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Das Mädchen mit den Goldaugen

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Das MĂ€dchen mit den Goldaugen

Diogenes Verlag,

15 min read
12 take-aways
Text available

What's inside?

Ein kleiner Ausschnitt aus Balzacs Großwerk „Die menschliche Komödie“: Sex and Crime im Paris des 19. Jahrhunderts.

Literatur­klassiker

  • Kurzprosa
  • Realismus

Worum es geht

Der Kern der Menschlichen Komödie

Das MĂ€dchen mit den Goldaugen ist die dĂŒstere ErzĂ€hlung eines erotischen Abenteuers, das fĂŒr die Titelheldin mit einem grausamen Tod endet. Balzac demonstriert an seiner Hauptfigur, dem adligen Dandy Henri de Marsay, wie korrumpiert eine Gesellschaftsschicht ist, wenn sie beginnt, aus purem Überdruss gefĂ€hrliche VergnĂŒgungen zu suchen. Trotz vieler treffender und kurzweiliger Schilderungen: Die Geschichte selbst ist es nicht, was den Text berĂŒhmt gemacht hat - ihr Ende ist ein bisschen verworren, und der bemĂŒhte Anstrich von Geheimnis und Verbrechen in leicht orientalischem Flair zeigt Balzac nicht gerade in seinem Element. Bekannt geworden ist dieser Text fĂŒr das der Handlung vorangestellte Gesellschaftspanorama aus der Hölle Paris: Auf 25 Seiten entwirft Balzac einen gesellschaftlichen Kosmos, den Keim seines umfassenden Gesamtwerks Die menschliche Komödie. Pointiert und bissig beschreibt er alle sozialen Schichten seiner Zeit, der ersten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts. Keine kommt dabei gut weg, die Vertreter aller Schichten sind letztlich getrieben von ihrer Geldgier und VergnĂŒgungssucht. Obwohl die Gesellschaft heute anders aussieht, ist vieles doch ĂŒbertragbar. Und gerade in der eindrĂŒcklichen Beschreibung ewigen Gehetztseins, der hamsterartigen Betriebsamkeit als zerstörerische Kraft, dĂŒrften viele auch heute noch Elemente des eigenen Lebens wiedererkennen.

Take-aways

  • Das MĂ€dchen mit den Goldaugen ist die ErzĂ€hlung eines erotischen Abenteuers mit orientalischem Anstrich und grausamem Ende.
  • Balzac fĂŒhrt die degenerierte GefĂŒhllosigkeit junger Reicher vor, die aus verletztem Stolz zu töten bereit sind.
  • Die Hauptfigur Henri de Marsay, Prototyp des Dandys, kehrt in vielen anderen Werken Balzacs wieder.
  • De Marsay verliebt sich in die schöne Paquita, das MĂ€dchen mit den Goldaugen.
  • Er sieht in ihrer Eroberung eine willkommene Herausforderung, denn sie wird aus unbekannten GrĂŒnden streng bewacht.
  • Paquita stirbt grausam, als sie zwischen die zerstörerischen Eitelkeiten zweier Vertreter der Aristokratie gerĂ€t, die sich am Ende als Halbgeschwister herausstellen.
  • Der ErzĂ€hlung vorangestellt ist ein Sittenbild von Paris, in dem Balzac dĂŒster und bissig die verschiedenen Gesellschaftsschichten beschreibt.
  • Paris erscheint als Hölle, die Schilderung der gesellschaftlichen StĂ€nde lehnt sich an die Höllenkreise von Dantes Göttlicher Komödie an.
  • Balzac ist der Schöpfer des monumentalen, aus 91 Romanen bestehenden Zyklus Die menschliche Komödie.
  • Die pointierte Bestandsaufnahme von Paris und seinen Bewohnern in Das MĂ€dchen mit den Goldaugen ist quasi der Keim des Gesamtwerks.
  • In diesem Text ist auch Balzacs literarische Methode, der Realismus, angelegt, dessen Urvater er ist.
  • Die ErzĂ€hlung war ursprĂŒnglich der letzte Teil einer Trilogie mit dem Titel Die Geschichte der Dreizehn.

