Theodor Fontane
Irrungen Wirrungen
Diogenes Verlag, 1998
Was ist drin?
Ein eindrückliches preußisches Gesellschaftsporträt: der Zwiespalt von Liebesideal und gesellschaftlicher Realität in den 1870er Jahren in Berlin.
- Roman
- Moderne
Worum es geht
Eine nicht standesgemäße Liebe
Irrungen Wirrungen erzählt die Geschichte einer nicht standesgemäßen Liebe. Einen Sommer lang haben der Baron Botho und die Büglerin Lene ein Liebesverhältnis, das sie schließlich wegen des unüberwindbaren Klassenunterschieds zugunsten von Vernunftehen aufgeben. Ihr persönliches Glück ist damit für immer verloren, die gesellschaftlichen Konventionen sind zu stark. Zu seiner Zeit sorgte der Roman mit seiner unverblümten Darstellung einer nicht standesgemäßen Beziehung für Zündstoff. Das Aufeinanderprallen von Liebesideal und gesellschaftlicher Realität war zwar auch vorher schon in der Literatur thematisiert worden, etwa in Schillers Kabale und Liebe. Doch anders als dort lehnen sich Fontanes Liebende nicht auf, sondern akzeptieren die äußeren Gegebenheiten widerstandslos. Heute fällt es schwer, dem Roman etwas Anstößiges abzugewinnen. Der Widerstreit zwischen individueller Selbstverwirklichung und den bestehenden Wertvorstellungen einer Gesellschaft ist aber nach wie vor ein Thema.
Take-aways
- Theodor Fontanes Roman Irrungen Wirrungen dreht sich um eine nicht standesgemäße Liebesbeziehung im Berlin der 1870er Jahre.
- Baron Botho von Rienäcker und die Büglerin Lene Nimptsch haben ein Liebesverhältnis über die Standesgrenzen hinweg.
- Einen Sommer lang genießen sie ihr Glück, das mit einem Ausflug zu einem Gasthaus seinen Höhepunkt erreicht.
- Kurz darauf zwingen finanzielle Sorgen Botho in die Vernunftehe mit der ihm versprochenen Käthe von Sellenthin.
- Auch Lene geht eine standesgemäße Verbindung ein: Sie heiratet den Fabrikmeister und Laienprediger Gideon Franke.
- Kampflos akzeptieren die Liebenden ihr Schicksal, obwohl sie dafür ihr persönliches Glück aufgeben müssen.
- Der 1888 publizierte Roman zählt zur literarischen Epoche des Realismus.
- Fontane übt Kritik am Sittenkodex der preußischen Ständegesellschaft und an deren oberflächlichem und unnatürlichem Lebensstil.
- Es wird vermutet, dass der Autor eigene Liebeserlebnisse in dem Roman verarbeitete.
- Der Vorabdruck des Buches in einer Zeitung löste wegen der Darstellung der klassenübergreifenden Liebe heftige Proteste in adligen und bürgerlichen Kreisen aus.
- Trotzdem – oder wahrscheinlich gerade wegen seiner brisanten Thematik – wurde der Roman bei der Leserschaft sehr erfolgreich.
- Irrungen Wirrungen zählt neben Effi Briest, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin zu Fontanes bedeutendsten Werken.
Zusammenfassung
Die Büglerin und der Baron
Schräg gegenüber dem Zoologischen Garten in Berlin steht in einer Gärtnerei ein Häuschen. Darin leben Frau Nimptsch und ihre Pflegetochter Lene, die als Büglerin das Geld für den gemeinsamen Haushalt verdient. Die beiden verbindet ein freundschaftliches Verhältnis mit dem benachbarten Gärtnerehepaar, Herrn und Frau Dörr. Seit Ostern ist Lene frisch verliebt: Bei einer Bootspartie mit ihrer Freundin Lina hat sie Baron Botho von Rienäcker kennen gelernt. Der Premiereleutnant der Kaiserkürassiere rettete ihren Kahn, über dessen Steuer sie die Kontrolle verloren hatten, vor dem Zusammenstoß mit einem Dampfschiff. Der mutige Helfer gefiel Lene sofort, und so ließ sie sich von ihm nach Hause begleiten. Seitdem besucht Botho sie regelmäßig. Während die alte Frau Nimptsch sich über die Treffen der beiden freut, verfolgt Frau Dörr die Vorgänge mit einigen Bedenken. Wegen des unüberwindbaren Standesunterschieds zwischen Lene und Botho räumt sie der Beziehung keine realistischen Zukunftschancen ein und ist besorgt um Lene und ihre Unbescholtenheit.
