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Mutmaßungen über Jakob

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Mutmaßungen über Jakob

Suhrkamp,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Mit seinem literarischen Debüt schrieb sich Uwe Johnson auf Anhieb an die Spitze der deutschen Nachkriegsliteratur.

Literatur­klassiker

  • Politischer Roman
  • Nachkriegszeit

Worum es geht

Grenzgänger zwischen den deutschen Staaten

Wie starb Jakob Abs? Am Morgen des 8. November 1956 wird der erfahrene Eisenbahner von einem Zug der DDR-Reichsbahn überrollt. Das Unglück gibt seinen Freunden und Kollegen Anlass zu vielfältigen Spekulationen: War es ein Unfall? Selbstmord? Oder steckt gar die Stasi dahinter? In kunstvoll miteinander verwobenen Dialogstücken, Monologen und Beschreibungen erzählt Uwe Johnson vom Leben des stillen und pflichtbewussten Jakob Abs. Aufgewachsen in dem fiktiven Ostseedorf Jerichow, wird er seit der Republikflucht seiner Jugendfreundin Gesine Cresspahl von der Staatssicherheit überwacht. Gesine arbeitet inzwischen für die NATO in Frankfurt am Main und soll mit Jakobs Hilfe als Spionin für den Osten angeworben werden. Dafür lassen die DDR-Obrigen ihn sogar in den Westen reisen: Jakob hätte die Möglichkeit, dort zu bleiben, entscheidet sich aber zur Rückkehr – und verunglückt noch am selben Tag. Wegen der puzzleartigen Struktur und der wechselnden Perspektiven gilt der Roman – nicht ganz zu Unrecht – als schwierige Lektüre. Der zweifellos meisterhaften Qualität des Textes und dem Erfolg des Autors tat das jedoch keinen Abbruch.

Take-aways

  • Wie kaum ein zweiter Roman schildert Mutmaßungen über Jakob die Lebenswirklichkeit in der damaligen DDR.
  • Die Hauptfigur ist der ostdeutsche Eisenbahner Jakob Abs, der im November 1956 auf dem Bahnhofsgelände seiner Heimatstadt von einer Lok überrollt wird und stirbt.
  • Der Roman enthält „Mutmaßungen“ seiner Kollegen und Freunde. Sie fragen sich, ob Jakobs Tod ein Unfall, Selbstmord oder Mord war.
  • Erzählt wird auch die Vorgeschichte: Seit Jakobs Freundin Gesine Cresspahl in den Westen geflüchtet ist, wird er von der Staatssicherheit überwacht.
  • Gesine arbeitet bei der NATO in Frankfurt, weshalb der Stasi-Beamte Rohlfs sie als Spionin gewinnen will. Jakob soll ihm dabei helfen.
  • Als Gesine ohne Aufenthaltsgenehmigung Jakob besuchen kommt, verzichtet Rohlfs auf die Verhaftung.
  • Er lässt Jakob sogar zu Gesine in den Westen ziehen, wo er sich jedoch nicht heimisch fühlt.
  • Er kehrt in die DDR zurück und verunglückt am selben Tag.
  • Den politisch-historischen Hintergrund liefern die Suezkrise 1956 sowie der Volksaufstand in Ungarn im selben Jahr.
  • Der Roman ist aus Gesprächsfetzen und Beschreibungen mosaikartig zusammengesetzt und gilt zu Recht als schwer lesbares Buch.
  • Johnson siedelte nach der Veröffentlichung des Romans 1959 in den Westen über.
  • Von der Kritik wurde er als „Dichter beider Deutschland“ gefeiert.

Zusammenfassung

Rätselhafter Tod auf den Gleisen

Am Morgen des 8. November 1956 gerät der Eisenbahner Jakob Abs auf dem Bahnhof einer ostdeutschen Elbestadt unter einen Zug und stirbt. Trotz der widrigen Umstände, des dichten Frühnebels und der nassen und rutschigen Gleise, kann sich niemand den Vorfall erklären. Jakob kannte sich gut auf dem Bahnhofsgelände aus: Sieben Jahre war er als Dispatcher für die Koordination der Züge zuständig und nahm jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit eine Abkürzung quer über die Schienen. Eigentümlich ist auch, dass Jakob sich am gleichen Tag noch in Westdeutschland aufgehalten hatte: bei seiner Freundin Gesine Cresspahl.

„Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“ (S. 7)

Nach dem Krieg kamen Jakob und seine Mutter, Frau Abs, mit einem Flüchtlingstreck aus Pommern in das mecklenburgische Dorf Jerichow. Gesines Vater, der verwitwete Kunsttischler Heinrich Cresspahl, nahm die beiden in sein Haus auf; Frau Abs ersetzte Gesine fortan die Mutter. Die beiden Kinder wuchsen wie Geschwister miteinander auf. Im Alter von 18 Jahren begann Jakob als Rangierer auf dem Bahnhof in Jerichow zu arbeiten und zog dann von der Ostsee in eine Stadt an der Elbe. Gesine studierte Anglistik und flüchtete anschließend in den Westen. Sie nahm eine Stelle als Dolmetscherin an – ausgerechnet im Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in Frankfurt am Main.

„Krist Besäuk, ne oll Frau, bliwt bi di.“ (Cresspahl zu seiner Tochter, S. 38)

Die gesamte Familie wird seitdem von der Staatssicherheit der DDR überwacht. Ein Herr Rohlfs wird beauftragt, Gesine als Spionin für den Osten zu gewinnen. Er fährt nach Jerichow und spricht Jakobs Mutter an, die er jedoch verschreckt. Sie behauptet, lediglich bei den Cresspahls gewohnt und kaum Kontakt zu Gesine gehabt zu haben. Rohlfs fährt daraufhin in die Elbestadt und observiert Jakob.

Flucht aus Jerichow

In Jerichow geht Heinrich Cresspahl mit schweren Koffern und in Begleitung von Frau Abs zum Bahnhof. Die Dorfgemeinschaft vermutet, dass der alte Tischler seiner Tochter in den Westen folgen will. Cresspahls Gang durch das Dorf erweist sich jedoch als Ablenkungsmanöver: Am Abend kommt er allein vom Bahnhof zurück. Nicht er, sondern Jakobs Mutter hat die DDR verlassen. Cresspahl, nun allein in seiner Wohnung in Jerichow, ruft traurig Gesine an, um ihr den bevorstehenden Besuch anzukündigen. Rohlfs hört das Telefonat ab und versucht die Republikflucht von Frau Abs zu verhindern. Er kommt jedoch zu spät.

„Und seine Arbeit bedeutet nur diese Verantwortung und nichts darüber hinaus: dachte ich, ich hätte ihn gern gefragt wie er denn lebt. Was ein ernsthafter Mensch dachte ich.“ (Rohlfs über Jakob, S. 50)

Rohlfs lädt Jakob zu einem Gespräch vor, noch bevor dieser von der Flucht seiner Mutter erfährt. Der Beamte spricht allgemein vom Sozialismus, der nach dem deutschen Faschismus die einzige Möglichkeit eines Neuanfangs darstelle. Jakob sieht die Sache weniger philosophisch: Als pflichtbewusster Eisenbahner versucht er vor allem, etwas gegen den schlechten Zustand des ostdeutschen Bahnbetriebs zu unternehmen. Rohlfs empfindet Sympathie für Jakobs ernsthafte Art und leitet dann zu einer möglichen Spionagetätigkeit Gesines über: Man könne nie genug für den Sozialismus tun.

„Aber gesagt und ausgesprochen und vorhanden und wirklich war: für den Sozialismus kann einer kaum je genug tun, sollte man darüber nicht mit jedem reden Jakob?“ (Rohlfs, S. 53)

Am Abend in der Gastwirtschaft trifft Jakob auf Jöche, einen befreundeten Lokführer aus Jerichow, der ihm von dem Gerücht erzählt, Cresspahl sei aus der DDR geflüchtet. Von Letzterem erfährt Jakob jedoch später in einem Telegramm die Wahrheit: „Deine Mutter ist zum Westen = Cresspahl“.