Zusammenfassung

Die Hölle Paris

Die Menschen in Paris sind hĂ€sslich, ihre Gesichter Fratzen, verzerrt von der Gier nach Gold und VergnĂŒgen. Paris ist ein Ort der Sinnenfreuden, aber seine Bewohner gleichen Toten. Die Stadt ist eine Hölle, die LebensĂ€ußerungen der Menschen wirken wie Formen des Feuers. In Paris glĂŒht das Leben und es verwandelt sich stetig. Der Pariser ist abgestumpft und gleichgĂŒltig, er folgt nur seinen Launen und kennt keine konstanten GefĂŒhle. Auf den Pariser ist niemals Verlass, seine Interessen und Leidenschaften sind am nĂ€chsten Tag genauso vergessen wie seine Wut. Nur das Geld zĂ€hlt fĂŒr ihn. Wie die Natur, so hat auch die Gesellschaft in Paris ihre verschiedenen Arten:

Die Proletarier

Die besitzlosen Arbeiter beuten sich und ihre Frauen und Kinder in der tĂ€glichen Arbeit ihrer HĂ€nde aus. Sie werden von den Produktionsmaschinen beherrscht. Sie ruinieren ihre Gesundheit und ĂŒberarbeiten sich, um das Geld zu verdienen, das sie immer wieder lockt. Sie sorgen nicht fĂŒr die Zukunft vor, sondern geben ihr ganzes Geld an den Wochenenden in den Schenken aus. Der unmĂ€ĂŸige Rausch am Samstag und Sonntag bildet ihnen den Ausgleich fĂŒr die fĂŒnftĂ€gige Schinderei – weshalb danach das Geld fĂŒr den Alltag der Familie fehlt. RegelmĂ€ĂŸig sind die Proletarier noch dienstags nicht ganz bei Sinnen. Die Regierung kann dafĂŒr dankbar sein, denn wenn die Arbeiter den Alkohol nicht hĂ€tten, wĂŒrden sie sicher gegen die Bedingungen revoltieren. Der physische Zustand und die LebensumstĂ€nde der unteren Schichten sind miserabel: Die Armen versinken im Schmutz. Sie gehen buchstĂ€blich im Schlamm, sie atmen die verpestete Luft der Straßen und der Kloakegruben und mĂŒssen unsauberes Wasser trinken. Schuld sind VersĂ€umnisse der Pariser Verwaltung, der es am Willen fehlt, etwa die Grundmauern zu zementieren, was verhindern wĂŒrde, dass AbwĂ€sser versickern und das Trinkwasser vergiften.

Die KleinbĂŒrger

Ein disziplinierter Arbeiter kann in AusnahmefĂ€llen zum KleinbĂŒrger aufsteigen und z. B. einen Kramladen pachten, der so gut gedeiht, dass der PĂ€chter nicht mehr tĂ€glich darin anwesend sein muss. Der Tagesablauf einer solchen KrĂ€merseele sieht dann so aus: Um fĂŒnf Uhr frĂŒh steht der Mann auf und trĂ€gt ehrenamtlich eine politische Tageszeitung aus. Um neun Uhr kommt er kurz nach Hause, kĂŒsst seine Frau und tadelt die Kinder. Von zehn bis vier sitzt er im Rathaus und trĂ€gt Geburts- und SterbefĂ€lle ins Register ein. Dann sieht er in seinem Kramladen nach dem Rechten und schĂ€kert mit der Kassiererin. In der Zeit vor dem Abendessen tut er Dienst bei einem Notar. Jeden zweiten Abend singt er ab sechs Uhr als erster Bass im Opernchor. Gegen Mitternacht geht er zu Bett. Er fĂŒhrt eine glĂŒckliche Ehe und ist seiner Frau treu. Seine Ansichten entsprechen der Mehrheitsmeinung. Er schlĂ€ft wenig und beeilt sich immer. Seine Kinder erzieht er fĂŒr den weiteren Aufstieg ins GroßbĂŒrgertum. Die KleinbĂŒrger ĂŒbernehmen sich, genau wie die Arbeiter, sie hetzen sich aus gesellschaftlichem Ehrgeiz und aus Geldgier zu Tode.

