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Über den Prozeß der Zivilisation

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Über den Prozeß der Zivilisation

Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein Klassiker der Soziologie: Wie hat sich unsere zivilisierte Gesellschaft entwickelt?


Literatur­klassiker

  • Soziologie
  • Moderne

Worum es geht

Wie wir wurden, was wir sind

Warum essen wir mit Messer und Gabel und nicht wie unsere Vorfahren mit der Hand? Warum besteht das Leben des modernen Menschen aus zwei Seiten, einer öffentlichen und einer privaten, die er vor den Blicken anderer tunlichst schützt? Warum befallen uns Scham und Peinlichkeitsgefühle, wenn wir die Sitten der Menschen im Mittelalter betrachten? Dies sind nur einige der Fragen, denen sich Norbert Elias in seinem Buch widmet – nicht abstrakt und theoretisch, sondern auf höchst lebendige und anschauliche Weise. Sicher braucht man einen langen Atem, um das zweibändige Monumentalwerk zu bewältigen. Streckenweise ist die Lektüre nicht einfach, und die detaillierten Ausführungen über die Entstehung des französischen Königtums sind für den historischen Laien bisweilen etwas mühsam zu lesen. Aber die Mühe lohnt sich, denn das Buch öffnet uns die Augen darüber, warum wir sind, was wir sind – und wer möchte das nicht wissen? Auch knapp 70 Jahre nach seinem Erscheinen hat dieser Klassiker der Soziologie nichts an Aktualität und Überzeugungskraft eingebüßt.

Take-aways

  • Über den Prozeß der Zivilisation ist ein Klassiker der Soziologie, der analytische Schärfe mit sprachlicher Eleganz verbindet.
  • Das Werk spannt einen historischen Bogen vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
  • Norbert Elias untersucht nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Umbrüche, sondern auch die Veränderungen im Seelenleben der Menschen.
  • Im Zentrum steht die Frage, warum und wie wir geworden sind, was wir sind.
  • Mit der gesellschaftlichen Arbeits- und Funktionsteilung wächst in der Neuzeit der Zwang zur Zurückhaltung von Leidenschaften.
  • Gesellschaftliche Zwänge verwandeln sich allmählich in Selbstzwänge.
  • Der Motor des Zivilisationsprozesses ist der Konkurrenzkampf der Menschen und ihre Angst vor Prestigeverlust.
  • Der Autor vermeidet eine abgehobene Fachsprache und füllt abstrakte Begriffe wie „Staat“ oder „Gesellschaft“ mit Leben.
  • Über den Prozeß der Zivilisation ist ein unideologisches Werk: Die Entwicklung der Gesellschaft wird weder als Fortschritt gelobt noch als Niedergang kritisiert.
  • Elias, der Exilant und Außenseiter im akademischen Betrieb, legte mit dem Buch 1939 ein Werk vor, das lange Zeit kaum beachtet wurde.
  • Erst in den 80er Jahren entwickelte es sich von einem Geheimtipp zum Bestseller und Standardwerk.
  • Elias verstand sich als Generalist. Er verknüpfte Soziologie und Geschichte, Psychologie und Philosophie zu einer umfassenden „Menschenwissenschaft“.

Zusammenfassung

Prozesse statt Zustände

Gesellschaftliche Phänomene werden in der Soziologie meist als unveränderliche Zustände beschrieben. Dabei sollte man – anhand empirisch belegbarer Tatsachen – eher Entwicklungsprozesse untersuchen als starre Zustände. Individuum und Gesellschaft sind zwei Aspekte des Menschen, die sich in langfristigen Prozessen entwickelt haben. Die entscheidende Frage lautet: Wie und warum ist unsere hoch entwickelte Gesellschaft zu dem geworden, was sie ist?