Ein „menschlicher Sozialismus“

Jakob nimmt einige Tage Urlaub und fährt nach Jerichow. Er geht aufs Amt, um die Flucht seiner Mutter ordnungsgemäß zu melden, anschließend kümmert er sich um den zurückgelassenen Hausrat. Jakob ist traurig, er fühlt sich, als wäre seine Mutter nicht über die Grenze geflüchtet, sondern gestorben.

„Er hatte etwas versucht mit seinem Dasein, das so überstand: denn die Zeit (‚die Sseiten‘) war und waren so gefügt dass einer wenig Gewalt hatte über sein eigenes Leben und aufkommen musste für was er nicht angefangen hatte.“ (über Jakob, S. 56)

Ebenfalls zu Besuch bei Heinrich Cresspahl ist Dr. Jonas Blach, ein Verehrer Gesines. Er arbeitet als wissenschaftlicher Assistent im englischen Institut der Humboldt-Universität in Ostberlin und gehört zu einer regierungskritischen Gruppe von Intellektuellen. Am Abend berichtet er in Cresspahls Küche von einer illegalen Versammlung: Die Gruppe hat die Möglichkeit eines „menschlichen Sozialismus“ diskutiert, der dem einzelnen Bürger größere Freiheit gewähren soll. Um die Ergebnisse des Treffens in Ruhe in einer schriftlichen Arbeit zusammenzufassen, ist Jonas nach Jerichow gekommen.

„(...) alles was wir als Regel und Vorschrift auswendig wissen und hersagen wenn wir uns bewegen hatte er in sich war in ihm aufgesogen jenseits der Worte (...).“ (Blach über Jakob, S. 75)

Jakob fährt zurück an die Elbe. Er versucht, die Zugfahrtzeiten über die Planerfüllung hinaus zu optimieren. Dabei schweift er in Gedanken ab. Jonas’ Wunsch nach sofortiger persönlicher Freiheit steht Jakobs Verständnis vom Sozialismus entgegen, demzufolge jeder Einzelne sich für die Gemeinschaft und damit längerfristig für eine umfassende Freiheit engagieren soll. Seinen eigenen Beitrag sieht Jakob in der Arbeit für die Bahn. Jeder soll dort hinkommen, wo er will: er selbst zur Arbeit, seine Mutter in den Westen, Jonas Blach nach Jerichow.

Gesines Rückkehr

Am 23. Oktober 1956 kommt Gesine ohne Aufenthaltsgenehmigung aus Westdeutschland zu Besuch in die Elbestadt. Sie trifft Jakob zunächst nicht an, stattdessen wird sie vor seiner Haustür von einer bemüht unauffälligen Stasi-Mitarbeiterin im Trenchcoat beobachtet. Das macht sie nervös. Die beklemmende Atmosphäre in der DDR hatte sie schon fast vergessen. Sie isst zu Abend im Restaurant ihres Hotels – ohne zu wissen, dass sich Herr Rohlfs dort zur selben Zeit für ein weiteres Gespräch mit Jakob verabredet hat. Als Jakob kommt, tut er, als ob er Gesine nicht erkennt; sie durchschaut die Situation und verhält sich ebenso unauffällig. Rohlfs führt Jakob in eines der Hotelzimmer und fragt, warum er nicht wie Gesine und seine Mutter in den Westen gehe. Jakob antwortet überrascht, er könne doch seine Kollegen bei der Bahn nicht im Stich lassen.

„Es ist nicht unser Ziel die Leute einzusperren. Wir brauchen sie nämlich.“ (Rohlfs zu Jonas, S. 82)

Später treffen sich Gesine und Jakob vor dem Hotel. Beide wissen noch nichts von dem Aufstand in Ungarn an diesem Tag, sie beobachten jedoch die verstärkte Präsenz russischer Soldaten. Per Taxi und Zug fahren sie schließlich in Richtung Jerichow. Um ganz sicher nicht erwischt zu werden, laufen sie die letzten 20 Kilometer zu Fuß durch die Nacht. Rohlfs beobachtet die beiden, unternimmt zunächst aber nichts. Er hat im Radio vom Aufstand in Ungarn gehört – es steht zu vermuten, dass die für eine Verhaftung nötigen Kollegen ohnehin im Einsatz und sämtliche Telefonleitungen belegt sind. Außerdem will er Jakob nicht verärgern, da dieser ja Gesine zu einer freiwilligen Kooperation bewegen soll.

