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Eine Theorie der Gerechtigkeit

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Eine Theorie der Gerechtigkeit

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Ein Meilenstein der neuesten Philosophiegeschichte: John Rawls’ Grundsätze für eine gerechte Gesellschaftsordnung.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit

Der zentrale Gedanke in Rawls’ 1971 erschienenem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit ist das Verständnis von Gerechtigkeit als Fairness. Rawls macht ein Gedankenexperiment: Er schafft eine hypothetische Situation, in der Menschen, die ihre künftige Stellung in der Gesellschaft noch nicht kennen, gemeinsam die Grundsätze für ihr Zusammenleben definieren. Dieser „Schleier der Unwissenheit“ hat zur Folge, dass Einzelinteressen keine Auswirkungen auf die Entscheidung der Bürger haben. So kann – in der Theorie – garantiert werden, dass sich auch tatsächlich diejenigen Interessen durchsetzen, die alle Bürger teilen. Obwohl Rawls lediglich die Bedingungen der Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft aufzeigt, wird deutlich, dass er Eine Theorie der Gerechtigkeit auch als Kritik an den Staaten des real existierenden Sozialismus verfasst hat. Diese nahmen ja für sich in Anspruch, den alten Menschheitstraum einer gerechten Gesellschaft tatsächlich realisiert zu haben. Bei Rawls schreibt aber nicht die Gesellschaft dem Einzelnen vor, wie eine gerechte Ordnung auszusehen habe, sondern die Individuen legen deren Grundsätze aus freien Stücken fest. Rawls’ Werk ist der in der neuesten Philosophiegeschichte einzigartige Versuch, individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit als gleichwertige Stützen der modernen Gesellschaft zu verstehen.

Take-aways

  • John Rawls’Eine Theorie der Gerechtigkeit gilt als eines der bedeutendsten moralphilosophischen Werke des 20. Jahrhunderts.
  • Rawls’ von Rousseau und Kant beeinflusste Theorie basiert auf einem hypothetischen Gesellschaftsvertrag, der die Grundsätze des Zusammenlebens regelt.
  • Dieser fiktive Urvertrag wird von Personen geschlossen, die kein Wissen über ihre individuellen Interessen, Fähigkeiten und ihre soziale und ökonomische Stellung in der zu begründenden Gesellschaft haben.
  • Diese Personen werden sich für zwei Prinzipien entscheiden: das Prinzip des gleichen Rechts auf individuelle Freiheit und das Differenzprinzip, das Ungleichheit dann zulässt, wenn die am schlechtesten Gestellten einen Vorteil daraus ziehen.
  • Es ist an den Bürgern, die Grundsätze der Institutionen zu entwickeln, die eine gerechte Gesellschaft tragen.
  • Soziale Ungleichheit in einer gerechten Gesellschaft ergibt sich aus unterschiedlicher Leistungsfähigkeit im wirtschaftlichen Bereich.
  • Ungleichheit darf allerdings nicht bei politischen Grundfreiheiten herrschen. Diese garantieren jedem eine faire Chance, Diskriminierung ist ausgeschlossen.
  • Das Leben mit Privilegien zu beginnen ist Zufall, kein Verdienst. Daraus folgt die moralische Verpflichtung, die Situation der schlechter Gestellten zu verbessern.
  • Der Staat muss Unterschiede, die sich aus sozialen Startbedingungen ergeben, ausgleichen und jedem Bürger dieselbe Chance auf Bildung und Ämter einräumen.
  • Rawls definiert Gerechtigkeit vor allem als Verfahrensgerechtigkeit.
  • Sein Buch trug in den 70er Jahren zu einer Wiedergeburt der Moralphilosophie bei und löste eine Debatte um gesellschaftliche Gerechtigkeit aus.
  • Rawls wollte seine Theorie nicht als praktische Anleitung zur Reform verstanden wissen, sondern als Denkanstoß zu den Grundsätzen einer solchen Reform.

Zusammenfassung

Wann gilt eine Gesellschaft als gerecht?

