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Die Wupper

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Die Wupper

Reclam,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Bildgewaltig und schillernd: Else Lasker-Schüler nannte ihr Stück eine „böse Arbeitermär“.


Literatur­klassiker

  • Drama
  • Expressionismus

Worum es geht

Das Karussell des Lebens

Else Lasker-Schülers bekanntestes Theaterstück ist keine leichte Kost: Die Dialoge sind voller Untiefen, die sich aus den vielfältigen sozialen Beziehungen und Tabus ergeben, die Szenen sind kaleidoskopische Fetzen, direkt aus dem Leben gerissen. Das Jahrmarktskarussell, auf dem Fabrikantensohn Heinrich mit dem jungen Lieschen fährt, bevor er sie verführt, wird zur Metapher für die Konstruktion des Stücks und die ausweglose Wiederholung der immer gleichen Konflikte. Um Heinrichs – nur angedeutete – Tat im vierten Akt reihen sich die schnell vorbeiziehenden Bilder aus Arbeiterviertel und Fabrikantenvilla. Die Handlung bewegt sich zwischen Schmutz und Begierde, Komik und Groteske, Hoffnung und Verzweiflung. Viele haben versucht, das Stück einzuordnen: Ist es naturalistisch, expressionistisch oder symbolistisch? Ist es eine düstere, fantastische Ballade oder ein sozialkritisches Drama? Die Wupper widersetzt sich einer eindeutigen Zuordnung. Intendanten und Regisseure taten sich schwer mit der Umsetzung. Trotzdem oder gerade deshalb ist Die Wupper ein bedeutendes Werk des modernen Theaters.

Take-aways

  • Die Wupper ist das bekannteste Theaterstück der Dichterin Else Lasker-Schüler.
  • Inhalt: In Wuppertal zur Zeit der Industrialisierung kreuzen sich die Wege der Fabrikantenfamilie Sonntag und der Arbeiterfamilie Pius. Die Söhne der Familie Pius studieren für ein geistliches Amt. Nachdem ein Fabrikantensohn ein Arbeitermädchen verführt hat, nimmt er sich das Leben. Ein Arbeitersohn stellt eine Fabrikantentochter bloß, nachdem sie ihn abgewiesen hat. 
  • Anstelle einer stringenten Handlung besteht das Stück aus einer schlaglichtartigen Aneinanderreihung einzelner Szenen.
  • Die Dichterin gab an, das Stück in nur einer Nacht geschrieben zu haben.
  • Sie verarbeitete darin Eindrücke ihrer Kindheit und Jugend in Wuppertal-Elberfeld.
  • Die Wupper wurde erst zehn Jahre nach Erscheinen uraufgeführt.
  • Das Stück wird der literarischen Strömung des Expressionismus zugerechnet, zu deren bedeutendsten Vertreterinnen Lasker-Schüler zählt.
  • Es steht außerdem in der Tradition des Naturalismus, bricht diese aber durch absurde und fantastische Motive auf.
  • Öffentliche und finanzielle Anerkennung blieben der Dichterin zeit ihres Lebens verwehrt.
  • Zitat: „Regen Se sich deshalb nich auf. Carl sein Großvatter, der hat vor langer Zeit zu mich gesagt, de Mutter Pius wär das Karussell, wo wir all drinsitzen.“

Zusammenfassung

Erster Akt: Im Arbeiterviertel

In einem Arbeiterviertel in der Nähe einer Fabrikstadt leben die Familien Pius und Puderbach. Vor dem alten kleinen Haus der Familie Pius steht eine Bank, an der sich die Nachbarn treffen. Großvater Wallbrecker unterhält sich mit seinem Enkel Carl Pius über dessen Zukunftspläne. Carl sollte seiner Ansicht nach Handwerksmeister werden, statt zu studieren. Carl möchte jedoch Pastor werden. Der Großvater schlägt vor, dass sein Enkel Lieschen Puderbach heiraten soll. Er hat mit dem Großvater des Mädchens zusammen am Webstuhl gearbeitet. Lieschen würde eine gute Pastorenfrau abgeben.