Zivilisation und Kultur

In der Alltagssprache bezieht sich „zivilisiert“ auf verschiedene Dinge: den Stand der Technik, Manieren, Gebräuche, das Zusammenleben zwischen Mann und Frau, die Zubereitung des Essens und anderes mehr. Der Begriff fasst alles zusammen, wodurch sich die abendländische Gesellschaft von „primitiven“ Völkern zu unterscheiden glaubt. Im Französischen und Englischen bezeichnet der Begriff sowohl den Fortschritt des gesamten Abendlandes wie auch die Leistungen der eigenen Nation. Im Deutschen dagegen meint „Zivilisation“ nur die äußeren Sitten. Für die nationalen Eigenheiten, die wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen hat sich hier der Ausdruck „Kultur“ eingebürgert. Dieser Gegensatz wurzelt in einer jahrhundertealten Polemik der deutschen bürgerlichen Intelligenz: Sie unterschied die oberflächliche Zivilisiertheit der höfischen, französisch geprägten Oberschicht von der wahren Tugend des deutschen Bürgertums.

„Denn das Werden von Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen vollzieht sich im unlösbaren Zusammenhang beider miteinander.“ (Bd. I, S. 22)

Der Protest der schmalen bürgerlichen Intelligenzschicht gegen den Adel äußerte sich nicht in politischen Aktionen, sondern blieb auf das Dichten und Denken beschränkt. Wichtiger als äußerliche Manieren und oberflächliche Konversation war den Bürgerlichen die Tiefe des Gefühls, geistige Bildung und Bücher, eben: Kultur. Mit dem langsamen Aufstieg des deutschen Bürgertums zur herrschenden Schicht im 19. Jahrhundert gewann der Gegensatz zwischen Zivilisiertheit und Kultur nationale Bedeutung: Aufrichtigkeit und Offenheit galten nun als Eigenheiten des deutschen Nationalcharakters – in Abgrenzung zur verdeckenden Höflichkeit der Franzosen. Anders als in Deutschland waren die Grenzen zwischen Aristokratie und Bürgertum in Frankreich durchlässig. Das französische Bürgertum, politisch aktiv und reformfreudig, hatte durch den langen engen Kontakt mit der aristokratischen Gesellschaft deren Sitten übernommen. Das deutsche Bürgertum, politisch ohnmächtig, aber radikal im Geistigen, entwickelte dagegen eine eigene, von der aristokratischen Tradition verschiedene Kultur.

Die Schamgrenze verschiebt sich

Bedeutenden Einfluss auf den Sittenkodex der Neuzeit hatte Erasmus von Rotterdams 1530 erschienene Schrift De civilitate morum puerilium. Sie handelt vom Benehmen des Menschen in der Gesellschaft. Über körperliche Verrichtungen, die schon zwei Jahrhunderte später peinlich sein sollten, spricht Erasmus noch mit großer Offenheit und Selbstverständlichkeit. Genau darin spiegelt sich das Prozesshafte der Zivilisation. Der Peinlichkeitsstandard ist keine feste Größe, sondern unterliegt einem ständigen Wandel. Es könnte sein, dass unser Verhalten bei späteren Generationen ein ähnliches Unbehagen auslöst, wie wir es bei der Betrachtung mittelalterlicher Sitten empfinden.

„Es könnte gut sein, dass den später Kommenden unsere Stufe der Zivilisation, unser Verhalten ähnliche Peinlichkeitsgefühle auslöst, wie uns zuweilen das Verhalten jener, deren Nachkommen wir sind.“ (Bd. I, S. 166)

Der Standard guten Benehmens in der mittelalterlichen Oberschicht unterschied sich von dem heutigen erheblich. Laut Erasmus war es durchaus noch üblich, sich bei Tisch mit den Fingern die Nase zu schnäuzen, sich zu kratzen oder zu schmatzen, die Ellenbogen auf den Tisch zu legen, abgenagte Knochen in die gemeinsame Schüssel zurückzuwerfen, sich die Finger abzulecken oder bei Tisch einzuschlafen. Und wie die Tischsitten damals roher und vulgärer waren, war offenbar auch das emotionale Leben in der höfischen Welt von weniger Schamgefühl geprägt. Mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit setzte indes eine zunehmende Selbstkontrolle ein. Die Menschen beobachteten sich genauer und entwickelten ein feineres Gespür für das, was in anderen vorging. Der Zwang, den sie aufeinander ausübten, wurde stärker, die Forderung nach „gutem Benehmen“ immer lauter.