Die GroßbĂŒrger

Gemeint sind Ärzte, AnwĂ€lte, Richter, Großkaufleute und Bankiers. Auch in diesen Kreisen richtet man sich physisch und psychisch zugrunde. Die GroßbĂŒrger sind von Zeitknappheit getrieben, sie sterben schließlich an ihrem ewigen Hetzen. Ihre Berufe bestehen in der BeschĂ€ftigung mit dem Elend des Volkes, sie beziffern und analysieren es und leben davon, das Volk auszunehmen. Sie reden unablĂ€ssig, ohne vorher zu denken; GefĂŒhle machen hohlen Phrasen Platz. Sie haben kein Privatleben, ihre GeschĂ€fte hören auch abends nicht auf: Selbst in der Oper oder auf BĂ€llen mĂŒssen sie Kunden anwerben und Geldgebern schmeicheln. Diese aufreibenden Anstrengungen gleichen sie nicht durch Erholung aus, sondern durch ungesunde Ausschweifungen – die in aller Heimlichkeit stattfinden mĂŒssen, denn die GroßbĂŒrger sind schließlich die ReprĂ€sentanten der öffentlichen Moral. Insgeheim betreiben sie Völlerei und frönen der Spielsucht. Von dem, was außerhalb des begrenzten Horizonts ihres Fachgebiets liegt, wissen sie nichts, sie pflegen nur ihre Vorurteile. Dadurch kommen ihre geistigen FĂ€higkeiten zum Erliegen. Sie lassen sich von der Maschinerie ihrer geschĂ€ftlichen Routine verschleißen. Auch den GroßbĂŒrgern geht es um den gesellschaftlichen Aufstieg. Sie horten Geld, damit sie oder ihre Kinder in die Kreise der Adligen vordringen können.

Die KĂŒnstler

Auch die KĂŒnstler reiben sich auf, getrieben von ihrem inneren Zwang, Werke zu erschaffen. Aber sie gieren gleichzeitig nach teuren Ablenkungen, fĂŒr die sie eigentlich kein Geld haben. Durch angestrengte SchaffensschĂŒbe versuchen sie, die sie sonst beherrschende Faulheit wettzumachen. Vergeblich mĂŒhen sich die KĂŒnstler ab, Kunst und Geld zu vereinbaren. Am Anfang ihrer Karriere machen sie stets Schulden. Neid auf erfolgreichere Konkurrenten schadet ihrem Talent. Die einen versinken in ihren Lastern, die anderen sterben frĂŒh als verkannte Genies.

Die Aristokraten

Sie werden beneidet, weil sie in Schlössern leben und Geld im Überfluss besitzen. Aber auch diese Schicht degeneriert nur allzu rasch. Indem die Adligen immer nur das VergnĂŒgen suchen, langweilen sie sich bald zu Tode. Weil sie nur auf GenĂŒsse aus sind, stumpfen ihre Sinne ab. Mit der Zeit brauchen die Adligen immer mehr der gleichen Sache, um den gewĂŒnschten Effekt zu erzielen. Das Ende dieser Spirale ist, dass sie verrĂŒckt werden oder sterben. Ihre Drogen sind Spielsucht, Völlerei und Hurerei. Sie empfinden keine echte Leidenschaft mehr, sondern nur noch oberflĂ€chliche GelĂŒste und romantische Anwandlungen. Auch die Aristokraten denken nicht selbst und hĂ€ngen ihr FĂ€hnchen nach der Meinung der Mehrheit in den Wind. Auch sie sind geizig mit ihrer Zeit – um sie dann doch zu verschwenden. Alles an ihnen ist oberflĂ€chlich, ihr Leben ist hohl und langweilig. Ihre Gesichter sind vom Stumpfsinn gezeichnet.

„Eines der erschrecklichsten Schauspiele ist ohne Zweifel der Gesamtanblick der Bevölkerung von Paris.“ (S. 5)

Der Moloch Paris vereint alle diese Gesellschaftsschichten in ihrer Gier, alle zusammen sorgen fĂŒr die hĂ€ssliche Fratze von Paris. Das Gegenbild zum hektischen Paris ist der Orient – wegen der Ruhe der orientalischen Lebensweise.

Kindheit und Jugend des Dandys Henri de Marsay

Henri de Marsay ist der Sohn des Lord Dudley und der schönen Marquise de Vordac. Deren Liebe ĂŒberlebt den Krieg zwischen Frankreich und England nicht – beide Eheleute sind nicht sonderlich treu. Lord Dudley verheiratet die junge Mutter nach Henris Geburt mit dem alten, verarmten Herrn de Marsay, der den Jungen gegen eine Leibrente adoptiert. De Marsay stirbt bald, und Henris Mutter heiratet wieder. Weder sie noch der leibliche Vater kĂŒmmern sich um das Kind – ihr glamouröses gesellschaftliches Leben ist ihnen wichtiger –, Henri kommt in die Obhut von de Marsays Schwester, FrĂ€ulein de Marsay. Sie engagiert einen verarmten Abt als Hauslehrer. Dieser Gottesmann ist abgeklĂ€rt und ohne Glauben. Seine Erziehung prĂ€gt den jungen Henri. Der Abt lĂ€sst den Jungen alle Bereiche der Gesellschaft studieren, zeigt ihm das Geschehen hinter den Kulissen und macht ihn mit Prostituierten bekannt. Er schult Henris Verstand, desillusioniert den Jungen aber auch frĂŒh und umfassend.