„(...) bis auf der Chaussee der Suchscheinwerfer ausgeschaltet wurde und der Wagen davonging hinter den Bäumen und sie küssten einander nach wie viel Jahren.“ (über Gesine und Jakob, S. 194)

Gespräche mit der Staatssicherheit Etwas hat sich verändert auf dem langen Weg nach Jerichow: Jakob und Gesine haben sich geküsst. Ihr Verhältnis ist nun nicht mehr das von Geschwistern. In Jerichow angekommen verkompliziert sich die Lage, da Jonas Blach nach wie vor zu Gast im Hause Cresspahl ist und Gesine auch mit ihm in einer Liebesbeziehung steckt. Sie steht zwischen den beiden Männern und erklärt Jonas etwas verlegen, aber ehrlich, dass es ihre Seele sei, die sich in Jakob verliebt habe.

„Die Sowjetunion hat aber Ungarn befreit. Sie wären aber nur die Befreier geblieben, wenn sie danach wieder gegangen wären.“ (Jonas, S. 219)

Die Nacht hindurch sitzen die drei jungen Leute und Cresspahl in der Küche und überlegen, wie Gesine unbemerkt das Land verlassen kann. Morgens um fünf muss Jakob auf den Zug, um pünktlich zur Arbeit in die Elbestadt zu kommen; unterwegs wird er jedoch von Rohlfs abgefangen. Er kann dem Stasi-Mann das Versprechen abnehmen, Gesine laufen zu lassen, und organisiert ihm im Gegenzug ein Treffen mit ihr in Jerichow. Gesine verspricht dabei, sich zu überlegen, ob sie als Spionin arbeiten will, und vertröstet Rohlfs auf eine spätere Zusammenkunft. In einer sowjetischen Limousine wird sie daraufhin direkt an die Grenze gefahren.

„‚Bleib hier‘ sagte sie. – ‚Komm mit‘ sagte er.“ (Gesine und Jakob, S. 296)

Soldaten nach Ungarn Jonas kehrt nach Berlin in sein Institut an der Universität zurück, erhält dort jedoch die Kündigung: Rohlfs scheint vom seinem regierungskritischen Essay erfahren zu haben. Jonas bringt das Manuskript zum Druck in die Redaktion einer philosophischen Zeitung und fährt mit einer Kopie des Textes in die Elbestadt. Er versucht, Jakob während der Arbeitszeiten auf dem Bahnhofsgelände zu besuchen, wird zunächst aber nicht vorgelassen. Erst Jakobs Freundin Sabine, die im Reichsbahnamt arbeitet, führt ihn in das entsprechende Zimmer.

„Er fühlte sich kühl und nüchtern, das war eine klare Wachheit, und weil er keinen nützlichen Gegenstand mehr für sie hatte, dachte er an den folgenden Tag und dass dann wieder die Sonne aufgehen würde und dass sie die Zeit auch verbringen würden an einem anderen Ort und dass von Heute und Gestern nur Aktennotizen übrig sein würden (...).“ (über Rohlfs, S. 306)

Jakob und Jonas erleben, wie ein Güterzug mit Panzern und Jeeps in den Bahnhof einrollt. Offensichtlich soll der Aufstand in Ungarn gewaltsam niedergeschlagen werden. Zwischen den Gleisen stehen die Soldaten in Grüppchen beieinander, rauchen Zigaretten und warten darauf, dass ihr Zug abgefertigt wird. Jakob gerät in einen Zwiespalt: Um das Militär schnell weiterzuleiten, müsste er die täglichen Pendlerzüge verspätet fahren lassen. Da er weiß, dass er den Lauf der Dinge ohnehin nicht aufhalten kann, lässt er die Arbeiter auf dem Weg in ihren verdienten Feierabend warten und bevorzugt schließlich die Soldaten.