Tischsitten als Mittel gesellschaftlicher Abgrenzung

Der Wandel der Sitten spiegelte das Bedürfnis der Oberschicht, sich nach unten abzugrenzen. Doch indem Moden und Gebräuche des Adels in die Mittelschicht eindrangen, wurden sie als Unterscheidungsmerkmale entwertet. Was gestern noch vornehm war, galt heute schon als vulgär. Das drängte die Aristokratie zu einer ständigen Verfeinerung ihrer Sitten und Verhaltensweisen. Die Peinlichkeitsschwelle rückte immer weiter vor. Am Ende des 18. Jahrhunderts war in der französischen Oberschicht jener Standard der Essgebräuche erreicht, der bis heute als zivilisiert gilt. Der Umgang mit Messer und Gabel, Löffel und Serviette galt nun als selbstverständlich. Allmählich breitete sich dieser Standard über die ganze Gesellschaft aus. Der Zivilisationsprozess beruht also nicht auf rationalen Gründen wie etwa der Notwendigkeit hygienischer Maßnahmen, sondern allein auf dem langsamen Vorrücken der Peinlichkeits- und Schamgrenze. Denselben Prozess durchläuft auch jeder einzelne Mensch als Kind unter dem Druck der Erwachsenenwelt.

Zurückhaltung der Affekte und Triebverzicht

In Schriften des 18. Jahrhunderts begegnet man der Forderung, alle natürlichen Dinge im Verborgenen zu erledigen und nicht darüber zu sprechen. Lange Zeit verrichteten Menschen ihre Bedürfnisse dort, wo sie sich gerade befanden – auf Straßen, an Mauern, in Zimmerecken. Verhaltensweisen, die heute tabu sind, etwa in Gesellschaft einzuschlafen, in die Hände zu schnäuzen, zu spucken, sich die Fingernägel zu reinigen oder Körperteile zu entblößen, waren es damals noch nicht in diesem Maße. Im Bereich des sexuellen Lebens herrschte allgemein eine größere Unbefangenheit. Kinder erlebten Sexualität im engen Zusammenleben mit den Erwachsenen als etwas Selbstverständliches und bedurften keiner Aufklärung. Erst langsam wurden körperliche Funktionen aus dem öffentlichen Leben verdrängt und mit dem Bann des Schweigens belegt. Alle als tierisch empfundenen Triebäußerungen wurden allmählich verdrängt und mit Angst, Scham- und Schuldgefühlen belegt. Gleichzeitig verlagerte sich die Angriffs- und Kampfeslust, die im Mittelalter in Kriegen oder Hinrichtungen offen zutage trat, in der zivilisierten Gesellschaft auf sportliche Wettkämpfe.

„Die verstärkte Neigung der Menschen, sich und andere zu beobachten, ist eines der Anzeichen dafür, wie nun die ganze Frage des Verhaltens einen anderen Charakter erhält: Die Menschen formen sich und andere mit größerer Bewusstheit als im Mittelalter.“ (Bd. I, S. 194)

Mit dem Fortschreiten der Zivilisation teilte sich das Leben der Menschen immer stärker in eine öffentliche und eine intime, geheime Sphäre. Allmählich wurde der Selbstzwang den Menschen zur zweiten Natur, äußere Zwänge wurden durch innere ersetzt.

Zusammenleben bedingt Umgangsformen

Die Entwicklung und Verfeinerung der Sitten war eng an die Herausbildung einer streng hierarchischen Gesellschaftsordnung geknüpft, an deren Spitze der absolute Herrscher stand. Erst unter dem Druck des Hoflebens kam der Prozess der Zivilisation in Gang. Die wachsende Konkurrenz der Adligen um die Gunst des Königs, die Intrigen und Diplomatie bei Hofe erforderten vom Einzelnen immer stärkere Affektkontrolle und Selbstdisziplin.