„Nein, es sind nicht Gesichter, es sind hĂ€ssliche Fratzen, es sind Masken der SchwĂ€che, Masken der StĂ€rke, Masken des Elends, Masken der Freude, Masken der Heuchelei - abgezehrte, mit dem unauslöschlichen Mal einer keuchenden Gier gebrandmarkte Masken. Was wollen sie? Gold oder VergnĂŒgen.“ (S. 5)

1815 ist Henri de Marsay 22 Jahre alt. Er ist der schönste Mann von ganz Paris, das sagen selbst seine grĂ¶ĂŸten Konkurrenten, und alle Frauen, die ihn sehen, verfallen ihm sofort. Dessen ist er sich nur allzu bewusst. Er ist musisch und sportlich begabt. Dank der Erziehung des Abts traut er niemandem und glaubt an nichts. Er gehört der Pariser Aristokratenjugend an, die berechnend und verdorben ist.

Ein Fisch zappelt im Netz

Henri schlendert durch die Tuilerien, die prĂ€chtige Pariser Gartenanlage, und zieht die Blicke der Damen auf sich. Er trifft seinen Freund Paul de Manerville und erzĂ€hlt ihm, er sei auf ein Abenteuer aus. Er will eine Unbekannte wiedersehen, mit der er bereits Blicke getauscht hat. Ihre Augen sind goldgelb wie Tigeraugen. Paul erwidert, das MĂ€dchen sei bekannt, es komme öfter zum Spazieren in die Tuilerien. Man nenne es „das MĂ€dchen mit den Goldaugen“, sie sei das Objekt der Begierde fĂŒr die elegante Pariser Jugend.

„WĂŒrde die Regierung nicht jeden Dienstag gestĂŒrzt werden, wenn es keine Schenken gĂ€be? Zum GlĂŒck fĂŒr Frankreich ist das Volk am Dienstag wie betĂ€ubt.“ ( S. 10)

Kurz darauf erscheint das MĂ€dchen tatsĂ€chlich, scharf bewacht von einer Anstandsdame. Im Vorbeigehen drĂŒckt die Schöne Henri die Hand. Dieser lĂ€sst das MĂ€dchen und ihre VerhĂ€ltnisse von seinem Diener Laurent auskundschaften. Das Haus, in dem sie wohnt, gehört dem alten Marchese de San-RĂ©al. Die Schöne mit den Goldaugen ist jedoch nicht die Marchesa; diese weilt in London und schickt gelegentlich Briefe an das MĂ€dchen. Der Name der GoldĂ€ugigen lautet Paquita ValdĂšs, wie Laurent mithilfe des BrieftrĂ€gers in Erfahrung bringt. Paquita wird so streng bewacht, dass sie einer uneinnehmbaren Festung gleicht. Doch gerade das macht sie fĂŒr Henri so begehrenswert. Er sehnt sich nach Widerstand, nach einer echten Herausforderung. Seine sonstigen Eroberungen fallen ihm so leicht, dass er sich langweilt.

„Auch hier gilt es, die Zeit zu erjagen, sie zusammenzudrĂ€ngen, in Tag und Nacht mehr als vierundzwanzig Stunden zu finden, sich zu zermĂŒrben und zu entnerven, zwei Jahre siecher Altersruhe mit einem ganzen Leben zu erkaufen.“ (ĂŒber die KleinbĂŒrger, S. 15)

Henri schreibt unter falschem Namen einen Liebesbrief an Paquita. Dieser zeigt Wirkung: Ein Mulatte und ein Dolmetscher suchen Henri auf. Sie geben ihm Anweisungen, wie er Paquita treffen kann. Er soll zum festgesetzten Termin in einen bestimmten Wagen steigen und dem Kutscher das Losungswort „cortejo“ zurufen – spanisch fĂŒr „Liebhaber“.