„‚Sie sind kein guter Verlierer‘ sagte Jonas gegen den Rücken von Herrn Rohlfs.“ (S. 308)

Jonas übergibt Jakob die Kopie seines Manuskripts; dieser soll den Text bei Cresspahl in Sicherheit bringen. Jakob aber bekommt von Rohlfs überraschend eine Ausreisegenehmigung und fährt mit dem Zug zu Gesine. Die brisanten Seiten gibt er an Jöche weiter, damit dieser sie mit nach Jerichow nimmt.

Wut über das politische Geschehen

Jakob und Gesine treffen sich in Frankfurt. Sie hören von der bevorstehenden Intervention der englischen und französischen Truppen am Suezkanal und finden beim Abendessen kaum ein anderes Thema. Beide sind erbost über das unverantwortliche Handeln der Westmächte, das vielleicht gar einen dritten Weltkrieg auslösen könnte. Jakob ist insgesamt wenig angetan von seinem Ausflug in den Kapitalismus: Weder der geheuchelt zuvorkommende Service im Hotel noch das dumpfe Deutschtum in einer von Marschmusik beschallten Eckkneipe gefallen ihm. Der technische Fortschritt der Bundesbahn begeistert ihn zwar, die Arbeitsbedingungen der Bahnangestellten hingegen findet er unzumutbar: Die Lokführer im Westen müssen wesentlich längere Strecken fahren als ihre Kollegen im Osten, und das auch noch für weniger Lohn.

Jakob fährt mit Gesine in ein Flüchtlingslager, um dort seine Mutter zu besuchen. Sie kommen nur hinein, weil Gesine ihren NATO-Ausweis vorzeigt. Frau Abs sitzt mit unausgepackten Koffern in ihrem Zimmer und wartet noch immer darauf, in die Bundesrepublik eingelassen zu werden. Wie vorher schon Gesine redet sie auf Jakob ein und versucht ihn zum Bleiben zu überreden. Aber auch sie kann seine Meinung nicht ändern. Mit Gesine hört er im Autoradio sowohl von der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn als auch von der Landung der englischen und französischen Truppen in Ägypten. Jakob zweifelt am Westen und am Osten. Weder im einen noch im anderen System ist für ihn die familiäre oder politische Situation zufriedenstellend. Schließlich fährt er zurück in die DDR. Auf dem Weg zum Dienst wird er von einer Lok erfasst.

Unglück oder Mord?

Nachdem die Redaktionsräume der philosophischen Zeitung von der Staatssicherheit durchsucht worden sind, will Jonas die Kopie seines Essays von Jöche zurückholen. Um die Adresse zu erfahren, versucht er, Jakob bei der Arbeit anzurufen, erhält aber nur die Auskunft, dass dessen Freundin Sabine in ein Krankenhaus gefahren sei. Jonas eilt ihr nach und erfährt von Jakobs Tod. Gemeinsam mit Sabine schickt er ein Telegramm an Cresspahl, der sofort in die Elbestadt kommt.

Jonas fährt noch am selben Abend nach Jerichow und geht mit Jöche in den Dorfkrug. Die beiden sprechen über Jakobs Tod, den Jöche für einen reinen Unglücksfall hält, während Jonas vermutet, dass die Staatsmacht hinter dem Vorfall steckt. Er fährt wieder zurück in die Elbestadt und telefoniert von dort mit Gesine, die ihm erzählt, dass sie nicht für die Staatssicherheit arbeiten wird. Aus Wut über das Verhalten der Westmächte in der Suezkrise hat sie ihren Job bei der NATO gekündigt und als Sprecherin beim Rundfunk angefangen. Rohlfs hört wie immer das Gespräch der beiden ab, und diesmal greift er zu. Noch in der Telefonzelle wird Jonas von den Beamten der Staatssicherheit verhaftet. Er wirft Rohlfs vor, ein schlechter Verlierer zu sein; der Beamte, dessen Bemühungen um Gesine ja tatsächlich gescheitert sind, ist sich aber keiner Unrechtmäßigkeit seines Tuns bewusst. Er glaubt sogar, dass Jakob Verständnis für sein Verhalten gehabt hätte.