„Was da so rumfliegt, heute hier un morgen da, na, das kommt nich um, das fällt wie die Katz immer wieder auf die vier Beine, aber so’n gutes Kind, das alles ernsthaft nimmt und alles aus Liebe tut, das is schlimm ...“ (Frau Dörr, S. 9)
Bothos Besuche im Häuschen von Frau Nimptsch, wo meistens auch die Dörrs mit am Tisch sitzen, bescheren dem jungen Paar gemeinsame Stunden des Glücks. Der Baron hält nicht viel von den Extravaganzen der gehobenen Gesellschaft und schätzt die Einfachheit des Nimptsch’schen Haushalts sehr. Eines Abends, nachdem sich die gesellige Runde aufgelöst hat, unternehmen Botho und Lene einen Spaziergang im Garten. Lene ist begeistert von der wunderschönen Mondnacht. Doch Bothos Schilderungen seiner Kindheit überschatten die Idylle. Seine Erzählungen über seine Familie und das Wesen seiner Mutter lassen Lene verstehen, dass jene für Botho eine reiche Partie vorgesehen hat. Ihr wird klar, dass ihr Geliebter sie über kurz oder lang verlassen wird, da er zu schwach ist, um sich gegen seine Mutter und das Gerede der Leute zu wehren und den Standesunterschied zu überwinden. Umso mehr genießt Lene das Glück des Augenblicks.
Das Dilemma
Bothos Onkel, Baron Kurt Anton Osten, trifft in Berlin ein. Unmittelbar nach seiner Ankunft bestellt er seinen Neffen für den Nachmittag ins Gasthaus Hiller. Auf dem Weg dorthin trifft Botho Leutnant Wedell von den Gardedragonern, einen nahen Verwandten Baron Ostens. Da Botho vonseiten seines Onkels nichts Gutes ahnt, überredet er Wedell, ihn zu dem Treffen zu begleiten. Nachdem Osten, der einst im selben Regiment wie Wedell gedient hat, ausgiebig alte Erinnerungen aus seiner Kasernenzeit zum Besten gegeben hat, kommt er auf das von Botho befürchtete Thema zu sprechen. Mit Nachdruck fordert er seinen Neffen auf, sich seiner Mutter zuliebe endlich für die Heirat mit seiner Kusine Käthe von Sellenthin zu entscheiden. Schließlich sei das Mädchen schon lange für ihn bestimmt, und die schlechte finanzielle Situation seiner Familie lasse es nicht zu, das Ganze noch unnötig hinauszuzögern. Ohne Bothos Antwort abzuwarten, stößt Baron Osten mit Sekt auf die für ihn beschlossene Sache an. Wedell, der die Neuigkeiten sofort im Offiziersklub verbreitet, sorgt bei Bothos Kameraden Serge und Pitt für Gesprächsstoff. Sie prophezeien, dass Botho wegen seiner Schulden letztlich nichts anderes übrig bleiben werde, als sich von Lene loszureißen und sich mit der wohlhabenden Käthe zu verheiraten.