Drei Rendezvous

So geschieht es. Henri wird in eine heruntergekommene Wohnung gebracht. Dort sitzt Paquita mit einem hĂ€sslichen alten Weib. Die Alte sei ihre Mutter, sagt Paquita auf Englisch, eine Sklavin aus Georgien. Paquita und Henri fremdeln ein wenig, jetzt da sie sich gegenĂŒbersitzen, doch unverkennbar sind beide fĂŒreinander entbrannt. Paquita sagt, ihnen blieben nur zwölf Tage. Sie befinde sich in höchster Gefahr. Sie bittet Henri, in zwei Tagen wieder an denselben Ort zu kommen. Zum Abschied kĂŒssen sie sich leidenschaftlich. Henri ist verliebt wie nie zuvor.

„Indem sie sich immer nur im Kreise ihres Fachwissens drehen, ertöten sie die schöpferischen FĂ€higkeiten ihres Hirns: Weitblick und logischen Scharfsinn.“ (ĂŒber die GroßbĂŒrger, S. 21)

Als er zum zweiten Rendezvous abgeholt wird, sagt der Mulatte, Henri mĂŒsse sich die Augen verbinden lassen. Aus Stolz lehnt er zuerst ab, lenkt dann aber ein. Mit verbundenen Augen wird er in ein Zimmer gebracht. Paquita selbst löst die Seidenbinde: Der Raum scheint einem MĂ€rchen aus Tausendundeiner Nacht entsprungen, er ist ein orientalisches Liebesnest. Paquita lĂ€sst Henri Frauenkleider anziehen. Dann erleben beide unsagbare sexuelle Wonnen miteinander. Henris GefĂŒhle nach diesem Erlebnis sind widersprĂŒchlich, mit wirklicher, dauerhafter Liebe haben sie nichts zu tun. Im RĂŒckblick auf die Liebesnacht meint er plötzlich zu erkennen, dass Paquitas Leidenschaft jemand anderem gegolten habe als ihm. Dieser Verdacht beleidigt ihn zutiefst.

„Nur zu bald erschlafft die Natur all dieser Menschen und wird zur Unnatur. Da sie das VergnĂŒgen suchen, mĂŒssen sie nicht Langeweile finden?“ (ĂŒber die Adligen, S. 25)

Am folgenden Abend lĂ€sst er sich zum dritten Stelldichein abholen. Paquita ist blass und verweint. Sie ist sich sicher, bald sterben zu mĂŒssen, und erzĂ€hlt, dass sie nicht lesen und schreiben kann und seit ihrem zwölften Lebensjahr eingesperrt wird – von wem, ist nicht klar. Ihre SpaziergĂ€nge habe sie unter großer Gefahr erzwungen, um zu sehen, was junge MĂ€nner sind. Sie bekennt, Henri so zu lieben, dass sie fĂŒr ihn sterben wĂŒrde. Wieder erleben die beiden eine ungeahnte Leidenschaft, wieder wird Henri empfĂ€nglich fĂŒr die starken GefĂŒhle. Er schwört sich gerade, Paquita zu heiraten, als diese in ihrem EntzĂŒcken das Kosewort „Mariquita“ (MarienkĂ€fer) ausruft. Henri glaubt, nun den Beweis fĂŒr ihre gedankliche Untreue zu haben. Er will sie sofort töten. Es kommt zu einem Kampf, den erst der Mulatte beendet. Das MĂ€dchen ist sich keiner Schuld bewusst und fleht um eine ErklĂ€rung. Henri gibt sie ihr nicht, fĂŒr ihn ist die Sache klar.

Ein grausamer Tod

Henris große SchwĂ€che ist, dass er nicht verzeihen kann. Jeder, der ihn ernstlich beleidigt, muss sterben, das ist sein Gesetz. Eine Woche nach dem letzten Treffen mit Paquita kommt er in Begleitung von vier MĂ€nnern zu ihrem Haus, um sie zu töten. Sie haben einen Plan des Hauses erstellt und sehen, dass aus dem Zimmer der Marchesa Licht dringt – sie ist aus London zurĂŒck. Schmerzensschreie dringen aus dem Haus. Henri gelangt ĂŒber eine verborgene Treppe hinein und erblickt eine grausame Szene: Die Marchesa hat Paquita aus Rache fĂŒr ihre Untreue grausam mit dem Dolch zerfleischt. Das MĂ€dchen war also nicht die Geliebte des alten Marchese, sondern die seiner Frau. In dem Moment, als Henri das Zimmer betritt, stirbt Paquita. Die blutbeschmierte Marchesa sieht Henri an. Beide erkennen schlagartig, dass sie denselben Vater haben. Henri bemerkt, dass Paquita also dem Blut treu geblieben sei. Die Marchesa bereut daraufhin ihre Tat und wirft sich verzweifelt ĂŒber den Leichnam des MĂ€dchens.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die etwa 130 Seiten umfassende ErzĂ€hlung ist nicht in einzelne Kapitel gegliedert, es sind aber deutlich zwei Teile zu unterscheiden: Die ersten 25 Seiten bieten ein Gesellschaftspanorama von Paris, das in sich nach den verschiedenen Schichten gegliedert ist. Der Rest ist die Geschichte um die fatale Leidenschaft des Henri de Marsay fĂŒr das MĂ€dchen mit den Goldaugen. Die beiden Textabschnitte sind nicht explizit aufeinander bezogen.