„Hör auf dein alten Großvatter, Carl, schmeiß den Gelehrtenkrams beis Gerömpel. Du bist man so recht was für’n Meister, Gesellen müsst de unter dein Kommando hab’n.“ (Großvatter Wallbrecker, S. 9)

Carls Vater war Färber und hat reich geheiratet. Carls Mutter, Amanda, hat ihre hochmütige Art nie abgelegt. Nun sorgt sich der Großvater, dass sich niemand um ihn kümmern wird. Er erzählt Carl, dass August Puderbach, Lieschens Bruder, schon gutes eigenes Geld verdient. Carl erklärt, dass er bald dreimal so viel verdienen wird. Großvater Wallbrecker befürchtet, dass er dann wohl zum Ketzer werden und in eine lutherische Kirche gehen muss. Sie wollen zurück ins Haus gehen, werden aber von Lieschen aufgehalten, die den Großvater umarmt und ihm eine neue Pfeife als Geburtstagsgeschenk verspricht. Der Großvater erzählt ihr, dass sich der reiche Eduard Sonntag immer nach ihr erkundigt, was ihr sichtlich gefällt. Eduard hat ihr zwei Bilder geschenkt. Carl neckt sie, dass sie ihn wohl nicht mehr heiraten will. August Puderbach kommt hinzu. Er war mit Lieschen im Wald, um Beeren zu pflücken. Amanda Pius schaut aus dem Fenster und bemerkt, dass Lieschen langsam zu einer jungen Frau wird. Die Familien gehen in ihre Häuser und zu Bett.

„Tum Tingelingeling, Carl, die alte Truthenne hat auch dein Vater immer in die Ohren gelegen. Ein fleißiger Färber war’s; (zeigt auf das Wasser der Wupper) da rinnt sein Blut.“ (Großvatter Wallbrecker, S. 10)

Im Haus will Amanda vom Großvater wissen, was Carl zu ihm gesagt hat. Als er berichtet, dass Carl weiterhin Pastor werden will, wird sie wütend. Sie will nicht mehr für die ganze Familie sorgen müssen. Der Großvater tröstet sie, dass es nur noch ein paar Jahre sind. Amanda meint, dass ihre Schwiegermutter, Mutter Pius, an allem schuld sei: erst am Unglück ihres Mannes, und jetzt würde sie Carl auf falsche Gedanken bringen. Lieschen kommt herauf, um gute Nacht zu sagen.

„Wenn Se’s nich wieder sagen, zeig ich euch ’ne neumodsche Photographie von de Marta – splitternackt, wie’s erste Weib unterm Baum.“ (Auguste zu Mutter Pius, S. 25)

Draußen unterhalten sich August und Carl mit den Herumtreibern Lange Anna, Amadeus und Pendelfrederech. Als diese Geld von Carl fordern, kommt es zu einem Handgemenge und Lärm. Die herbeieilenden Helfershelfer der drei werden von Großvater Wallbrecker verscheucht. Als es wieder ruhig wird, sieht Pendelfrederech Lieschen mit geschlossenen Augen auf dem Dach umherwandern.

Zweiter Akt: Familie Sonntag im Garten

Frau Sonntag sitzt mit ihren Söhnen Eduard und Heinrich und ihrer Tochter Marta im Garten, während sich Mutter Pius mit den Dienstmädchen Berta und Auguste unterhält. Mutter Pius ist stolz auf ihren klugen Enkel Carl. Sie behauptet zu wissen, dass Berta einen Liebhaber hat, die Karten hätten es ihr gesagt. Sie prophezeit Berta, dass ihr Schatz sie betrügen und dass Berta danach eine Weltreise antreten und einen Millionär kennenlernen wird. Berta zweifelt an der Richtigkeit der Voraussagen. Für Auguste hat Mutter Pius keine schöne Zukunft vorausgesehen, bietet ihr aber an, ihr Möglichstes zu tun, um „den Zauber“ in eine bessere Richtung zu lenken. Auguste erzählt Mutter Pius, dass Marta Sonntag sich auch einmal die Karten legen lassen will, und verrät, dass Marta Nacktfotos von sich hat machen lassen. Mutter Pius glaubt ihr zunächst nicht, nimmt ihr aber später das Bild ab, das Auguste holt. Heinrich Sonntag spricht Mutter Pius in der Sprache der Arbeiter an. Sie lädt ihn ein, auf dem Jahrmarkt ihre Bude zu besuchen, und verspricht ihm eine besonders feine Delikatesse. Als Mutter Pius weitergeht, ermahnt Frau Sonntag ihren Sohn, Mutter Pius nicht immer so zu necken. Schließlich sei sie die Großmutter von Eduards bestem Freund Carl.