Glückliche Stunden
Am nächsten Abend unternehmen Lene und Botho gemeinsam mit Frau Dörr einen Spaziergang übers Feld. Der einsame Weg führt die drei bis zu einem zusammengekarrten Unkrauthaufen, den sie besteigen, um die Aussicht auf Wilmersdorf zu genießen. Als es dämmert, nehmen die Spaziergänger den Heimweg in Angriff. Unterwegs fordert Lene Botho auf, sie zu fangen. Nach einigen Versuchen erwischt dieser sie endlich hinter Frau Dörr und gibt ihr einen Kuss. Singend kehren die drei Ausflügler nach Hause zurück, wo der Abend bei Frau Nimptsch ausklingt. Wegen eines Grabkranzes, den Frau Dörr für einen Kunden fertigstellen muss, kommt Lenes Pflegemutter ins Sinnieren über das Sterben und den Tod. Botho verspricht ihr, eines Tages einen Kranz aus Immortellen (Trockenblumen) auf ihr Grab zu legen. Der abendliche Spaziergang in die Natur hat allen gefallen, sodass man sich beim Verabschieden zu einem weiteren Ausflug aufs Land verabredet.
„Glaube mir, dass ich dich habe, diese Stunde, das ist mein Glück. Was daraus wird, das kümmert mich nicht. Eines Tages bist du weggeflogen ...“ (Lene zu Botho, S. 39)
Einige Wochen lang ist das Ziel dieses Ausflugs das bevorzugte Gesprächsthema, bis Botho vorschlägt, gemeinsam „Hankels Ablage“ zu besuchen. Das abgelegene Gasthaus scheint für den geplanten Ausflug genau richtig zu sein. Ohne Frau Dörr Bescheid zu geben, reisen Botho und Lene an einem Freitag los, um die Nacht und den darauffolgenden Tag in „Hankels Ablage“ zu verbringen. Das an der Spree erbaute Landhaus gefällt Lene sofort. Begeistert überredet sie Botho zu einer Bootsfahrt. Eine am Ufer auftauchende Wiese veranlasst die beiden zum Anlegen und Blumenpflücken. Den Strauß soll Lene für Botho mit einem ihrer langen Haare zusammenbinden. Wegen des Sprichworts „Haar bindet“ widersetzt sich Lene zuerst Bothos Bitte, denn sie will ihn nicht an sich binden. Wieder zurück in „Hankels Ablage“ zieht sich Lene erschöpft zurück, während Botho noch bei einem Glas Wein verweilt. Als er später in die Giebelstube eintritt, trifft er auf die munter am Fenster stehende Lene. Ein Melissentee der besorgten Wirtin, die irrtümlicherweise glaubte, dass Lene schwanger sei, hat ihr schnell wieder auf die Beine geholfen. Glücklich schmiegt sich Lene an ihn.
Die Trennung
Am nächsten Morgen plant das glückliche Paar einen Ausflug ins Grüne. Ein Segelboot soll die beiden nach Nieder-Löhme bringen, von wo aus man zu Fuß bis nach Königs Wusterhausen gehen will, um dort Park und Schloss zu besichtigen. Doch die ungestörte Zweisamkeit findet abrupt ein Ende, als plötzlich Bothos Kameraden Pitt, Serge und Balafré mit drei Damen auftauchen, die sich als Königin Isabeau, Fräulein Johanna und Fräulein Margot vorstellen. Botho, der das Spiel seiner Freunde sofort durchschaut, lässt sich nicht beirren und verschafft Lene ebenfalls einen höheren sozialen Stand, indem er sie als Mademoiselle Agnes Sorel vorstellt. Die Posse findet bei einem Kartenspiel der Herren und einem Waldspaziergang der Frauen ihren Fortgang. Während des Ausflugs eröffnet die schwatzhafte Isabeau, die sich bei Lene eingehängt hat, sie halte nichts von der Liebe, sondern vertraue lieber auf Vergnügen und Vernunft. Als sie merkt, dass Lene wirklich in Botho verliebt ist, bekundet sie ihr ihr Mitleid.