Wenn jedes Mitglied der Gesellschaft die gleichen Grundsätze der Gerechtigkeit anerkennt und es davon ausgehen darf, dass die anderen dies auch tun, gilt eine Gesellschaft als gerecht. Zudem muss gewährleistet sein, dass auch die wichtigen gesellschaftlichen Institutionen diesen Grundsätzen der Gerechtigkeit folgen. Und es braucht noch eine dritte Bedingung, damit eine Gesellschaft als gerecht gelten darf: Jeder Bürger sollte über einen Gerechtigkeitssinn verfügen, der ihn in die Lage versetzt, die Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen und sie anzuwenden. Tatsächlich sollte jede Person also zwei moralische Fähigkeiten besitzen: Die erste ist das Verständnis der Gerechtigkeitsgrundsätze und die Bereitschaft, ihnen gemäß zu handeln. Die zweite ist das Vermögen, ein Verständnis des Guten auszubilden, es den Umständen anzupassen und ihm rational zu folgen. Voraussetzung dafür ist, dass die Menschen willens sind, Verantwortung zu tragen, und ihnen ihre Freiheiten und Chancen nicht gleichgültig sind. Alles andere wäre ein Zeichen mangelnder Selbstachtung und charakterlicher Schwäche.

Die Gesellschaft im Urzustand

In einer gerechten Gesellschaft sind alle Bürger frei und gleich. Zum einen ist also ihre Selbstbestimmung nicht eingeschränkt und zum anderen müssen die politischen Institu-tionen allen Mitgliedern der Gesellschaft gegenüber gerechtfertigt werden können. Dabei muss zwischen Gerechtigkeit und Gleichheit unterschieden werden: Individuelle Ungleichheit ist nicht zwingend auch ungerecht. Um die Frage zu beantworten, wie das Zusammenleben von freien, gleichen und verantwortungsfähigen Bürgern in einer gerechten Gesellschaft aussehen kann, bietet es sich an, die Gesellschaft gedanklich in eine Art Urzustand zurückzuversetzen. In diesem Urzustand treffen rational denkende und handelnde Personen eine Entscheidung über die richtigen Prinzipien für den Aufbau einer gerechten menschlichen Gesellschaft. Die Personen haben zwar Vorstellungen von gesellschaftlichen Problemen und Zusammenhängen, leben aber unter einem „Schleier des Nichtwissens“: Sie wissen nicht, an welcher Stelle, in welcher Klasse, in welchem Beruf, in welcher Familie, mit welcher Intelligenz und mit welchem Geschlecht sie in diese Gesellschaft eintreten werden.

Die Verteilung der Grundgüter

Weil die Menschen im Urzustand sich bewusst sind, dass sie später sowohl aus privilegierter als auch aus unterprivilegierter Position in die zu gründende Gesellschaft starten könnten, erhält die Verteilung der Grundgüter eine hohe Bedeutung. Grundgüter benötigen vernünftigerweise alle Bürger, die sich selbst und ihre Mitbürger als freie und gleiche Personen betrachten, und zwar unabhängig davon, welche besondere Vorstellung des Guten sie bejahen. Zu diesen Grundgütern zählen zunächst allgemeine Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen, aber auch das Gut der Selbstachtung. Die im Urzustand zusammengekommenen und sich beratenden Bürger beurteilen die zur Auswahl stehenden Gerechtigkeitsgrundsätze nun danach, inwieweit sie allen Bürgern die größtmögliche Zuteilung an Grundgütern sichern.

Chancengleichheit als Erfolgsfaktor der freien Marktwirtschaft

Eine Folge der individuellen Ungleichheit der Menschen ist, dass die einen privilegiert und die anderen weniger begünstigt sind. Deshalb verpflichten sich die Personen, die in Unkenntnis ihrer späteren gesellschaftlichen Stellung den Urvertrag abschließen, zwei Prinzipien zu respektieren:

  1. gleiche Rechte und Chancen für alle (Prinzip der größtmöglichen individuellen Freiheit),
  2. Akzeptanz von Ungleichheit in der Verteilung (Differenzprinzip).
„Mit einer falschen Theorie darf man sich nur dann zufrieden geben, wenn es keine bessere gibt; ganz ähnlich ist eine Ungerechtigkeit nur tragbar, wenn sie zur Vermeidung einer noch größeren Ungerechtigkeit notwendig ist.“ (S. 20)