„Carl: Haben Sie Ihre Dienstboten gesehen? – Marta: Es sind doch auch Menschen. – Carl: Darum müssen sie gehorchen. – Marta: Eduard sagt immer, es seien arme, weiße Sklaven. – Carl: Eduard ist ein Idealist.“ (S. 38)

Im Pavillon sitzt die Familie Sonntag mit Carl Pius zusammen. Man unterhält sich über Herrn von Simon, der die Geschäfte für Heinrich führt. Er soll deutlich strenger mit den Arbeitern umgehen als Heinrich. Heinrich musste kürzlich seinen fleißigsten Angestellten hinauswerfen, nachdem der betrunken auf Herrn von Simon losgegangen war. Sie sprechen über Carls kurz bevorstehendes Examen. Frau Sonntag erkundigt sich nach seinen Beweggründen, evangelischer Pfarrer werden zu wollen. Eduard antwortet, Carl wolle heiraten. Eduard selbst will ebenfalls eine Laufbahn als Geistlicher einschlagen, allerdings als katholischer Priester. Die Familienmitglieder versuchen, Heinrich zu ermuntern, sich mehr zu bewegen und reiten zu gehen. Seit dem Ende seiner Militärlaufbahn sitzt er nur noch im Büro. Heinrich geht fort, Carl und Marta spazieren durch den Garten. Eduard spricht seine Mutter auf ihre Abneigung gegen Carl an. Sie wirft ihm im Gegenzug vor, dessen Fehler zu übersehen. Sie möchte nicht, dass Carl so viel Zeit mit ihrer Tochter verbringt. Marta und Carl sprechen derweil darüber, dass Eduard krank ist. Carl möchte Martas Hand nehmen, doch die droht, ihn zu schlagen, wenn er ihr zu nahe kommt. Heinrich tritt an die beiden heran und berichtet, Amadeus habe ihm gerade seinen Tod vorhergesagt.

Dritter Akt: Der Jahrmarkt

Heinrich fährt mit Lieschen auf dem Jahrmarkt Karussell. Sie erzählt ihm von einem „Herrn Eduard“, der ihr Schatz sei. Heinrich ahnt nicht, dass es sich dabei um seinen Bruder handelt. Erst als sie auch Carl Pius erwähnt, weiß er, von wem Lieschen spricht. Einige Geschäftsfreunde von Heinrich kommen dazu und fahren mit. Berta ist mit Herrn von Simon unterwegs. Sie erklärt, dass sie nicht mehr für die Sonntags arbeiten möchte. Das Karussell schließt. Berta und Herr von Simon sind schon länger ein Paar, doch er bittet sie, ihre Beziehung geheim zu halten. Er befürchtet, einer der Arbeiter könne sie zusammen sehen. Sie wollen nach Weihnachten heiraten. Sie weigert sich, vorher mit ihm zu schlafen, doch er bittet sie beharrlich.

„Heinrich: Wann wirst de eingesegnet, Liecken? – Lieschen (weinselig): Brüst hab ich wie junge Salatköppe.“ (S. 49)

Willem, der Arbeiter, den Heinrich entlassen hat, stürmt auf Herrn von Simon zu und droht ihm. Er wirft ihm vor, er habe seine Schwester verführt und dann sitzen lassen. Die Geschäftsleute versuchen, von Simon aus der Situation zu retten. Ein Herr meint, von Simon komme eben nicht gut mit den Leuten zurecht, Heinrich sei darin viel besser. Heinrich, der inzwischen betrunken ist, wird Lieschen gegenüber immer anzüglicher. Die Freunde schlagen vor, man solle nach Hause gehen. Herr von Simon herrscht Heinrich an, ihm zu folgen; der reagiert aggressiv. Die umstehenden Männer wissen, dass Heinrich ein guter Leutnant war, und stellen sich hinter ihn, als wären sie Soldaten. Heinrich lässt sie vor sich exerzieren und Herrn von Simon zu sich bringen. Nach einigem Gerangel kann von Simon sich losmachen und läuft fort. Die restliche Gesellschaft löst sich auf. Amadeus weist auf Heinrich und nennt ihn einen Todeskandidaten.