„Dann durchlas er den Brief noch einmal. An zwei, drei Stellen konnt er sich nicht versagen, ein Strichelchen mit dem silbernen Crayon zu machen, aber nicht aus Schulmeisterei, sondern aus eitel Freude.“ (über Botho, S. 45)
Nach diesem kuriosen Vormittag ist die vorherige Heiterkeit bei Botho und Lene endgültig verschwunden. Auch als sie nach dem gemeinsamen Mittagessen wieder allein im Zug heimwärts sitzen, bleibt die Stimmung gedrückt. Lene fühlt, dass das Ende ihrer Liebe unweigerlich näher rückt. In der Tat erhält Botho bereits am nächsten Tag von seiner Mutter einen Brief, in dem sie ihm die missliche finanzielle Lage der Familie darlegt und ihn bittet, sich endlich für die Heirat mit Käthe zu entscheiden. Um die Zukunft der Rienäckers zu sichern und die Ordnung zu wahren, entscheidet Botho nach langem Ringen mit sich selbst, Lene zu verlassen und Käthe zu heiraten, obwohl ihm die künstliche und verlogene Welt der gehobenen Gesellschaft ein Gräuel ist. Seinen Entschluss teilt er Lene in einem Brief mit. Zum Abschied treffen sich die beiden ein letztes Mal. Wehmütig tauschen sie Erinnerungen aus und trösten sich damit, dass ihnen wenigstens diese niemand nehmen kann. Dass das Glück jemals wieder in ihr Leben zurückkehren wird, bezweifeln beide jedoch sehr. Ohne Gram und ohne Vorwürfe verabschiedet sich Lene von Botho mit einem letzten Kuss. Sie, die alles vorausgesehen hat, billigt seine Entscheidung.
Die ungeliebte Ehefrau
Bereits im Herbst heiratet Botho seine Kusine Käthe, und nach einer zweiwöchigen Hochzeitsreise ziehen die Frischvermählten in eine von Mutter Sellenthin luxuriös eingerichtete Wohnung, die nahe dem Nimptsch’schen Häuschen liegt. So geschieht es, dass Lene schon bald auf dem Heimweg aus der Stadt dem Arm in Arm gehenden Paar begegnet. Da sie Botho und Käthe geschickt ausweicht, wird sie von ihnen nicht bemerkt. Die Begegnung hinterlässt bei der jungen Büglerin einen so starken Eindruck, dass sie einen Schwächeanfall erleidet. Erst die von Frau Dörr und Frau Nimptsch verordnete Bettruhe bringt der verstörten Lene Erholung von ihrem Schrecken.
„Aber die Verhältnisse werden ihn zwingen, und er wird sich lösen und freimachen, schlimmstenfalls wie der Fuchs aus dem Eisen.“ (Pitt über Botho, S. 62)
Botho sieht schon bald bestätigt, was er bereits auf der Hochzeitsreise an Käthe bemerkt hat: Seine Gattin lebt nur für den Luxus, das Plaudern und das Reiten. Ihr Hang zum Oberflächlichen und Komischen versetzt ihn immer öfter in Missstimmung. Dass er kein einziges ernstes Wort mit Käthe wechseln kann, lässt ihn Lenes einfaches und natürliches Wesen schmerzhaft vermissen. Seine Kameraden, die ihn um die gute Partie beneiden, können nicht verstehen, wieso er nicht voll und ganz hinter seiner frohgemuten und entzückenden Gattin steht.