Zum Text

Aufbau und Stil

Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob sind alles andere als leichte Kost. Dialogfetzen, Monologe und Erzählabschnitte aus unterschiedlichen Perspektiven sind zu einem verwinkelten Romangebäude zusammengesetzt, in dem der Leser nur mit Mühe den roten Faden der Handlung entdecken kann. Welche der Figuren gerade spricht, lässt sich nur aus dem Zusammenhang erschließen, ebenso die Chronologie der Erzählung. Für zusätzliche Verwirrung sorgt die Widersprüchlichkeit der Aussagen: Niemand scheint die endgültige Wahrheit über die letzten Wochen in Jakobs Leben zu kennen; niemand kann mit Sicherheit sagen, in welchem der beiden deutschen Staaten es sich besser leben lässt. Die Lücken zwischen den einzelnen Texthäppchen überbrückt ein Erzähler. Der ist allerdings keineswegs allwissend und fügt dem Text, der sich liest wie eine lose Mappe von Verhörprotokollen, nur noch eine weitere persönliche Sichtweise hinzu. Letztlich muss der Leser also für sich selbst entscheiden, ob Jakob Abs durch einen Unfall, durch Selbstmord oder gar durch Mord gestorben ist. Ebenfalls unkonventionell und anspruchsvoll ist die Sprache der Mutmaßungen. Die korrekte Satzstellung wird nicht immer eingehalten, ungewöhnliche Formulierungen und Passagen im mecklenburgischen Dorfdialekt sind absichtsvoll als Stolpersteine in den Text gesetzt. Johnson fordert von seinem Leser größte Aufmerksamkeit und aktive Mitarbeit bei der Lektüre. Als Belohnung gibt es unzählige Details und Verknüpfungen zu entdecken.

Interpretationsansätze

  • Jakob, Gesine und Jonas stehen zwischen den Systemen: zwischen Ost und West, zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Deutlich wird die Zerrissenheit der Figuren an deren Einstellung zum politischen Tagesgeschehen. Alle drei verurteilen den Angriff der westlichen Alliierten auf Ägypten und sind zugleich entsetzt über das brutale Vorgehen der Sowjets in Ungarn.
  • Jakob leidet an einem Widerspruch zwischen Pflichtbewusstsein und Gefühlen. Als Arbeiter hat er die Lehren des Sozialismus verinnerlicht und müsste eigentlich mit der Stasi kooperieren. Da er aber nicht möchte, dass Gesine etwas zustößt, verhilft er ihr nach ihrem unerlaubten Besuch in der Elbestadt zur Flucht nach Jerichow und tritt später im Gespräch mit Rohlfs für sie ein. Letztlich bleibt die Figur Jakobs rätselhaft und gibt zu zahlreichen „Mutmaßungen“ Anlass.
  • Gesine ist die einzige Figur, die tatsächlich schon in die Bundesrepublik übergesiedelt ist und dort ein neues Leben begonnen hat. Aber auch sie fühlt sich in der BRD nicht zu Hause. Gesine hat sich gegen den Osten, aber nicht für den Westen entschieden. Ihren Job für die amerikanische NATO-Dienststelle gibt sie aus Wut über die Aggression der Westmächte während der Suezkrise auf.
  • Der Roman erzählt vor allem vom Alltag in der DDR. Ein kritisches Licht auf den Staatssozialismus wirft die Darstellung des Stasi-Beamten Rohlfs. Durch dessen Repressalien gerät das Privatleben der Figuren durcheinander; auch zu Jakobs Unfall wäre es – so oder so – ohne die Einmischung der Staatsmacht vermutlich nicht gekommen. Als überzeugter Sozialist stalinistischer Prägung glaubt Rohlfs, jedes Vorgehen mit dem Blick auf die Zukunft des Landes rechtfertigen zu können. Menschliches Einfühlungsvermögen lässt er jedoch vermissen.