Typisch fĂŒr Balzac ist die Verwendung einer allwissenden, stark kommentierenden ErzĂ€hlerfigur. Ihr Ton ist spöttisch, oft auch bissig und entlarvend. Das macht die LektĂŒre amĂŒsant und anregend. Selbst die eher abstrakte Gesellschaftsbetrachtung ist ĂŒberhaupt nicht trocken geschrieben. Charakteristisch fĂŒr den pointierten Stil sind Übertreibungen, etwa wenn von den „hĂ€sslichen Fratzen“ einer „exhumierten Menschenmenge“ die Rede ist. Balzac benutzt ein bewusst abschĂ€tziges Vokabular, um eine Welt zu beschreiben, die moralisch korrumpiert ist, vergiftet von Gier. Mit dem Stilmittel der Antithese, die gegensĂ€tzliche Begriffe zueinander in Beziehung setzt, spitzt der Autor die Dinge zu und zeigt die WidersprĂŒche und AbsurditĂ€ten der Gesellschaft auf, etwa in der Wendung „diese unglĂŒcklichen GlĂŒckspilze“ oder in dem Bonmot „Man geizt mit der Zeit, um sie zu vergeuden“.

InterpretationsansÀtze

‱ Balzac vergleicht die Gesellschaft mit der Natur. Das kommt in zahlreichen Naturmetaphern zum Ausdruck. Der Blick des Autors gleicht dem eines Botanikers oder Insektenforschers: Wie die Natur, so hat auch die Gesellschaft ihre Insekten und Blumen, ihr Ungeziefer und Unkraut. Genauso unterschiedlich wie die Erscheinungsformen der Natur sind die gesellschaftlichen Spezies, und genauso wandelbar sind sie auch. Alles ist in steter VerĂ€nderung, in der Natur wie in der Gesellschaft. Balzac macht sich zum literarischen Ethnologen. ‱ Er stellt Paris als Hölle dar. Feuer- und Todesmetaphern durchziehen den ersten Teil der ErzĂ€hlung, da „raucht es und glĂŒht und brodelt und zischt und lodert und flammt und dampft und erlischt“. Dadurch tritt der Bezug zu den Höllenkreisen in Dantes Göttlicher Komödie besonders deutlich hervor: Balzacs Menschliche Komödie (das Gesamtwerk, von dem die vorliegende ErzĂ€hlung nur ein kleiner Teil ist) ist ein Gegenentwurf zu Dantes Darstellung. Der erste Teil des MĂ€dchens mit den Goldaugen bildet den Kern dieses Zyklus. ‱ Ein weiteres Hauptmotiv ist das Gold. Es ist der Antrieb fĂŒr die hektische Betriebsamkeit aller Schichten, alle jagen ihm nach – und golden sind auch die Augen des MĂ€dchens Paquita, die es so begehrenswert machen. Die leidenschaftliche, impulsive und ungebildete Paquita ist ein Symbol fĂŒr die Natur; sie wird in den Triebwerken der zivilisatorischen Gier nach Gold buchstĂ€blich zermalmt. ‱ Die ErzĂ€hlung ist grundiert von einer Sehnsucht nach Asien. Paquitas Schönheit wird als orientalisch beschrieben, und der Pariser Hetze wird die asiatische Ruhe gegenĂŒbergestellt. Paquitas Zimmer, das Liebesnest fĂŒr sie und Henri, erinnert an die Interieurs aus Tausendundeiner Nacht. Asien steht fĂŒr Ruhe, Schönheit und Sinnlichkeit. Der exotisch-erotische Anstrich der ErzĂ€hlung zeigt, dass Balzac nicht immer den strengen Realismus pflegt, fĂŒr den er bekannt ist.