Eine neue Bekanntschaft
Lene ist unterdessen mit ihrer Pflegemutter ans Luisenufer umgezogen, um sich weitere schmerzvolle Begegnungen mit Botho zu ersparen. Dort schließt sie Freundschaft mit dem ordentlichen und gebildeten Nachbarn Gideon Franke. Der Fabrikmeister, der früher in Amerika als Laienprediger unterwegs war, besucht Lene und Frau Nimptsch jeden Abend. Der Büglerin ist der junge Mann sympathisch, und als dieser sie schließlich bittet, seine Frau zu werden, nimmt sie an. Sie erzählt ihm jedoch von ihrem früheren Verhältnis zu Botho. Dies bewegt Franke dazu, Baron von Rienäcker zu treffen, um mehr über diese vergangene Liebesbeziehung in Erfahrung zu bringen. Diskret besucht er ihn, als Käthe für einige Wochen in Schlangenbad zur Kur weilt. Ohne Schnörkel erzählt Botho, wie sich alles zugetragen hat. Besonderes Lob spricht er Lenes starkem Gefühl für Wahrheit, Pflicht und Ordnung aus, das unzweifelhaft zeige, dass sie das Herz auf dem rechten Fleck trage. Dieses klärende Gespräch nimmt Gideon jeden Zweifel und bekräftigt ihn in seinem Entschluss, Lene zu heiraten. Beim Abschied bittet Botho seinen Besucher, Frau Nimptsch und Frau Dörr seine Grüße zu bestellen. So erfährt er, dass Frau Nimptsch vor drei Wochen gestorben ist und nun auf dem Jakobikirchhof ruht.
Für immer gebunden
Um das gegebene Versprechen einzulösen, fährt Botho noch am gleichen Tag mit der Kutsche hinaus zum Jakobikirchhof. Dort findet er das von Lene ordentlich gepflegte Grab von Frau Nimptsch vor, wo er den versprochenen Immortellenkranz sowie einen Kranz Immergrün mit weißen Rosen niederlegt. Wieder zu Hause angekommen, wühlen alte Erinnerungen an den glücklichen Sommer mit Lene Bothos Gefühle auf. Schmerzerfüllt erkennt er, dass er für immer an Lene gebunden ist und nicht mehr von ihr loskommen wird. Er bereut nun, sie damals darum gebeten zu haben, den gepflückten Blumenstrauß mit einem ihrer Haare zusammenzubinden. In seiner Verzweiflung beschließt er, die bis jetzt aufbewahrten, getrockneten Blumen und Lenes Briefe im Kaminfeuer zu verbrennen, um so die alten Erinnerungen endgültig loszuwerden. Doch sein Unglück ist nicht zu bewältigen. Seinem Freund Rexin, der sich ebenfalls nicht standesgemäß verliebt hat und ihn um Rat fragt, ob er eine Beziehung mit dem Mädchen eingehen solle, erklärt Botho, dass es in diesem Fall nur zwei Wege gebe: entweder sich zu dem Mädchen zu bekennen, mit seinem eigenen Stand zu brechen und dadurch sich selbst ein Gräuel zu werden. Oder aber die Beziehung zu beenden, sich zu Familie und Gesellschaft zu bekennen und damit sein Glück für immer aufzugeben.
„Der Melissentee, den Ihre liebe Frau verordnete, hat wahre Wunder getan, und die Mondsichel, die uns gerade ins Fenster schien, und die Nachtigallen, die leise schlugen, so leise, dass man sie nur eben noch hören konnte, ja, wer wollte da nicht schlafen“
Nachdem Käthe aus ihrer Kur zurückgekehrt ist, nimmt Bothos Eheleben seinen gewohnten Gang. Käthe langweilt ihn mit stundenlangen Berichten und Geschwätz über belanglose Kleinigkeiten. Ihre Oberflächlichkeit und Koketterie veranlassen ihn sogar dazu, sie mit einer Puppe zu vergleichen. Als Käthe die Asche verbrannten Papiers im Kamin entdeckt, ahnt sie, dass es Liebesbriefe gewesen sind. Botho bestreitet nichts, worauf sie sich über sein Benehmen kurz amüsiert, um schließlich wieder zu ihrem Geplapper über die Badegäste zurückzukehren.