„Es scheiden sich mit anderen Worten im Leben der Menschen selbst mit der fortschreitenden Zivilisation immer stärker eine intime oder heimliche Sphäre und eine öffentliche Sphäre, ein heimliches Verhalten und ein öffentliches Verhalten voneinander.“ (Bd. I, S. 355)

Eine Grundvoraussetzung für die Herausbildung von Umgangsformen war die größere Abhängigkeit der Menschen voneinander. Nach der ersten Jahrtausendwende entstanden neue Märkte und Arbeiten, der Geldverkehr verdrängte allmählich die Naturalwirtschaft. Neben Kriegern und Geistlichen bildete sich ein neuer Stand von Handwerkern und Händlern heraus, das Bürgertum. Bevölkerungswachstum, Arbeitsteilung und Handelsverflechtungen, das Zusammenleben vieler auf engerem Raum – all dies erforderte eine stärkere Regelung des Trieblebens. Die Ritter, die vom Einkommen ihrer kleinen Güter nicht mehr leben konnten, begaben sich an den Hof und damit in die Abhängigkeit des Königs. Aus den dort herrschenden, hierarchisch gegliederten Abhängigkeiten und engen Verflechtungen zwischen den Menschen entwickelte sich erstmals ein Standard von Umgangsformen.

Die Entstehung des Staates durch Monopolbildung

Zu Beginn des 12. Jahrhunderts bestand das ehemalige westfränkische Reich aus verschiedenen Herrschaftseinheiten. Während sich im Deutschen Reich die einzelnen Territorialherrschaften verfestigten, gelang es dem französischen Königshaus ab Beginn der Neuzeit, seine Macht zulasten der großen Feudalherren auszubauen.

„Die durch gesellschaftliche Sanktionen gestützten Verbote werden dem Individuum als Selbstzwänge angezüchtet. Der Zwang zur Zurückhaltung von Triebäußerungen, die soziogene Scham, die sie umgibt, werden ihm so zur Gewohnheit gemacht, dass er sich ihrer nicht einmal erwehren kann, wenn er allein, wenn er im intimen Raum ist.“ (Bd. I, S. 355)

Die Entstehung des Staates folgt demselben Mechanismus der Monopolbildung, den wir aus der Wirtschaft kennen: Im freien Konkurrenzkampf um Boden schluckt der stärkere Feudalherr den schwächeren. Je größer sein Territorium, desto unübersichtlicher die Verwaltung. Der Herrscher ist von den Diensten anderer abhängig. Es bildet sich ein Herrschaftsapparat mit immer größerer Funktionsteilung. Unter den abhängigen Adligen entsteht ein neuer Konkurrenzkampf um die Chancen, die der Fürst zu verteilen hat. In diesem Wettbewerb zählt nun nicht mehr Waffengewalt, sondern die Umgangsform. Schließlich, nachdem die Macht sich auf immer mehr Personen verteilt hat, übernimmt das Bürgertum das Steuer- und Gewaltmonopol. Aus dem privaten Herrschaftsmonopol des Herrschers ist ein öffentliches Monopol geworden, aus dem Königreich ein Staat.

Abhängigkeit – der Ursprung zivilisierten Verhaltens

In naturalwirtschaftlichen Gesellschaften waren die Menschen weniger aufeinander angewiesen. Ihre Beziehungen waren einfach und folgten häufig dem Freund-Feind-Schema. In dem Maße, in dem die soziale Abhängigkeit der Menschen durch Funktions- und Arbeitsteilung wuchs, spalteten sich ihre Gefühle. Zu- und Abneigung, Konkurrenz und Interessen vermischten sich. Diese Ambivalenz der Gefühle ist der Nährboden für zivilisiertes Verhalten. Und was für Einzelne gilt, lässt sich ebenso für die Beziehungen von Personengruppen, Schichten, ja ganzen Staaten beobachten.

„Der Mensch ohne Restriktionen ist ein Phantom.“ (Bd. I, S. 391)

Der französische Herrscher nutzte die Spannungen innerhalb der Gesellschaft, um seine eigene Position zu festigen. Die Rivalität zwischen dem alten, wirtschaftlich schwachen Adel und dem aufsteigenden Bürgertum, ihr Kampf um Privilegien und Posten stärkte die Position des Königs. Zudem waren beide Schichten in Zeiten ständiger Kriege auf eine starke Zentralmacht angewiesen. Der König hielt das Spannungsgleichgewicht zwischen ihnen aufrecht, indem er die Privilegien und das Prestige des Adels gegen die wachsende ökonomische Kraft des Bürgertums sicherte. Sobald eine Schicht zu viel Macht erlangte und die Balance zu zerstören drohte, setzte er sein Gewicht für die andere ein.