Historischer Hintergrund

Eine weltpolitische Doppelkrise

Als Josef Stalin im März 1953 starb, übernahm Nikita Chruschtschow die Führung der Sowjetunion. Die dogmatische und antiwestliche Politik der Ostblockstaaten schien sich daraufhin zu entspannen. Chruschtschow machte im Februar 1956 in einer Rede auf dem Parteitag der KPdSU die Verbrechen der Stalinzeit bekannt und gestand ideologische und politische Fehler ein. In Ungarn wuchs in der Folge nicht nur die Kritik am Stalinismus, sondern auch am Einfluss der Sowjetunion und an den im Land stationierten Rote-Armee-Truppen überhaupt. Am 23. Oktober 1956 kam es zu einer Studentendemonstration in Budapest, die sich zu einem Volksaufstand ausweitete. Ungarns Regierungschef Imre Nagy verkündete am 1. November 1956 den Austritt aus dem Warschauer Pakt und die Loslösung des Landes von der Sowjetunion. Das war zu viel: Am 4. November 1956 rückten sowjetische Panzerverbände in Ungarn ein und schlugen die Revolution blutig nieder. Mindestens 2500 Menschen kamen ums Leben. Die erhoffte Hilfe aus dem Westen blieb aus.

In Ägypten kam es etwa zeitgleich zur so genannten Suezkrise. Um den Bau eines Staudamms zu finanzieren, verstaatlichte Präsident Gamal Abdel Nasser am 26. Juli 1956 den Suezkanal und brachte damit England, Frankreich und Israel gegen sich auf. Englische und französische Aktionäre hielten zu dieser Zeit Anteile am Kanal; beide Länder hatten den Wasserweg als Handelsroute genutzt und waren als Kolonialmächte nach dem Zweiten Weltkrieg ohnehin besorgt um ihren Einfluss in der Region. Als Israel – in Opposition zum arabisch-nationalistischen Kurs der Regierung Nasser – die freie Fahrt für seine Schiffe militärisch durchzusetzen begann, schlossen sich die englischen und französischen Truppen am 31. Oktober 1956 dem Angriff auf Ägypten an. Von den USA und der UNO wurde die Intervention scharf verurteilt, die Sowjetunion drohte gar mit der Entsendung eigener Soldaten zur Unterstützung Ägyptens. Bereits am 6. November 1956 kam es daher zu einem Waffenstillstand und dem Rückzug der westlichen Truppen. Die Aktion ging als militärische Blamage in die Geschichte ein.

Entstehung

Uwe Johnsons Biografie weist einige Übereinstimmungen mit dem Leben seiner Hauptfigur auf. Wie Jakob Abs kam auch Johnson mit einem Flüchtlingszug aus Pommern in die neu entstehende DDR und landete ebenfalls in einer mecklenburgischen Kleinstadt – die allerdings Güstrow hieß, nicht, wie im Roman, Jerichow. Seine Mutter fing als Schaffnerin bei der Reichsbahn an, wodurch Johnson Arbeitswelt und Sprache der Eisenbahner kennen lernte. Selbst nach der Flucht seiner Mutter in den Westen blieb er den Bahnarbeitern eng verbunden: Bis er sein Studium in Rostock aufnahm, durfte er in Güstrow in der Bahnkantine zu Mittag essen.

Johnsons erstes Romanmanuskript Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953 war wegen seines politischen Inhalts von keinem DDR-Verlag angenommen worden. Auch der westdeutsche Suhrkamp Verlag, zu dem Johnson bereits Kontakt hatte, war an dem Buch zunächst nicht interessiert. Der Autor lebte hart am Existenzminimum, entschied sich aber trotzdem für die Arbeit an einem neuen Roman: Von Februar bis Dezember 1958 schrieb Johnson Mutmaßungen über Jakob. Da er die schlechten Erfahrungen mit seinem ersten Manuskript noch gut in Erinnerung hatte, plante er zunächst, das Buch unter dem Pseudonym Joachim Catt zu veröffentlichen. Doch als Suhrkamp sich über den neuen Text begeistert zeigte, entschied sich Johnson, in den Westen zu gehen und dort seine Autorenkarriere unter richtigem Namen zu beginnen.