„,Jott, Kind, Sie verfärben sich ja; sie sind woll am Ende mit hier dabei‘ (und sie wies aufs Herz), ‚und tun alles aus Liebe? Ja, Kind, denn is es schlimm, denn gibt es ’nen Kladderadatsch.“ (Isabeau zu Lene, S. 106)
Drei Wochen später heiraten Lene und Gideon in der Jakobikirche. Einige Neugierige, die zur Kirche gekommen sind, bemerken den fehlenden Hochzeitskranz auf Lenes Kopf. Leise wird über die vergangene Liaison der Büglerin gemunkelt.
Am nächsten Tag sitzt das Ehepaar Rienäcker beim Frühstück, als Käthe in der Zeitung auf die Heiratsanzeige von Lene Nimptsch und Gideon Franke stößt. Die Namen belustigen sie. Der Baron entgegnet so ruhig wie möglich, dass Gideon doch besser sei als Botho.
Zum Text
Aufbau und Stil
Irrungen Wirrungen erzählt in 26 Kapiteln die unglückliche Liebesgeschichte zwischen Lene und Botho. Die Handlung des Buches teilt sich in zwei Abschnitte, die eng miteinander verknüpft sind und deren Knotenpunkt der Ausflug in „Hankels Ablage“ darstellt: Der erste Teil ist dem Liebesverhältnis von Lene und Botho gewidmet, während der zweite das Eheleben von Botho und Käthe ins Zentrum rückt. Fontane spiegelt die Ereignisse der ersten und zweiten Hälfte kunstvoll. So werden beispielsweise Kapitel sechs wie auch Kapitel 20 von der Brieflektüre Bothos bestimmt – einmal kommt der Brief von Lene, das andere Mal von Käthe.
Bereits im ersten Satz des Romans kommt zum Ausdruck, dass Fontanes Stil dem Realismus zuzuordnen ist. Mit geradezu topografischer Exaktheit beschreibt er den Schauplatz, die Dörr’sche Gärtnerei, und erreicht damit eine eindrückliche Illusion der Wirklichkeit. Seinen Figuren verleiht der Autor individuelle Sprechweisen. Während Frau Dörr sich in schrulligem Berliner Dialekt verständigt, bedient sich Lene einer schnörkellosen, wenn auch manchmal fehlerhaften Standardsprache. Botho hingegen wird durch eine mitunter gestelzte Ausdruckweise charakterisiert.
Interpretationsansätze
- Irrungen Wirrungen übt Kritik an der Ständegesellschaft. Die Büglerin und der Baron opfern ihre Liebe den gesellschaftlichen Vorurteilen und gehen standesgemäße Verbindungen ein, die von der Öffentlichkeit akzeptiert werden. Diese Vernunftehen machen aber ihr persönliches Glück unmöglich.
- Der Roman kritisiert ebenfalls die Oberflächlichkeit der gehobenen Gesellschaft. Fontanes sarkastisch gefärbte Beschreibungen des adligen Lebensstils zeigen die Dekadenz und den fortschreitenden Zerfall der preußischen Oberschicht auf. Zum Ideal werden demgegenüber Werte wie Einfachheit, Natürlichkeit und Wahrheit erhoben, im Buch verkörpert durch Lene.
- Trotz der Kritik an der Ständegesellschaft lässt Fontane Lene und Botho ihre Liebe kampflos aufgeben und scheint damit letztlich doch die bestehenden Gesellschaftsnormen zu bejahen. Diese Ambivalenz ist Ausdruck der eigenen inneren Zerrissenheit des Autors zwischen Konservatismus und Liberalismus.
- Fontane hat die Namen der Figuren sorgfältig ausgewählt. Während Bothos Name „Gebieter“ bedeutet, was auf seinen Stand verweist, bezieht sich der Name Lene auf Maria Magdalena, eine der wenigen eigenständigen Frauengestalten der Bibel.
- Die im Buch eingesetzte Natursymbolik nutzt Fontane geschickt dazu, die Befindlichkeiten der Personen zu verdeutlichen. Während der glücklichen Stunden des Liebespaares in „Hankels Ablage“ beispielsweise erscheint ihnen die Natur geradezu paradiesisch.