Innerer Zwang statt äußerlicher Gewalt

Dem Prozess der Zivilisation liegt kein rationales Handeln zugrunde; er hat sich aus dem geschichtlichen Wandel ergeben. Konkurrenzdruck, Funktionsteilung und wachsende Abhängigkeit der Menschen voneinander erfordern eine Verhaltensänderung. Das Gewaltmonopol des Staates verbannt die körperliche Gewalt aus der Gesellschaft und beschränkt sie auf den Krieg. Im Ergebnis ist der Einzelne vor physischer Bedrohung weitgehend geschützt. Gleichzeitig muss er seine Leidenschaften, die ihn zum Angriff anderer treiben, zurückdrängen. Die kurzfristige Befriedigung von Wünschen wird durch langfristige Vernunft ersetzt. Nicht mehr körperliche Stärke, sondern genaue Menschenbeobachtung, Berechnung und Selbstbeherrschung sind Voraussetzung für den gesellschaftlichen Erfolg. Von klein auf wird dem Menschen eine Selbstkontrolle angezüchtet, die unbewusst sein ganzes Verhalten bestimmt.

Die Ausbreitung der Zivilisation

Ausgehend vom höfischen Adel erfasste der Zivilisationsprozess in wellenartigen Bewegungen die ganze Gesellschaft. Die Oberschicht hob sich durch immer stärkere Verfeinerung ihres Verhaltens, ihrer Manieren und ihrer Sprache von den nachrückenden Schichten ab. Mit wachsendem Lebensstandard und größerer Sicherheit entwickelten aber auch die Unterschichten eine stärkere Triebsteuerung. Zugleich breitete sich der Zivilisationsprozess im 19. Jahrhundert in andere Gebiete der Erde aus. Dabei grenzte sich das Abendland einerseits durch stärkeren Selbstzwang gegen „primitive“ Völker ab, andererseits durchdrang es die kolonisierten Länder mit seinen zivilisierten Verhaltensformen. So schwächten sich die sozialen Kontraste ab, das Verhalten wurde weltweit einheitlicher. Nach dem Aufstieg des Bürgertums und der Angleichung verschiedener Gesellschaftsschichten ist heute eine Lockerung von Konventionen und Tabus zu beobachten. Doch die längst verinnerlichten Ängste der Menschen vor Prestigeverlust, vor einer Minderung des Besitzes oder der eigenen Chancen im Konkurrenzkampf sind geblieben und steuern nach wie vor ihr Verhalten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Norbert Elias’ über 1000 Seiten starkes Hauptwerk besteht aus zwei Bänden. Im Zentrum des ersten Bandes steht die Entwicklung von alltäglichen Verhaltenweisen, die heute als zivilisiert gelten; es geht um Dinge wie Tischmanieren, die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse, die Beziehungen der Geschlechter etc. Der zweite Band handelt von der Entstehung des modernen Staates und seinen Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Einzelnen. Zugleich liefert Elias hier eine ausführliche Geschichte des französischen Königtums vom 11. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution. Beide Bände unterteilen sich in einzelne Kapitel mit zahlreichen Unterkapiteln, die wiederum in durchnummerierte Abschnitte gegliedert sind. Der Aufbau der Kapitel folgt keiner Chronologie oder strengen Systematik. In immer neuen Anläufen umkreist Elias sein Thema und setzt jedes Mal einen anderen Akzent. Dabei verzichtet er auf komplizierte theoretische Diskussionen und unverständliche Fachbegriffe. Seine Sprache ist geschliffen, elegant und trotz mancher sehr langer Sätze von großer Klarheit und Präzision. Die Metaphern und Vergleiche, die er gern zur Erläuterung heranzieht, verleihen dem wissenschaftlichen Text mitunter eine fast literarische Qualität.