Vierter Akt: Rauchend vor dem Haus

An einem Morgen kommt Eduard zum Haus der Familie Pius. Er trifft Lieschen und sie setzen sich auf die Bank. Er hat ihr ein neues Bild mitgebracht. Sie will es in ihrem Zimmer anstelle des Jesusbildes aufhängen, dass ihr wegen Jesusʼ traurigen Ausdrucks nicht gefällt. Ihre Mutter hat ihr erzählt, Eduard wolle ihr auch einen goldenen Rahmen für das Bild schenken. Eduard sagt ihr, sie solle häufiger in die Kirche gehen und auf ihr reines Herz achtgeben. Lieschen wird von anderen Kindern fortgerufen.

„Mutter Pius (sich aufraffend): Temperatur hab’n alle Pius im Leib gehabt un du auch, Carl, siehst de, un de Großmutter weiß das. (Sie holt sorgfältig Martas Bild aus ihrer Ledertasche und hält es Carl hin.)“ (S. 65)

Großvater Wallbrecker kommt heraus und setzt sich zu Eduard. Sie rauchen zusammen, Amanda bringt ihnen Kaffee. Carl schläft noch und wird von Amanda geweckt. Mutter Pius ist sicher, dass sie Eduard heilen kann, nachdem alle Ärzte versagt haben. Eduard überreicht Amanda einen Brief von seiner Mutter. Unterdessen hört man aus einer Gasse Weinen und Gepolter. Amanda weist Carl an, hinüberzugehen und für Ruhe zu sorgen, doch der weigert sich. Auch Eduard meint, es wäre Carls Aufgabe, der Sache nachzugehen. Als Carl sich nicht bewegt, geht der Großvater hin. Die Lage beruhigt sich wenig später.

„Mutter Pius: (…) So en wackerer Mann, wie du bist, Carl – un de feine Herrschaften stärken gern man das Treibhausblut mit den natürlichen seines. / (Carl immer gespannt.) / Liest de dann nich in de Zeitung öfters, dass de Gräfinnen sich mit de Lakais einlassen?“ (S. 66 f.)

Das Gespräch wendet sich Lieschens Zukunft zu. Eduard schlägt vor, dass seine Schwester Marta sich Lieschens annehmen könnte. Der Großvater beschwert sich, er sei auf die Hilfe seiner Tochter und Mutter Pius’ angewiesen. In der Ferne sieht man den Kaplan näher kommen. Großvater Wallbrecker versteckt sich – der Kaplan macht ihm nämlich Vorwürfe, dass Carl evangelischer Pfarrer werden will. Eduard verabschiedet sich, morgen steht sein Examen an. Mutter Pius sieht Eduard nach und bemerkt, dass er wohl nicht mehr lange zu leben hat. Carl erklärt, dass er dem Freund gern ein Stück von seiner Lunge geben würde, um ihn zu retten. Mutter Pius fragt Carl, ob er Eduard lieber hat oder sie, und bekennt, dass auch sie manchmal wehmütig ist. Der Großvater scherzt, sie hätte ja ihn heiraten können. Dann geht er mit Amanda fort, um sich um die Wäsche zu kümmern.

„Carl (herablassend, brutal): Schlagt euern Herrn tot, wie se’s in Russland machen! – Derselbe Arbeiter: Un dann? – Mutter Pius (lachend): Dann wirst du der Besitzer, August. – Ein anderer Arbeiter: Lieber bleiben wir en Arbeiter als en Herrn werden über se alle.“ (S. 68)

Mutter Pius, nun mit Carl allein, erklärt ihm, dass die Mitglieder der Familie alle leidenschaftlich sind. Sie zeigt ihm das Aktbild von Marta. Offenbar hat sie mit ihrer Vermutung richtiggelegen, dass Carl in Marta verliebt ist. Er nimmt ihr das Bild ab. Mutter Pius erklärt ihm, dass Marta ihn auch mag. Er will ihr zuerst nicht glauben, doch reagiert dann überglücklich. Er fürchtet, das Examen nicht zu bestehen, doch Mutter Pius macht ihm Mut. Er solle mit Frau Sonntag sprechen, sobald er die Prüfung bestanden habe. Adlige, meint sie, würden ihr Blut gern mit dem Blut einfacher Leute auffrischen.