Historischer Hintergrund
Das Deutsche Kaiserreich
Nach dem Sieg der deutschen Länder über Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 nutzte der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck die Gunst der Stunde zur Gründung eines geeinten deutschen Nationalstaates mit dem preußischen König Wilhelm I. an der Spitze. Mit dessen Krönung zum Kaiser im Spiegelsaal von Versailles wurde der Grundstein zum neuen Deutschen Kaiserreich gelegt. Dem Bundesstaat mit konstitutioneller Monarchie stand Bismarck als Kanzler vor. 20 Jahre lang lenkte er die innen- und außenpolitischen Geschicke des Landes. Seine Regierungszeit lässt sich in eine relativ liberale Phase, geprägt von innenpolitischen Reformen, und eine eher konservative einteilen. In dieser Zeit wandelte sich Deutschland von einem landwirtschaftlich dominierten zu einem industriell ausgerichteten Staat und erlebte einen Wirtschaftsaufschwung.
Diese Entwicklung beeinflusste auch die Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft. Das Wirtschaftsbürgertum und die verschiedenen Arbeitnehmergruppen gewannen gegenüber dem Adel zunehmend an Einfluss. Industrielle, Bankiers und Großkaufleute waren auf dem Vormarsch. Neben dem alten Kleinbürgertum aus Handwerkern und Kleinhändlern entstand ein neuer Mittelstand aus Angestellten und Beamten. Trotzdem existierten die Klassenunterschiede im Deutschen Kaiserreich weiter, denn der Adel wahrte seine starken Positionen in Gesellschaft, Verwaltung und Militär und grenzte sich durch seine soziale Exklusivität und sein hohes Sozialprestige vom neuen Großbürgertum ab. Die unterste Gesellschaftsschicht, die der Arbeiter, wuchs stark an, besonders in Industrie und Bergbau. Körperliche Belastung und lange Arbeitszeiten mit 55 Wochenstunden gehörten für die Angehörigen dieser Schicht zur Normalität. Durch das gemeinschaftliche Leben in Arbeiterquartieren kam ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit auf, und es bildete sich eine von der bürgerlichen Welt abgesonderte Arbeiterkultur.
Das Leben im Kaiserreich wurde aber nicht nur vom fortbestehenden Klassendenken geprägt, auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land sowie die verschiedenen Konfessionen zogen Trennlinien durch die deutsche Gesellschaft. Mit der Novemberrevolution von 1918 und der Abdankung von Wilhelm II. wurde das Deutsche Kaiserreich unmittelbar vor dem Ende des Ersten Weltkriegs gestürzt und die Republik ausgerufen.
Entstehung
Fontanes Werken liegen meistens reale Vorgänge und Ereignisse zugrunde. Für Irrungen Wirrungen konnte die Literaturwissenschaft zwar bis heute keinen eindeutigen Realitätsbezug nachweisen. Seit jedoch bekannt ist, dass Fontane vor seiner Heirat mit Emilie Rouanet-Kummer mehrere Liebschaften hatte und mit einer der Frauen sogar zwei uneheliche Kinder zeugte, wird vermutet, dass der Autor in diesem Werk seine eigenen Erfahrungen mit illegitimen Liebesbeziehungen verarbeitet hat. In der Entstehungsphase des Romans, den 1880er Jahren, schrieb Fontane lange Zeit parallel an mehreren Werken gleichzeitig, die thematisch eng mit Irrungen Wirrungen verknüpft sind. Die konzentrierte Arbeit an diesem Text begann im Frühjahr 1884. Dazu gehörten auch intensive Lokalstudien, auf deren Grundlage Fontane detailreiche Skizzen und topografische Entwürfe der einzelnen Kapitel anfertigte. Ende Mai weilte der Autor für einige Tage in „Hankels Ablage“, dem Ausflugsziel von Bothos und Lenes gemeinsamer Landpartie, wo er den ersten großen Entwurf des Romans fertigstellte. Danach ruhte das Manuskript für fast zwei Jahre, bevor Fontane es Mitte 1886 überarbeitete und schließlich vollendete.