Interpretationsansätze

  • Immer wieder betont Norbert Elias, dass gesellschaftliche Zustände nicht statisch sind, sondern sich in einem fortwährenden Prozess verändern. Als Soziologe verbindet er den Blick für solche langfristigen Entwicklungsprozesse mit seiner Liebe zum Detail, die nicht großen Einzelfiguren der Geschichte gilt, sondern den alltäglichen Verflechtungen und Abhängigkeiten der Menschen untereinander.
  • Über den Prozeß der Zivilisation verknüpft über Fachgrenzen hinweg Geschichtswissenschaft und Psychologie, Soziologie und Ökonomie, Philosophie und Anthropologie zu einer umfassenden „Menschenwissenschaft“, wie Elias es nannte. Jede theoretische Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Innen- und Außenwelt lehnte er strikt ab.
  • Elias’ zentrales Thema ist der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Veränderung und dem Persönlichkeitswandel des Einzelnen. Sein Buch über die Entstehung der abendländischen Zivilisation bietet eine umfassende Theorie der sozialen Evolution. Im Mittelpunkt von Elias’ Interesse steht die Frage: Wie ist das, was zu beobachten ist, geworden? Warum wurde es so und nicht anders?
  • Seinen Forschungsgegenstand betrachtet der Autor nüchtern, unvoreingenommen und ohne ideologisch-politische Scheuklappen. So gibt er auch kein Werturteil darüber ab, was er den „Prozess der Zivilisation“ nennt: Weder lobt er ihn als Fortschritt, noch verurteilt er ihn als Teufelsweg, der zum Untergang der Menschheit führt. Sein Anliegen ist vielmehr praktische Erkenntnis: Wenn die Menschen ihr Leben besser regeln und ihre Probleme lösen wollen, müssen sie wissen, wie die Dinge zusammenhängen.
  • Elias veranschaulicht den Prozess der Zivilisation an alltäglichen Verhaltensweisen wie dem Gebrauch von Messer und Gabel, den Tischsitten, der Einstellung gegenüber körperlichen Verrichtungen und der Sexualität. Im Konkurrenzkampf der Menschen und ihrer ständigen Angst vor Prestigeverlust erkennt er den Motor, der den Zivilisationsprozess vorantreibt.

Historischer Hintergrund

Emigration unter dem Nationalsozialismus

In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erlebte die Stadt Frankfurt eine intellektuelle Glanzzeit. In einer liberalen Atmosphäre blühte das kulturelle und gesellschaftliche Leben. Das 1923 gegründete Institut für Sozialforschung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zog Wissenschaftler aus dem ganzen Land an, darunter Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Erich Fromm. Im selben Gebäude wie das berühmte Institut befand sich das Soziologische Seminar, wo Norbert Elias als Assistent von Karl Mannheimer arbeitete und Studenten betreute.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wurde rund ein Drittel des Lehrpersonals der Frankfurter Universität aus rassistischen und politischen Gründen entlassen. Das Institut für Sozialforschung und mit ihm das Soziologische Seminar wurde geschlossen. Viele jüdische Intellektuelle mussten Deutschland verlassen. Unter dem Eindruck der antisemitischen Propaganda und antijüdischen Gesetzgebung kehrten 1933 rund 37 000 Juden Deutschland den Rücken. Erster Zufluchtsort der Emigranten war nicht selten Paris, wo eine „deutsche Kolonie“ entstand. Ein großer Teil der jüdischen Auswanderer bemühte sich, in die USA weiterzuziehen. In Europa nahm Großbritannien mit etwa 75 000 Personen den größten Anteil deutsch-jüdischer Emigranten auf. Viele Geisteswissenschaftler wie Adorno, Karl Popper und auch Norbert Elias fanden hier zeitweise oder dauerhaft eine neue Heimat. Die wirtschaftlichen Bedingungen allerdings waren schwierig, vor allem für diejenigen, die die englische Sprache nicht perfekt beherrschten.

Entstehung

In seiner Habilitationsschrift Der höfische Mensch untersuchte Elias die höfisch-absolutistische Gesellschaft Frankreichs im 17. und 18. Jahrhundert. In ihr erkannte er das Brückenglied, das die mittelalterliche Feudalgesellschaft mit der bürgerlich geprägten Gesellschaft seiner eigenen Gegenwart verband. 1933 reichte er die Habilitationsschrift am Soziologischen Seminar der Universität Frankfurt ein. Doch nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft die Antrittsvorlesung verweigert.

Im französischen und später im britischen Exil arbeitete Elias sein Habilitationsthema zu einer großen Theorie über die Entstehung der abendländischen Zivilisation aus. Mit einem Stipendium einer jüdischen Flüchtlingsorganisation konnte er in der Bibliothek des Britischen Museums forschen – am gleichen Ort wie 80 Jahre zuvor Karl Marx.