Damit auch Ungleichheit als notwendig anerkannt werden kann, bedarf es allerdings einer Voraussetzung: Die gesamte Gesellschaft, insbesondere die Unterschicht, muss von der Ungleichheit profitieren. Mit Chancengleichheit und dem Prinzip der Toleranz haben die westlichen Gesellschaften seit der Reformation gute Erfahrungen gemacht. Grund genug, diese nicht wie auch immer gearteten perfektionistischen oder gar totalitären Systemen zu opfern – auch dann nicht, wenn sich diese Systeme als wirtschaftlich effizient erweisen sollten. Denn die Grund- und Freiheitsrechte sind die Voraussetzung für das Funktionieren einer freien Marktwirtschaft, nicht deren Folge. Der Erfolg der freien Marktwirtschaft ist ganz wesentlich davon abhängig, dass Klassenschranken abgebaut werden.

Ausblendung des Staates

Gerechtigkeit als Fairness heißt nicht, dass der Staat die Position der sozial schlechter Gestellten etwa durch die Anhebung der Löhne zu verbessern sucht. Vielmehr soll der Staat Unterschiede ausgleichen, indem er dafür sorgt, dass jeder Bürger dieselbe Chance auf Bildung und Ämter erhält. Für den Zugang zu Laufbahnen unter fairer Chancengleichheit dürfen soziale Faktoren keine Rolle spielen. Die Chancen der am wenigsten begünstigen Mitglieder der Gesellschaft müssen verbessert werden, ohne dass man die Aussichten der Bevorzugten verschlechtert. So wird Nivellierung nach unten ausgeschlossen: eine wichtige Voraussetzung, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Industriegesellschaften zu bewahren. Die vorteilhafteren Aussichten der am besten gestellten Menschen und Gruppen sind sogar als gerecht anzusehen, wenn sie dazu beitragen, auch die Aussichten der am schlechtesten Gestellten zu steigern. Zu den besseren Lebensumständen der Privilegierten gehören z. B. Vergnügungen. Sie sind nicht verwerflich und können im Sinne des Differenzprinzips gerechtfertigt werden, wenn auch die weniger Privilegierten indirekt davon profitieren oder zumindest dadurch nicht schlechter gestellt werden.

Selbstachtung als Folge der sozialen Anerkennung des Verzichts

Gemäß dem Differenzprinzip dürfen Ungleichheiten in der Verteilung dann akzeptiert werden, wenn diese allen in der Gesellschaft, insbesondere den unterprivilegierten Menschen, Vorteile bringen. Das Bewusstsein der Unterprivilegierten, ihre Situation höchstens verbessern zu können, aber nicht in der Lage zu sein, gesellschaftliche Unterschiede ganz verschwinden zu lassen, könnte nun allerdings Anlass zu Resignation, Unzufriedenheit oder gar Aufruhr geben, statt die Bereitschaft zu wecken, sich mit dem gesellschaftlichen System zu arrangieren. Denn immerhin schließt ja das Prinzip, dass eine gerechte Gesellschaft auf einen maximalen durchschnittlichen wirtschaftlichen Nutzen bedacht ist, nicht aus, dass einige Bürger dabei Nachteile in Kauf nehmen müssen. Es stellt sich mithin die Frage nach der Zumutbarkeit der Nachteile, die auch eine gerechte Gesellschaft beim Einzelnen verursachen kann. Zumutbar sind die Nachteile, wenn sie die Selbstachtung des Betroffenen nicht beeinträchtigen, d. h. wenn sich bei dem Betroffenen das Bewusstsein einstellt, dass er mit seinem Verzicht zum Gesamtwohl der Gesellschaft beiträgt. Die Gesellschaft ihrerseits muss dem Individuum für seine Haltung Respekt zollen.