„Frau Sonntag: Ich liebe Gott nicht. – Eduard: Weil du ihn mit menschlichen Empfindungen suchst. – Frau Sonntag (melancholisch): Ich habe keine andern. – Eduard (legt den Arm um sie): Und doch leidest du unmenschlich, Mütterchen.“ (S. 72)

August und eine Gruppe Arbeiter kommen dazu. In der Fabrik wird gestreikt. Die Gruppe sieht keinen Sinn darin, kann jetzt aber weder zur Arbeit noch nach Hause. Sie fragen Mutter Pius um Rat. Carl rät ihnen, es wie in Russland zu machen und die Herren totzuschlagen. Dann könnten sie, ergänzt Mutter Pius, selbst Besitzer werden, doch sie winken ab. Die Männer bitten um Geld, doch Mutter Pius erklärt, dass sie nichts übrig hat, weil Carl zur Universität geht.

Fünfter Akt: Eine Prophezeiung wird wahr

Die Familie Sonntag sitzt mit den Hausangestellten im Gartenzimmer. Im Hintergrund ist ein Bild von Heinrich mit einem Trauerflor behängt, den Marta abnimmt. Eduard hat sie darum gebeten, weil er lieber etwas Lebendiges am Bild seines Bruders sähe. Frau Sonntag ist verbittert. Es wäre besser, sagt sie, Heinrich wäre nie geboren worden. Eduard ist dagegen überzeugt, dass Heinrich einen guten Grund gehabt habe, so zu handeln, wie er es tat. Er sei schließlich Soldat gewesen. Frau Sonntag wirft Eduard vor, seinen Bruder zu verherrlichen. Eduard erwidert, Heinrich habe die Fabrikleitung nur übernommen, weil sein Vater ihn darum gebeten habe. Frau Sonntag entgegnet, Heinrich hätte nur sagen müssen, dass er den Posten nicht will, und sie hätten jemand anderen finden könnten. Marta wirft ein, sie sollten nicht über so trübsinnige Themen sprechen. Eduard verspricht ihnen, dass er nicht mehr lange da sein wird. Marta versucht, die Stimmung aufzuheitern – ohne Erfolg. Frau Sonntag gesteht, dass sie sich Gott nicht nahe fühlt, und Eduard verspricht ihr, in der Zeit, die ihm noch bleibt, den Vater und den Bruder zu ersetzen. Frau Sonntag sagt, dass könne er zum Glück nicht. 

„Regen Se sich deshalb nich auf. Carl sein Großvatter, der hat vor langer Zeit zu mich gesagt, de Mutter Pius wär das Karussell, wo wir all drinsitzen.“ (Auguste zu Eduard, S. 74)

Carl Pius wird angemeldet – er möchte mit Frau Sonntag sprechen. Die geht zu ihm hinaus. Auguste bleibt mit Eduard zurück. Sie sagt voraus, dass auf den Trauerfall eine Hochzeit folgen wird, und berichtet Eduard, Berta werde kündigen und, Mutter Pius’ Prophezeiung folgend, nach Amerika gehen. Als Auguste sich im Leichenschauhaus von Heinrich verabschieden wollte, habe sie Mutter Pius gesehen. Die habe ein Lied gesungen und sich im Kreis gedreht. Großvater Wallbrecker sagt laut Auguste immer, Mutter Pius sei ein Karussell, in dem sie alle säßen.

„Klopfen Se man tüchtig, de alte Pius schläft doch nich in de Nacht, die hat mit em Satan zu konferieren.“ (Amadeus, S. 81)

Frau Sonntag kommt zurück und stellt Eduard zur Rede: ob er gewusst habe, dass Carl um Martas Hand anhalten wird. Eduard wusste nichts davon und ist genauso schockiert wie seine Mutter. Er fühlt sich ausgenutzt, weil er dachte, Carl sei seinetwegen so oft zu Besuch gekommen. Frau Sonntag findet Carl impertinent und hat ihm gesagt, er sei zu jung für Marta. Marta geht unterdessen mit Herrn von Simon im Garten spazieren. Frau Sonntag hält diesen für einen geeigneten Mann für ihre Tochter. Eduard ist fassungslos. Er erinnert seine Mutter an einen Verdacht, den sie selbst im Zusammenhang mit Heinrichs Tod Herrn von Simon gegenüber gehegt hat, doch sie stellt sich taub. Eduard wirft ihr vor, Martas Leben zu verkaufen und sie mit einem Buhler zu verkuppeln. Frau Sonntag meint, Eduard übertreibe. Als Eduard sich nach Lieschen erkundigt, warnt Auguste ihn, dass die Leute einen falschen Eindruck bekommen könnten. Es gab Gerede, als Heinrich so viel Zeit mit dem Mädchen verbrachte. Dr. von Simon und Marta kommen herein; er nennt Frau Sonntag schon „Mama“. Frau Sonntag öffnet einen Briefumschlag, den Auguste kurz zuvor gebracht hat. Darin findet sie das Aktbild von Marta und auf der Rückseite eine Nachricht von Carl Pius. Sie legt das Bild in ihren Sekretär.

