheit, die Zunahme von Naturkatastrophen und der drohende Umweltkollaps. In einer immer volatileren und komplexeren Welt, so die Argumentation, führten veraltete Methoden in den Ruin. Revolutionäre Methoden versprechen dagegen Win-win-Situationen zwischen Organisation, Individuum und Gesellschaft. Sie sollen Unternehmen erfolgreicher, Mitarbeitende glücklicher und die Welt besser machen.

„In ihrer Machart haben Managementmoden hohe Ähnlichkeiten mit Religionen. Es wird ein Weg versprochen, mit dem die Arbeit – und weitergehend das Leben – wieder einen Sinn haben kann.“

Die neuen Managementmethoden können diese Versprechen jedoch nicht vollumfänglich einlösen. Tatsächlich ist der Handlungsspielraum von Organisationen begrenzt: Sie können Hierarchien abflachen oder stärken; sie können auf eine langfristige Personalbindung oder den raschen Austausch von Talenten setzen; sie können Mitarbeitende mit klaren Ansagen oder flexiblen Zielvorgaben führen. Doch statt an dieser oder jener Stellschraube zu drehen, um konkrete Probleme zu lösen, präsentieren die jeweiligen Heilsbringer ihre Konzepte als sicheren Weg zur Erlösung. Sie verweisen auf erfolgreiche Vorreiterunternehmen und erzählen die Geschichten mutiger Innovatoren, die viele Krisen überstanden und mit der neuen Methode ein Happy End erlebt hätten. Dabei ist es nicht selten so, dass diejenigen, die diese Geschichten in Umlauf bringen, nur eine oberflächliche Kenntnis der jeweiligen Unternehmen haben und nicht hinter die Kulissen schauen konnten.

Überlegen Sie genau, ob Holacracy sich eignet, das Zusammenspiel von Rollen und Personen in Ihrem Unternehmen zu verbessern.

Sind deshalb alle Managementmoden Quacksalberei? Nein, denn sie erfüllen einen wichtigen Zweck: Ähnlich wie das Engagement von Beratungsunternehmen oder die Bildung selbstorganisierter Teams ermöglichen sie es Führungskräften, die Verantwortung für riskante Entscheidungen auszulagern. Ist ein neues Konzept erst einmal richtig en vogue, lässt es sich leicht als alternativlos darstellen.

„Managementmoden dienen als hilfreiche Sicherheitssurrogate. Sie reduzieren nicht nur die Notwendigkeit des Selberdenkens, sondern helfen auch, die eigene Verantwortung für Entscheidungen zu reduzieren.“

Viele Managementmoden sind verführerisch einfach und methodisch unklar zugleich: Sie stellen Prinzipien auf, schlagen Leitbilder vor und definieren Erfolgsfaktoren, ohne zu erklären, wie sich das Ganze konkret umsetzen lässt. Anders bei der Holacracy: Sie wird als Fertiglösung mit genauen Handlungsanweisungen verkauft. Das erleichtert den Einstieg, erschwert aber auch einen geräuschlosen Ausstieg. Einigen Unternehmen blieb nach dem Absturz des holakratischen Organisationsmodells nichts anderes übrig, als ihr Betriebssystem noch einmal komplett auszutauschen.

Wer die Fallstricke an- und abschwellender Managementmoden vermeiden will, sollte sich die spezifischen Erwartungen an Rollen und Personen in der eigenen Organisation genauer anschauen. Je nachdem, ob es sich um ein kleines Start-up, eine Mitarbeitergenossenschaft, ein Krankenhaus oder ein Großunternehmen handelt, unterscheiden sich die Erwartungen erheblich. Es ist wenig hilfreich, eine Modewelle nach der anderen zu reiten. Vielmehr müssen die Verantwortlichen verstehen, in welchem Verhältnis die Rollen und Personen in ihrer Organisation tatsächlich zueinander stehen und wie sie deren Zusammenspiel optimal gestalten können.

Über den Autor

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Außerdem arbeitet er als Organisationsberater der Firma Metaplan. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter Brauchbare IllegalitätSisyphos im Management und Das Regenmacher-Phänomen.

Dieses Dokument ist für den persönlichen Gebrauch bestimmt.

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