Der Staat: Garant gerechter Verteilung

Es dürfen keine Versprechen hinsichtlich einer späteren materiellen Besserstellung gemacht werden; dies würde alle Beteiligten überfordern. Kompensationen, die den schlechter Gestellten zugesichert werden, dürfen auch nicht nach einem „objektiven Maßstab“ verteilt werden, der behauptet, der einzig richtige zu sein. Das würde dem Utilitarismus, dem absolut gesetzten Nutzen als einzigem ethischem Prinzip der Gesellschaft, Tür und Tor öffnen. In einer Gesellschaft aber, deren Ziel es ist, um der Gerechtigkeit willen einen maximalen durchschnittlichen Nutzen zu erzielen, ist die Frage, wie eine bestimmte Menge an Gütern auf bestimmte Menschen zu verteilen sei, nicht zu beantworten. Gerechtigkeit besteht hier vielmehr in der Anerkennung des Grundsatzes der fairen Chance, es handelt sich also um eine Verfahrensgerechtigkeit.

„Ich möchte eine Gerechtigkeitsvorstellung darlegen, die die bekannte Theorie des Gesellschaftsvertrages etwa von Locke, Rousseau und Kant verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsebene hebt.“ (S. 27)

Das bedeutet: Vertraglich wird anerkannt, die Frage der Kompensation durch den Staat situationsabhängig in gegenseitiger Achtung immer wieder neu zu regeln. Zuständig hierfür wäre eine „Allokationsabteilung“ des Staates. Im Einzelnen hat der Staat darauf zu achten, dass ein angemessener Wettbewerb erhalten und die Bildung von übermäßiger wirtschaftlicher Macht verhindert wird. Dazu braucht es eine „Stabilisierungsabteilung“. Außerdem hat der Staat die Vollbeschäftigung der Arbeitswilligen zu gewährleisten, aber auch die freie Berufswahl und adäquate Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Ferner muss er soziale Mindeststandards garantieren. Dazu gehört insbesondere das Existenzminimum für alle, das der Staat mithilfe einer „Umverteilungsabteilung“ sichern soll. Die „Verteilungsabteilung“ schließlich sorgt für eine angemessene Besteuerung. Geeignete Instrumente sind die Schenkungs- und Erbschaftssteuer, die eine Streuung des Eigentums begünstigen, oder allgemeine Steuern, durch die der Staat die Mittel z. B. für die Sicherung des Existenzminimums erhält.

Das Existenzminimum und die Generationengerechtigkeit

Die Bestimmung der Höhe des Existenzminimums ist eng verbunden mit der Frage nach den Ansprüchen der Nachfahren. Wenn die Menschen dem Sparen ihres Geldes das Differenzprinzip zugrunde legen, besteht die Gefahr, dass entweder überhaupt nicht oder nicht genug für die kommende Generation gespart wird. Erneut ist in dieser Situation die Modellvorstellung des Urzustands hilfreich. In diesem Zustand gelangen die Verhandlungspartner, die wissen, dass Angehörige früherer und späterer Generationen einander gegenüber Verpflichtungen haben, zu wiederum zwei Prinzipien: Zum einen sind niemandem die näheren Nachkommen gleichgültig. Zum anderen müssen die beschlossenen Grundsätze der Gesellschaft so beschaffen sein, dass jeder wünschen wird, auch alle früheren Generationen hätten diese Grundsätze befolgt. Die Vertragsparteien versuchen also, einen gerechten Sparplan zu finden. Sie stellen sich die Frage, wie viel sie einerseits für ihre näheren Nachkommen zu sparen bereit sind und zu welchen Ansprüchen sie sich andererseits gegenüber ihren näheren Vorfahren berechtigt fühlen. So stellen sie sich etwa vor, sie seien Väter, und fragen sich, welchen Betrag sie für ihre Söhne und Enkel zur Seite legen sollten. Zugleich überlegen sie, welche Ansprüche sie ihrerseits an ihre Väter und Großväter haben.