Im Arbeiterviertel unterhalten sich die Herumtreiber über Carl, August und Lieschen. Carl und August sind nur noch im Wirtshaus anzutreffen. Lieschen wurde in eine Erziehungsanstalt gebracht, weil sie sich mit mehreren Männern eingelassen haben soll. Lange Anna behauptet, auch mit ihm habe sie eine Nacht verbracht. Carl und August treten betrunken aus dem Wirtshaus. Eduard kommt dazu. Lange Anna stützt Carl und August. Eduard klopft an die Tür der Familie Pius, doch der Großvater vertreibt ihn. Eduard geht gesenkten Hauptes davon.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Wupper ist ein Drama in fünf Akten und entspricht damit der klassischen Form. Die Handlung spielt an zwei Orten, in der Arbeitersiedlung und im Haus bzw. Garten der Familie Sonntag, und umfasst einen Zeitraum von mehreren Wochen. Inhaltlich sind verschiedene Handlungsbögen erkennbar, die sich kreuzen: unter anderem die Geschichte des Aufsteigers Carl Pius, der bei Marta Sonntag abblitzt, oder die Geschichte von Heinrich Sonntag und dessen frühem Tod. An die Stelle eines logischen und geschlossenen Handlungsverlaufs treten aussagekräftige Bilder und vielschichtige, mitunter fantastische Szenen. Das Drama steht in der Tradition des Naturalismus, indem es die Sprache des einfachen Volkes aufnimmt. Die Figuren aus der Arbeiterschicht sprechen breiten bergischen Dialekt, den Heinrich Sonntag übernimmt, wenn er mit ihnen spricht, und den Carl Pius ablegt, um sich über seine Herkunft zu erheben. Die Dialoge sind meist kurz, Themen werden nur angerissen. Oft wirken die Szenen banal und alltäglich, die Figuren plaudern miteinander, sie kommen und gehen. Was neben dem explizit Gesagten wirklich gemeint ist, bleibt unter der Oberfläche. Vieles lässt sich aus den detaillierten Regieanweisungen entnehmen, in denen Lasker-Schüler vor allem die Szenerie detailreich beschreibt.

Interpretationsansätze

  • Der namensgebende Fluss, die Wupper, tritt im Stück immer wieder als verbindendes Glied in Erscheinung. Der Fluss, Voraussetzung für das Färberhandwerk, bringt die unterschiedlichen Charaktere zusammen. Dabei wechselt er die Farbe entsprechend der jeweiligen Stimmung.
  • Das Stück steht zwischen den Gattungen. Es nutzt manche Elemente des klassischen Dramas, verwirft andere, und enthält Elemente der naturalistischen wie der expressionistischen Dichtung. Lasker-Schüler selbst fand eine eindeutige Zuordnung des Stückes schwierig: Sie meinte, man könne Die Wupper „nicht kurzweg ein Märchen oder ein Schauspiel oder ein Drama nennen (…), höchstens eine Stadtballade mit rauchenden Schornsteinen und Signalen.“
  • Die drei Herumtreiber Pendelfrederech, Lange Anna und Amadeus stehen außerhalb der Handlung und erscheinen als mythische Gestalten. Ihre Kommentare stehen am Ende fast jeder Szene; ihre Funktion ähnelt damit der des Chors in der griechischen Tragödie.
  • Die Szenen bleiben bruchstückhaft, die Motive der Handelnden oder gar ein Sinn des Dargestellten bleiben im Dunkeln. Alles geht ineinander über – von den Gassenhauern („O du lieber Augustin“) über das wilde Treiben auf dem Jahrmarkt bis zu den Szenen im Hause Sonntag. Mit seinen schnellen, episodischen Bilder steht das Stück dem Film näher als dem klassischen Theater.
  • Unter allem brodelt Sexualität als Antrieb der Figuren und Auslöser von Konflikten. Heinrich begeht Selbstmord, nachdem er Lieschen verführt hat, Carl blitzt bei Marta ab und stellt sie deshalb bloß. Das Stück verzichtet auf eine moralische Bewertung. Obwohl man die Fabrikantenfamilie für das Leid der proletarischen Figuren verantwortlich machen mag, werden auch diese nicht als unschuldige Opfer dargestellt.
  • Inmitten des Geschehens zieht die intrigante Mutter Pius die Fäden und spielt mit dem Begehren der Figuren. Ihr anständiges Gegenbild ist der schwindsüchtige Eduard. Der bleibt am Ende allein zurück. Auch Carls Schicksal bleibt offen. Ob sein gesellschaftlicher Aufstieg gelingen wird, bleibt fraglich.