Historischer Hintergrund

Bewegte Zeiten

In Balzacs Lebenszeit, der ersten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts, wechselten sich fĂŒnf politische Regime ab: Auf die Zeit der Französischen Revolution (1789–1799) folgten die Herrschaft Napoleons (1799–1815), die Restauration (1815–1830) unter Ludwig XVIII. und Karl X., die Julimonarchie (1830–1848) mit dem BĂŒrgerkönig Louis-Philippe und die Zweite Republik (1848–1852). Entsprechend widerstreitend waren die Ideologien, die in diesen 50 Jahren parallel existierten: Es gab sowohl Monarchisten, die dem Ancien RĂ©gime nachhingen, als auch KĂ€mpfer fĂŒr die Demokratie. Immer wichtiger wurde der Einfluss reicher GroßbĂŒrger. Sie mussten die Macht aber weiterhin mit den alten AutoritĂ€ten teilen, den Adligen und dem Klerus.

Wirtschaftlich war das 19. Jahrhundert von den UmwĂ€lzungen der Industriellen Revolution geprĂ€gt. In ganz Europa löste die moderne Industrie die Landwirtschaft als Hauptwirtschaftszweig ab. Neue Techniken machten die industrielle Massenproduktion möglich, die großen Fabriken entstanden. Die Arbeit verlagerte sich in die StĂ€dte, die stark anwuchsen. Es entstand eine ganz neue soziale Schicht: die Arbeitermassen, die stĂ€dtischen Proletarier. Ihnen standen die GroßbĂŒrger gegenĂŒber, die Besitzer der Fabriken und des Kapitals: Großindustrielle und Bankiers dominierten das System. Paris hatte im Jahr 1834 knapp eine Million Einwohner. Die hygienischen VerhĂ€ltnisse, in denen die unteren Gesellschaftsschichten leben mussten, waren miserabel. Die Proletarier vegetierten im Schmutz vor sich hin, es gab noch keine Kanalisation und die Straßen waren noch nicht befestigt. 1832 starben in Paris 20 000 Menschen wĂ€hrend einer Cholera-Epidemie.

Entstehung

Balzac war politisch durchaus interessiert und rĂŒckte als pseudoadliger Bourgeois zunehmend nach rechts, auf die Seite der Adligen und der BefĂŒrworter der alten Monarchie. Das hielt ihn aber nicht davon ab, auch die Aristokratie einer beißenden Analyse zu unterziehen, wie Das MĂ€dchen mit den Goldaugen zeigt. Balzac, der stets mit extrem hohem Tempo neue Texte produzierte, schrieb die ErzĂ€hlung in zwei Tagen – die allerdings ein Jahr auseinanderlagen. Der erste Teil, das Pariser Gesellschaftspanorama, entstand am 15. MĂ€rz 1834, der zweite Teil, die Geschichte des fatalen erotischen Abenteuers, am 6. April 1835. Die ErzĂ€hlung ist dem Maler EugĂšne Delacroix gewidmet, von ihm ist wohl die farbenprĂ€chtige Schilderung von Paquitas orientalisch dekoriertem Zimmer inspiriert. Literarisch beeinflusst war Balzac sicherlich durch die MĂ€rchen aus Tausendundeiner Nacht, durch die dort herrschende orientalische AtmosphĂ€re, die Erotik und BrutalitĂ€t. Ein anderer Text wird sogar wörtlich erwĂ€hnt: die GefĂ€hrlichen Liebschaften (1782) von Choderlos de Laclos. In diesem Briefroman geht es ebenfalls um skrupellose VerfĂŒhrer in aristokratischen Kreisen. Das MĂ€dchen mit den Goldaugen war ursprĂŒnglich der dritte Teil einer Trilogie mit dem Titel Die Geschichte der Dreizehn. Die „Dreizehn“ sind eine geheime Vereinigung mit dĂŒsterer Macht. Dieses BĂŒndnis spielt in den ersten beiden Teilen der Trilogie – Ferragus und Die Herzogin von Langeais – eine grĂ¶ĂŸere Rolle, im letzten Teil aber eigentlich gar keine mehr. Nur die vier MĂ€nner, die Henri de Marsay zu Paquitas Haus begleiten, als er sie töten will, stammen aus diesem Kreis. In der heutigen Gestalt wurde der Text erstmals 1843 veröffentlicht; innerhalb der Menschlichen Komödie gehört er in die Textgruppe Studien der Sitten im 19. Jahrhundert und darin unter die Rubrik Szenen aus dem Pariser Leben. Zuvor waren beide Teile der ErzĂ€hlung bereits getrennt erschienen.