Individuelles Rechtsgefühl und politische Institutionen

Letztlich hat die Regierung ein Existenzminimum entweder in Form von Familienbeihilfen und besonderen Zahlungen bei Krankheit und Arbeitslosigkeit oder, systematischer, durch abgestufte Zuschüsse zum Einkommen zu sichern (negative Einkommensteuer). Das Prinzip der Neuverteilung ist nichts anderes als das permanente Einräumen von fairen Chancen – für die jetzige und die kommende Generation. Dieses Prinzip ist zugleich das Verbindungsglied zwischen dem individuellen Rechtsgefühl und der Etablierung eines ethischen Rahmens für die politischen Institutionen.

„Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.“ (S. 81)

Das Problem gerechter Verteilung und angemessener Kompensationsleistungen für die schlechter Gestellten kann nur im Rahmen eines Gesellschaftssystems gelöst werden, in dem außer politischer Freiheiten auch die wirtschaftliche Chancengleichheit gesichert ist. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Staat dem Verhalten der Unternehmen und privaten Vereinigungen Bedingungen auferlegt, damit die Errichtung von Monopolen und Zugangsbeschränkungen zu begehrten Positionen verhindert wird.

Der gute Mensch - von ihm hängt alles ab

Ein guter und moralisch wertvoller Mensch zeigt in hohem Maße die grundlegenden Eigenschaften, die die Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft vernünftigerweise bei ihren Mitmenschen sehen möchten. Dazu müssen mehrere Prämissen erfüllt sein: Zum einen müssen die Menschen eine egalitäre Gemeinschaft, in der Zusammenarbeit erwünscht ist, auch tatsächlich wollen. Zum anderen muss ihnen ein Anliegen sein, dass die durch die verschiedenen Klassen entstehenden Diskrepanzen zum Vorteil aller umgestaltet werden. Um auszuschließen, dass der Begriff des Guten – und damit die Grundsätze der Gerechtigkeit – historischen Schwankungen und Neubewertungen unterworfen ist, sollte er durch den Begriff des Vernünftigen (im Sinne des Gemeinwohls), mithin des Nützlichen und Rechten ersetzt werden. Dadurch gelingt es, in dem Wunsch der Menschen nach einer gerechten Gesellschaft und in ihrem Willen, diese auch zu verwirklichen, ein zeitloses Streben zu sehen, das durch die Jahrtausende hindurch gleich geblieben ist.

Zum Text

Aufbau und Stil

Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit ist in drei Hauptteile mit je drei Kapiteln und in insgesamt 87 Paragrafen gegliedert. Der erste Teil beinhaltet den Grundentwurf der Theorie. Hier beschäftigt sich Rawls zuerst mit dem Grundgedanken der „Gerechtigkeit als Fairness“. Anschließend behandelt er die zwei Prinzipien der Gerechtigkeit, deren Vorzug vor dem utilitaristischen Nutzenprinzip er nachweisen will, und zwar einerseits mittels seiner Theorie der rationalen Entscheidung im Zustand der Unwissenheit, andererseits mithilfe der Vertragstheorie. Dazu imaginiert Rawls einen vorgesellschaftlichen Urzustand. Der zweite Teil des Buches spricht von den Möglichkeiten, die Theorie umzusetzen, während der dritte die Ziele des Einzelmenschen und der Gesellschaft beschreibt. Dabei legt Rawls den Akzent vor allem auf die Stabilität einer am Gut der Gerechtigkeit orientierten Gesellschaft. Auffallend ist, dass der eigentliche Entwurf der Gerechtigkeitstheorie nur das erste Drittel des Buches ausmacht, während der zweite und dritte Teil auf Verdeutlichung und Rechtfertigung der Theorie verwendet werden. Im Vergleich zu anderen Gerechtigkeitstheorien weist Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit einen überaus großen inhaltlichen Reichtum auf. Daneben sticht die beeindruckende Verwobenheit ihrer einzelnen Teiltheorien hervor. John Rawls’ Stil ist trocken und unpoetisch. Seine Ausführungen sind auf argumentative Stringenz bedacht. Er nimmt daher eine beachtliche Komplexität der Darstellung und eine nicht immer flüssige Lesbarkeit in Kauf.