Die Einflüsse von Marx, Auguste Comte, Sigmund Freud und Max Weber sind spürbar, und doch ist Elias aus keiner soziologischen Schule hervorgegangen. Er wollte das Fachwissen verschiedener Disziplinen – von der Geschichte über Philosophie und Psychologie bis zur Ökonomie – zu einer allgemeinen, übergreifenden „Menschenwissenschaft“ zusammenfassen. 1937 erschien ein Vorabdruck des ersten Bandes in Prag, doch die Gesamtveröffentlichung scheiterte am Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei. 1939 schließlich brachte ein kleiner Schweizer Verlag das Buch heraus.

Wirkungsgeschichte

Lange Zeit blieb Elias’ Werk selbst in Fachkreisen eine größere Aufmerksamkeit verwehrt. Wegen der jüdischen Herkunft des Autors durfte das Buch in Deutschland und Österreich nicht erscheinen. Und im Ausland bestand während des Zweiten Weltkriegs keinerlei Interesse an der Schrift eines unbekannten deutschen Autors. Trotz seiner Lehrtätigkeit, zunächst an der London School of Economics, später an der Universität in Leicester, fehlten Elias im britischen Exil die nötigen Kontakte zur Fachwelt. Er ließ sich keiner akademischen Richtung oder Spezialdisziplin zuordnen und blieb im englischen Universitätsbetrieb stets ein Außenseiter.

Erst Mitte der 70er Jahre wurde Über den Prozeß der Zivilisation ins Englische übersetzt. Allerdings blieb das Buch, das nicht in den soziologischen Mainstream jener Jahre passte, zunächst immer noch ein Geheimtipp unter Sozialhistorikern. Mit dem Erscheinen der deutschen Taschenbuchausgabe 1976 erlebte das Werk dann endlich seinen Durchbruch. Allein im ersten Jahr verkauften sich 20 000 Exemplare.

In den 80er Jahren erschien eine Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten zur Sozialgeschichte der Kindheit und Jugend, der Familie und Sexualität, die auf Elias’ Theorie aufbauten. Spätestens seit den 90er Jahren gehört Über den Prozeß der Zivilisation zum Kanon für Historiker, Psychologen, Soziologen und Pädagogen. Das Werk wurde zu einem wissenschaftlichen Bestseller und in viele Sprachen übersetzt.

Über den Autor

Norbert Elias wird am 22. Juni 1897 als einziger Sohn eines wohlhabenden deutsch-jüdischen Textilfabrikanten in Breslau geboren. Nach dem Abitur meldet er sich freiwillig zur Armee und dient im Ersten Weltkrieg zunächst an der Ostfront, dann an der Westfront als Funker. Nach einem psychischen Zusammenbruch 1917 ist er nicht mehr felddienstfähig und wird Sanitätssoldat in Breslau. Im gleichen Jahr nimmt er das Studium der Philosophie, Psychologie und Medizin auf. 1924 zieht er nach Heidelberg, wo er bei Alfred Weber Soziologie studiert. 1930 folgt er seinem Professor und Mentor Karl Mannheimer nach Frankfurt und beginnt sein Habilitationsprojekt mit dem Titel Der höfische Mensch. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten flüchtet er zunächst ins französische, dann ins englische Exil. 1940 stirbt sein Vater, ein Jahr später wird die Mutter vermutlich in Auschwitz ermordet. Ab 1935 lebt Elias in London und nimmt später die britische Staatsbürgerschaft an. Er lässt sich zum Gruppentherapeuten ausbilden und arbeitet als Dozent an der Universität Leicester. Eine Professur bleibt ihm wegen mangelnder Veröffentlichungen in englischer Sprache zunächst verwehrt. Erst 1962 wird er Professor an der University of Ghana in Accra. Nach seiner Rückkehr aus Afrika lebt der Privatgelehrte in Amsterdam und ist als Gastprofessor an deutschen Universitäten tätig. In dieser Zeit entstehen Werke wie Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen und Studien über die Deutschen. Mit dem Theodor-Adorno-Preis wird dem 80-Jährigen 1977 eine späte Würdigung zuteil. Am 1. August 1990 stirbt Norbert Elias hochbetagt in Amsterdam.

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