Historischer Hintergrund

Deutschland zur Jahrhundertwende

1888 starb Kaiser Wilhelm I. Sein Sohn Friedrich III. blieb nur 99 Tage auf dem Thron, den nach Friedrichs frühem Tod der erst 29-jährige Wilhelm II. übernahm. Konflikte mit dem mächtigen Reichskanzler Otto von Bismarck endeten 1890 mit dessen Entlassung. In den Folgejahren sorgten die Wirtschaftssektoren Großchemie, Elektrotechnik und Maschinenbau für einen Aufschwung in Deutschland, der dem Reich den zweiten Platz in Industrie und Welthandel sicherte. Das Leben der Arbeiter verbesserte sich – vor allem durch den wachsenden Einfluss der Gewerkschaften.

Wilhelms wechselhafte Politik, sein Prestige- und Weltmachtstreben führten zur Aufrüstung vor allem der Flotte – ein Schritt, der ihm den Unmut Englands zuzog. Durch ein Bündnis zwischen Frankreich und Russland wurde Deutschland zusätzlich isoliert. Ein Gefühl der Bedrohung durch die umgebenden Mächte machte sich breit und gipfelte im Kriegsrat von 1912, in dem General von Moltke zu verstehen gab, dass ein Krieg unvermeidbar und so schnell wie möglich zu beginnen sei.

Als am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet wurde, geriet die Lawine ins Rollen. Einen Monat später erklärte Österreich-Ungarn – mit Rückendeckung Deutschlands – Serbien den Krieg; Anfang August folgten  deutsche Kriegserklärungen gegen Frankreich und Russland. Deutsche Truppen marschierten in Belgien ein und provozierten so eine Kriegserklärung Englands. Der nun anhebende Erste Weltkrieg erfasste, befeuert von der Kriegsbegeisterung weiter Teile der Bevölkerung, binnen weniger Tage ganz Europa. In den nächsten vier Jahren verloren rund 17 Millionen Menschen ihr Leben. Nach langwierigen Waffenstillstandsverhandlungen endete der Erste Weltkrieg am 11. November 1918.

Entstehung

Else Lasker-Schüler behauptete, sie habe Die Wupper in einer einzigen Augustnacht geschrieben. Und auch wenn sich die Szenen so nie abgespielt hätten, sei das Stück doch wirklich; sie nannte es „eine böse Arbeitermär“. Die Dichterin wuchs in Elberfeld auf, das später zu Wuppertal kam, und verarbeitete ihre Kindheitseindrücke zu einem expressionistischen Bilderreigen. Sich selbst schrieb die Dichterin in der Figur des Amadeus in die Geschichte. Lasker-Schüler spielte zeit ihres Lebens mit Geschlechterrollen und fiel selbst in der Berliner Boheme durch ihren eigenwilligen Stil auf. Briefe an Freunde unterzeichnete sie mit zahlreichen Pseudonymen, darunter „Prinz Jussuf von Theben“.

Lasker-Schüler verarbeitete in Die Wupper zahlreiche literarische Einflüsse. Sie führte die Tradition des Naturalismus mit seiner Hervorhebung des Lebens des „einfachen“ Volkes, seiner Umgangssprache und seiner Darstellung sozialer Gegensätze fort und überführte sie in ein avantgardistisches Stück, das heute als frühes Exemplar des Expressionismus gilt. Bezüge zu Gerhart Hauptmanns Die Weber liegen nahe.