Interpretationsansätze

  • Im Zentrum der Rawls’schen Vorstellung von Gerechtigkeit steht der Begriff des Guten, der auch schon in den frühesten Gerechtigkeitstheorien, etwa bei Aristoteles, eine wichtige Rolle spielt. Rawls erweitert den Begriff des Guten jedoch um den des Nützlichen und des Vernünftigen.
  • Gerechtigkeit versteht Rawls vor allem als Fairness. In dem Begriff schwingt nicht etwa eine Banalisierung der Vorstellung von Gerechtigkeit mit, sondern das Zulassen einer gewissen Bandbreite an Interpretationen und Vorstellungen davon, was Gerechtigkeit ist. Diese Bandbreite hat ihre Legitimation nicht zuletzt darin, dass es immer Individuen mit all ihren Unzulänglichkeiten sind, die an der permanenten Definition der Grundsätze der Gerechtigkeit beteiligt sind.
  • Der hypothetische Urvertrag, auf dem Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit aufbaut, regelt, vergleichbar mit der Art und Weise, wie die Gesellschaftsverträge von Locke und Rousseau Recht und Sicherheit gewährleisten, das sozioökonomische Wohlbefinden der Gesellschaftsmitglieder.
  • Die Existenz von Ungleichheit ist deshalb für alle im Urvertrag zusammengeschlossenen Menschen akzeptabel, weil es bei Beginn des Vertrages unmöglich ist, festzustellen, wem Begünstigungen zugute kommen und wem nicht. Die Abstraktheit der Vertragssituation ist Voraussetzung für ihre Allgemeingültigkeit.
  • Alle Grundgüter – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen, die sozialen Grundlagen der Selbstachtung – sind gemäß Rawls gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung auch für schlechter Gestellte einen Vorteil bedeutet. Die Legitimation der Ungleichheit besteht also darin, dass die weniger Privilegierten aus der Ungleichheit immer noch Vorteile ziehen.

Historischer Hintergrund

Gerechtigkeitsutopien im 20. Jahrhundert

Als John Rawls’ Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit 1971 erschien, galt auch in der westlichen Welt vielen die Utopie des Kommunismus als eine realistische gesellschaftspolitische Alternative. Teile der 68er Bewegung sahen sich als Brückenkopf der Staaten des real existierenden Sozialismus. Die westlichen Demokratien wehrten sich in den 70er Jahren gegen Linksradikale mit verfassungsrechtlich fragwürdigen Mitteln, in Deutschland etwa mit dem Radikalenerlass. Zugleich begann 1968, als kommunistische Kräfte die Niederschlagung des Prager Frühlings zu verantworten hatten, die Debatte um den so genannten dritten Weg, um einen Sozialismus mit markwirtschaftlichem Vorzeichen. Die Möglichkeit eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz beherrschte die Diskussion, ohne jedoch über eine große Anhängerschaft zu verfügen. In das Vakuum der politischen Auseinandersetzung um rechtsstaatliche Werte und Privatbesitz stieß John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit. Tatsächlich bedeutet Rawls’ Werk gewissermaßen eine Rehabilitation des Liberalismus, weil es dem Individuum die Fähigkeit zuerkennt, die Grundsätze von gesellschaftlicher Moral und Recht selbst zu bestimmen, statt dies einer wie auch immer gearteten Gesellschaft zu überlassen. Die Rechte des Individuums haben bei Rawls Vorrang vor dem Gemeinwohl. Das war den Linken nicht weniger suspekt als Rawls’ an Kant erinnernder Aufruf, die Bürger sollten einander „als Ziele, nicht als Mittel zum Zweck“ behandeln. Der amerikanische Philosoph lieferte dem liberalen Bürgertum wieder schlagkräftige Argumente gegen staatliche Eingriffe ebenso wie gegen die Abgabe der Verantwortung des Einzelnen an die Gesellschaft.