Wirkungsgeschichte

Zeitgenossen fanden den Text schockierend, anstĂ¶ĂŸig, unmoralisch – vielleicht fĂŒhlten sich gerade adlige Leser auf den Schlips getreten. Die Frauen wurden vor der LektĂŒre geradezu gewarnt. Die Hauptfigur Henri de Marsay wurde als Monster gesehen, allein der kranken Fantasie seines Autors entsprungen.

Heute ist der Rang der ErzĂ€hlung umstritten: Sie zeige Balzac nicht auf der Höhe seines Könnens, sagen die einen, und sei unnötig in eine schwĂŒl-kriminelle AtmosphĂ€re getaucht. FĂŒr die anderen markiert sie einen wichtigen Schritt in Balzacs Werk: Sie sei Ausdruck davon, dass er auch mit fantastischen, nicht nur mit realistischen Mitteln gearbeitet habe, um die wirkliche Welt durch sein erfundenes Romanuniversum zu ersetzen. Einig ist man sich jedoch darin, im ersten Teil, dem gesellschaftlichen Paris-Aufriss, ein Meisterwerk Balzac’scher Prosa vor sich zu haben. Das MĂ€dchen mit den Goldaugen wurde 1961 von Jean-Gabriel Albicocco verfilmt.

Balzacs Beschreibung der Pariser ZustĂ€nde im 19. Jahrhundert klingt auch immer wieder in Patrick SĂŒskinds Erfolgsroman Das Parfum (1985) durch.

Über den Autor

HonorĂ© de Balzac wird am 20. Mai 1799 in Tours geboren. Sein Vater, der Sohn eines Bauern, hat sich zum leitenden Beamten hochgearbeitet, seine Mutter stammt aus gutbĂŒrgerlicher Familie. 1814 zieht die Familie Balzac nach Paris. Ein Jurastudium bricht der junge Balzac ab, um Schriftsteller zu werden. Lange Jahre ist er erfolglos. Er macht Schulden, die ihn fĂŒr den Rest seines Lebens drĂŒcken werden, als er sich 1826 als Verleger versucht und eine Druckerei kauft, die zwei Jahre spĂ€ter Konkurs anmelden muss. 1829 stellt sich erster schriftstellerischer Erfolg ein, der ihm Zutritt zu Adelskreisen verschafft. Er fĂŒhrt ein Leben ĂŒber seine VerhĂ€ltnisse und hat viele Liebschaften mit zumeist verheirateten Damen. 1832 tritt die ukrainische GrĂ€fin Eva Hanska mit ihm in Briefkontakt. Die beiden schreiben sich 18 Jahre lang und sehen sich gelegentlich auf Reisen, bis sie ihn wenige Monate vor seinem Tod schließlich heiratet. Balzac schreibt einen Roman nach dem anderen. Er fasst seine Werke bereits frĂŒh in Gruppen zusammen. WĂ€hrend der Entstehung eines seiner bekanntesten Texte, Le pĂšre Goriot (Vater Goriot, 1834/35), hat er die Idee, dieselben Romanfiguren in verschiedenen Werken auftreten zu lassen und so ein ĂŒberschaubares, vielfĂ€ltig verwobenes Romanuniversum zu schaffen. Das Projekt der ComĂ©die humaine, der Menschlichen Komödie, entsteht mit seinen Großgruppen und Untergruppen und dem Ziel, ein umfassendes SittengemĂ€lde von Balzacs Zeit zu entwerfen. DafĂŒr erlegt sich der Schriftsteller ein unglaubliches Arbeitspensum auf, schreibt oft bis zu 17 Stunden am Tag. 91 der 137 geplanten Romane und ErzĂ€hlungen kann er fertigstellen. Zu den bekanntesten zĂ€hlen Illusions perdues (Verlorene Illusionen), EugĂ©nie Grandet, Splendeurs et misĂšres des courtisanes (Glanz und Elend der Kurtisanen) und La peau de chagrin (Das Chagrinleder). Balzac gilt zusammen mit Stendhal und Flaubert als der BegrĂŒnder des literarischen Realismus in Frankreich. Die stĂ€ndige Überanstrengung ruiniert seine Gesundheit, er stirbt am 18. August 1850 in Paris.

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