Aus dem modernen Theater und dem Symbolismus übernahm Lasker-Schüler die metaphysischen und absurden Elemente, wie sie unter anderem für die Werke Maurice Maeterlincks typisch sind. Sie verehrte auch August Strindberg. Den größten Einfluss auf ihr Schaffen hatte wohl ihr Freund und Mentor Peter Hille, der einige Jahre vor dem Erscheinen von Die Wupper starb.

Wirkungsgeschichte

Das Stück wurde 1909 veröffentlicht, eine Aufführung kam jedoch erst zehn Jahre später zustande: Heinz Herald, Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin, besorgte die Inszenierung. Rudolf Kurtz und andere Kritiker prangerten die Art, mit der damals neue Stücke zugunsten alter Dramen übergangen wurden, an: „Else Lasker-Schüler hat ein Drama geschrieben – lächerlich: sie hat ein Drama aus sich herausgestoßen, das an elementarer Kraft, an leidenschaftlicher Wucht der Vorgänge, an tief aufwühlender Menschlichkeit sich stolz über diese Zeit erhebt.“ Die Reaktion der Kritik und des Publikums fiel aber zurückhaltend aus. Das Stück sei kein echtes Drama, meinten einige, während andere gerade in dieser Uneindeutigkeit die Stärke des Werkes sahen.

1958 wurde das Stück erstmals nach dem Krieg wieder aufgeführt. Die katholische Kirchenzeitung verurteilte es als „Sumpf der Amoralität“ und in einer anonymen Rezension hieß es, das Stück sei „so leer an künstlerischem Gehalt wie voll an Obszönitäten“. Während und nach den Aufführungen protestierten Zuschauer gegen die Inszenierung. In den folgenden Jahrzehnten wurde Die Wupper immer wieder auf die Bühne gebracht und hat sich inzwischen längst als moderner Klassiker etabliert.

Über die Autorin

Else Lasker-Schüler wird am 11. Februar 1869 in Elberfeld geboren, das heute zu Wuppertal gehört. Sie ist das jüngste von sechs Kindern. Mit vier Jahren lernt sie lesen und schreiben, mit elf bricht sie infolge einer Krankheit die Schule ab und wird fortan zu Hause unterrichtet. 1894 heiratet sie den Arzt Jonathan Berthold Lasker und zieht mit ihm nach Berlin, wo sie Malerei studiert und als Zeichnerin arbeitet. 1899 kommt ihr Sohn Paul zur Welt. 1901 wird ihr erster Gedichtband veröffentlicht: Styx. Zwei Jahre später lässt Lasker-Schüler sich scheiden, um kurz darauf den jüngeren Schriftsteller Herwarth Walden zu heiraten. Nach dem Tod ihres Freundes Peter Hille veröffentlicht sie 1906 ihr erstes Prosawerk: Das Peter-Hille-Buch. 1909 erscheint ihr Stück Die Wupper. 1912 wird auch die Ehe mit Walden geschieden. Lasker-Schüler verdient ihren Lebensunterhalt mit Vorträgen und wird von Freunden, unter anderem Karl Kraus, finanziell unterstützt. Sie beginnt eine Beziehung mit Gottfried Benn, dem sie viele Liebesgedichte widmet. Mit dem Maler Franz Marc entsteht eine enge Freundschaft, die beiden pflegen einen Briefwechsel und schicken sich gegenseitig handgemalte Karten. Der Tod ihres Sohnes Paul stürzt sie 1927 in eine Krise. In der Berliner Boheme hat sie entscheidenden Einfluss auf den aufkeimenden Expressionismus. 1932 wird sie mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Ein Jahr später greifen SA-Männer sie auf offener Straße an. Lasker-Schüler flieht in die Schweiz, wo sie jedoch ein Arbeitsverbot erhält. Sie reist mehrmals nach Palästina, zuletzt 1939, als der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Verweigerung eines Visums durch die Schweizer Behörden sie an der Rückreise hindern. In Jerusalem lebt Lasker-Schüler mehrere Jahre in Hotels, später zur Untermiete. Bis zu ihrem Tod setzt sie sich für einen friedlichen Austausch zwischen Juden und Arabern ein und organisiert Lesungen im Veranstaltungsring Kraal. Sie stirbt am 22. Januar 1945 in Jerusalem an den Folgen eines Herzinfarkts. Ihr Grab auf dem Ölberg wird bei der Teilung Jerusalems zerstört. 1975 wird der Grabstein wieder aufgestellt.

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