Wirkungsgeschichte

Auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 1959 wurde Mutmaßungen über Jakob als eines der wichtigsten Bücher des Jahres gefeiert – und das, obwohl es sich um ein literarisches Debüt handelte und der Roman zeitgleich mit Günter Grass’ Blechtrommel und Heinrich Bölls Billard um halbzehn erschien. Fast alle namhaften Kritiker der Bundesrepublik, von Fritz J. Raddatz über Hans Magnus Enzensberger bis zu Marcel Reich-Ranicki, lobten Uwe Johnson als außergewöhnliches und verheißungsvolles Talent. Für zusätzliche Aufmerksamkeit sorgte die Entscheidung des Autors, mit Veröffentlichung des Buches in den Westen überzusiedeln. Obgleich die damalige Bundesrepublik im Roman kaum vorkommt und dieser sich vor allem auf die Lebensumstände im Osten des Landes bezieht, wurde das Buch als Kommentar zur gesamtdeutschen Teilung gelesen. In Johnsons Sinne war diese Vereinnahmung nicht. Den Titel „Dichter beider Deutschland“ lehnte er Zeit seines Lebens ab.

Als Stellungnahme aus ostdeutscher Perspektive zu Johnsons Roman gilt Der geteilte Himmel (1963) von Christa Wolf: Auch in diesem Buch überlegt die Heldin, ob sie ihrem Geliebten in den Westen folgen soll – sie entscheidet sich jedoch ausdrücklich für die DDR. Johnson selbst ließ Figuren aus Mutmaßungen über Jakob in mehreren anderen Werken wieder auftauchen und griff die Handlung speziell in den Jahrestagen (1970–1983) wieder auf.

Über den Autor

Uwe Johnson wird am 20. Juli 1934 im polnischen Kamień Pomorski, dem damaligen Cammin in Vorpommern, als Sohn eines Landwirts und Gutsverwalters geboren. Das vierte Schuljahr verbringt er in einem Eliteinternat der Nationalsozialisten. Anfang 1945 flieht der Elfjährige mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Mecklenburg. Sein Vater stirbt in sowjetischer Haft. Nach dem Abitur in Güstrow studiert er zunächst Germanistik in Rostock. Er protestiert in einer Großversammlung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) gegen die staatliche Verleumdung der evangelischen Jungen Gemeinde und wird daraufhin exmatrikuliert. Johnson tritt aus der FDJ aus. In Leipzig wird er wieder zum Studium zugelassen. Sein Diplom macht er 1956 bei Hans Mayer, einem prominenten jüdischen Literaturwissenschaftler, der nach Kriegsende in die DDR zurückgekehrt ist. Im gleichen Jahr vollendet er seinen ersten Roman, Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, der von ost- und westdeutschen Verlagen abgelehnt und erst posthum veröffentlicht wird. Der Roman Mutmaßungen über Jakob erscheint 1959 im Frankfurter Suhrkamp Verlag und wird auf der Buchmesse enthusiastisch gefeiert. Er handelt vom Leben und Tod eines Grenzgängers, der auf keiner Seite Deutschlands zurechtkommt. Kurz nach dem Erscheinen siedelt Johnson nach Westberlin über. In den 60er Jahren folgen mehrere Werke, in denen er historische Ereignisse wie den DDR-Volksaufstand am 17. Juni 1953, den Ungarnaufstand 1956 und den Mauerbau 1961 aufarbeitet. Anfang 1968, während eines Stipendiums in New York, beginnt er die Arbeit an seinem Hauptwerk Jahrestage. Die ersten drei Bände erscheinen 1970, 1971 und 1973. 1974 zieht er nach Sheerness-on-Sea, einem einsamen Ort auf der englischen Themse-Insel Sheppey. Er trinkt, leidet unter schweren Depressionen und einer Schreibblockade. Für Letztere macht er die Untreue und angebliche Spionagetätigkeit seiner Frau Elisabeth verantwortlich. Auf Drängen seines Verlegers beendet er 1983 den vierten Band der Jahrestage. Am 23. Februar 1984 stirbt er 49-jährig an Herzversagen. Seine Leiche wird erst drei Wochen später gefunden.

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