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Irre
Buch

Irre

Frankfurt am Main, 1983
Diese Ausgabe: Suhrkamp, 2008 more...

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Literatur­klassiker

  • Roman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Einfach irre

Irre ist wie ein Horrortrip ohne Ende: So muss es sich anfühlen, wenn einem das eigene Leben entgleist und es im Nirgendwo verschwindet. Für die Menschen in dem Roman ist der Zug abgefahren, egal ob sie zu denen gehören, die in der Klinik festsitzen, oder zu den Ärzten, die so tun, als könnten sie etwas gegen den Irrsinn unternehmen. Alles scheiße, findet der Protagonist, ein Alter Ego des Autors, schmeißt seinen Arztkittel hin und macht kaputt, was ihn kaputt macht. Rainald Goetz verabreicht dem Leser die nackte Wahrheit, und die ist ebenso unappetitlich wie die Arbeit der Pfleger im Buch, die den Kot der Patienten von den Krankenhauswänden kratzen; wohl auch, weil er uns mit seinem irren Sprachrhythmus in die Köpfe der Wahnsinnigen hineinzwingt. Wie gelähmt schaut man aus deren sedierten Gemütern auf die Welt und sieht einen Zug nach dem anderen vorbeirasen. Während Goetz 1983 an den Klagenfurter Literaturtagen aus dem Buch vorlas, ritzte er sich mit einer Rasierklinge die Stirn auf und ließ sein Blut übers Manuskript laufen. Ein medialer Stunt des angehenden Popliteraten, oder die konsequente Umsetzung seines radikalen Literaturverständnisses? Man muss Irre gelesen haben, um diesen Akt als rationale Selbstverletzung in einer verrückten Welt zu verstehen.

Zusammenfassung

Irre Momente

Herr Stelzer sitzt auf der Bettkante und reißt sich die Daumennägel ab, sodass es blutet. Raspe erscheint auf einer Faschingsparty, den Körper mit Schnittwunden bedeckt. Die Gäste lachen und halten es für eine Verkleidung. Bis er sich mit der Rasierklinge in den Arm schneidet. Walther Zarges liegt seit seiner Entlassung vor drei Wochen willenlos im Bett. In seinem Kopf rechnet es. Pausenlos. Eine Journalistin beklagt in einem Fernsehstreitgespräch, dass erst die Gesellschaft die psychisch Kranken irre mache. Ein Professor widerspricht: Man wisse nicht, warum Menschen den Weg der Psychose gingen.

Eine Pflegerin verliebt sich in einen Heroinsüchtigen, der freiwillig zum Entzug in die Klinik gekommen ist. Nach wenigen Tagen haut er ab. Goetz leidet unter einer Schwellung an seinem Hals, von der alle behaupten, sie sei gar nicht da. Er hat irgendwann aufgehört, zur Schule zu gehen, und sich in seinem Zimmer eingeschlossen, um pausenlos zu onanieren. Jetzt sitzt er in der Klinik fest, und kein Arzt spricht mit ihm. Wie soll...

Über den Autor

Rainald Goetz wird am 24. Mai 1954 als Sohn eines Chirurgen und einer Fotografin in München geboren. Er studiert Geschichte, Theaterwissenschaft und Medizin in München und in Paris. Ab 1976 schreibt er für die Süddeutsche Zeitung, darunter die Artikelserie Aus dem Tagebuch eines Medizinstudenten. 1980 leistet er sein praktisches Jahr in einer Nervenklinik ab, 1982 promoviert er mit einer Arbeit, die bereits deutlich literarische Züge trägt. Die traumatische Zeit in der Psychiatrie verarbeitet er in seinem Debütroman Irre (1983). Das Werk ist noch nicht veröffentlicht, als er mit seinem Auftritt beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt für einen Eklat sorgt: Während er aus dem Manuskript vorliest, ritzt er sich vor laufenden Kameras mit einer Rasierklinge die Stirn auf. Das deutsche Feuilleton ist gespalten zwischen Bewunderung und Abscheu. Der Autor aber geht als Mediensieger von Klagenfurt in die Geschichte ein. Nach mehreren Erzählungen, Dramen und Artikeln für die Musikzeitschrift Spex erscheint 1988 sein zweiter Roman Kontrolliert, eine Auseinandersetzung mit der RAF und dem Deutschen Herbst. Wenige Jahre später taucht Goetz in die Berliner Technoszene ein. Der Roman Rave, erschienen 1998, handelt vom Leben im Rausch, geschrieben im Stakkato des Techno-Beats. Im selben Jahr wird er eingeladen, die renommierten Frankfurter Poetikvorlesungen zu halten. Er verfasst eines der ersten prominenten Internettagebücher, das 1999 unter dem Titel Abfall für alle als Buch erscheint. Sein Bericht Loslabern (2009), ein Sittenbild über den Krisenherbst 2008, und das Bildtagebuch Elfter September 2010 (2010) sind fragmentarische Abrechnungen mit den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts. Goetz lebt als freier Schriftsteller in Berlin und hat mehrere Literaturpreise erhalten.


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