Wirkungsgeschichte
In den Sommermonaten 1887 veröffentlichte die Vossische Zeitung einen Vorabdruck von Irrungen Wirrungen in Form eines Fortsetzungsromans mit dem Untertitel „Eine Berliner Alltagsgeschichte“. Fontanes unverblümte Darstellung einer nicht standesgemäßen Liebe löste in breiten Kreisen heftige Kritik und Ablehnung aus. Adlige Gemüter erhitzten sich darüber, dass der Autor mit Lene Nimptsch eine Frau aus niederem Stande darstellte, die dem Adel nicht nur gleichgestellt, sondern ihm als wahr und natürlich fühlendes Wesen sogar moralisch überlegen war. Im Bürgertum wurden zugleich Stimmen laut, die die freie Liebe als Gefahr für die Ehe als sittliche Grundzelle der Gesellschaft erachteten. Trotz dieser zahlreichen negativen Reaktionen resignierte Fontane nicht, sondern bemühte sich um konstruktive Rezensenten, während er der konservativen Presse Rezensionsexemplare verweigerte. Fürsprache fand er bei naturalistischen Autoren, die vor allem die realistischen Milieuschilderungen und die atmosphärische Dichte des Werks lobten. Trotz aller Startschwierigkeiten trat das Werk, wahrscheinlich gerade wegen seiner brisanten Thematik, schließlich seinen Siegeszug bei den Lesern an. Bereits Mitte der 1920er Jahre erreichte Irrungen Wirrungen von allen Werken Fontanes die größte Auflagenstärke.
Über den Autor
Theodor Fontane wird am 30. Dezember 1819 in Neuruppin als Sohn einer hugenottischen Apothekerfamilie geboren. Mit 16 Jahren tritt er eine Apothekerlehre an. Er leidet darunter, dass er nur eine kümmerliche Schulbildung genossen hat. Als Apothekergehilfe arbeitet er in Leipzig, Dresden und Berlin, wo er sein Staatsexamen als Apotheker ablegt und Diakonissinnen unterrichtet. 1844 schließt er sich dem Berliner Dichterverein „Tunnel über der Spree“ an. Fontanes Balladen treffen den Geschmack seiner Zeit und in dem Verein findet er die literarische Anerkennung, die er braucht. 1849 gibt er seinen ungeliebten Beruf auf und heiratet ein Jahr später Emilie Rouanet-Kummer. Das Paar bekommt sieben Kinder, von denen drei noch im Säuglingsalter sterben. Als freier Schriftsteller und Journalist kann Fontane seine Familie kaum ernähren. Unterstützt vom Vater, geht er 1852 als Korrespondent der Preußischen Zeitung nach London. 1855–1858 folgt ein zweiter Aufenthalt, bei dem er für die preußische Regierung und für mehrere deutsche Zeitungen arbeitet. Nach seiner Rückkehr wird er Redakteur der Kreuzzeitung; aufgrund seiner selbstständigen Arbeit können in dieser Zeit die Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862–1888) entstehen. Als Kriegsberichterstatter nimmt er an den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 teil, später schreibt er Theaterkritiken für die Vossische Zeitung. Seiner Frau zuliebe versucht er 1876 ein letztes Mal, eine feste Stelle anzutreten. Er wird Sekretär der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin, kündigt jedoch bald wieder. Fontane ist ein schreibwütiger Autor, dessen Korrespondenz rund 10 000 Briefe umfasst. Bekannt wird er durch Balladen wie Die Brück’ am Tay (1880), John Maynard (1886) oder Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland (1889). Fontanes berühmte Romane entstehen erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt: Vor dem Sturm (1887), Irrungen, Wirrungen (1888), Frau Jenny Treibel (1893), Effi Briest (1894/95) und Der Stechlin (1897). Er stirbt am 20. September 1898 in Berlin.
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