Entstehung

Der Tod seiner beiden Brüder, die an Krankheiten starben, von denen John Rawls selbst verschont blieb, war zweifellos ein Schlüsselerlebnis für ihn. Früh setzte sich so bei ihm die Erkenntnis durch, dass viele Privilegien nicht auf Verdienst, sondern auf Zufall beruhen. Sie verpflichten den Betroffenen, sein Glück zu teilen. Eine Theorie der Gerechtigkeit ist Rawls’ unangefochtenes Hauptwerk, seine anderen Schriften führen entweder zu ihm hin oder ergänzen es. Von großer Bedeutung für seine Gerechtigkeitstheorie war Rawls’ Beschäftigung mit Lebensplantheorien, insbesondere der aristotelischen. Rawls passte die Reflexionen des antiken Philosophen an die Bedingungen moderner individueller Lebensentwürfe an und verwirklichte seinen ganz persönlichen Lebensplan: die Abfassung einer Theorie der Gerechtigkeit. Die Motivation für dieses Projekt gewann er u. a. aus der christlichen Lehre. Diese geht von der brüderlichen Gleichheit der Menschen aus und folgert, dass sich alle Menschen mit gleicher Kraft an der Vervollkommnung des göttlichen Schöpfungsplanes beteiligen sollen. In zahlreichen Artikeln publizierte er ab Anfang der 50er Jahre Versuchsanordnungen zu Formen des Zusammenlebens auf der Grundlage eines Gesellschaftsvertrages. Auch berührte er damals schon den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Fairness sowie Fragen des zivilen Ungehorsams. Diese Aufsätze wurden zu tragenden Teilen der Ende der 60er Jahre fertiggestellten Theorie der Gerechtigkeit. Rawls war nicht der Einzige, der sich in jener Zeit mit moralischen Normsetzungen und deren Begründung beschäftigte. Ein ähnlicher Versuch wurde schon 1955 vom ungarisch-amerikanischen Ökonomen John C. Harsanyi unternommen. Im Unterschied zu Rawls votierte Harsanyi aber für den Utilitarismus. Gordon Tullock und James Buchanan konstruierten 1961, ähnlich wie später Rawls, einen künstlichen Zustand der Unwissenheit, um ein Modell vernunftbezogener individueller Entscheidungen zu entwickeln.

Wirkungsgeschichte

Als John Rawls 1971 seine Theorie der Gerechtigkeit veröffentlichte, sprachen die Medien bereits von einem Jahrhundertereignis. Rawls galt schon damals als einer der wichtigsten Philosophen Amerikas und der Welt. Mindestens 5000 wissenschaftliche Studien sind mittlerweile erschienen, die sich mit seiner Gerechtigkeitstheorie beschäftigen. Diese ist in 23 Sprachen übersetzt und wurde allein in den USA 200 000 Mal verkauft. Obwohl die Rhetorik der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie sehr akademisch war, ließ ihre politische Wirkung nicht lange auf sich warten. Spätestens Ende der 70er Jahre meldeten sich Rawls’ erste Gegner zu Wort, allen voran der zum rechtskonservativen Schülerkreis des Philosophen Leo Strauss zählende Allen Bloom. Er machte John Rawls für alle vermeintlichen Fehlentwicklungen verantwortlich, die im Zuge der 68er Bewegung über die Gesellschaft gekommen seien.

Auch in Deutschland wurde Rawls von konservativen Wirtschaftsliberalen angegriffen. Man bezeichnete ihn als „Philosophen des Sozialneids“. Auf wenig Gegenliebe stieß er außerdem bei den Kommunitaristen um Michael Walzer und Michael Sandel. Die Kommunitaristen halten im Gegensatz zu Rawls das Individuum für nicht befugt, Normen für das Leben in der Gemeinschaft aufzustellen. Sie fordern, dass der umgekehrte Weg beschritten werden soll, dass nämlich die Gemeinschaft die Normen für den Einzelnen festlegen muss. Walzer und Sandel gehen davon aus, dass individuelle Freiheitsrechte zersetzend auf die Gemeinschaft wirken und eine Gesellschaft vereinzelter Egoisten hervorbringen. Nach der Veröffentlichung seiner Theorie war Rawls 30 Jahre lang damit beschäftigt, sie gegen Kritik in Schutz zu nehmen, Einwände einzuarbeiten und den Geltungsbereich seiner Schrift auf das Völkerrecht und auf eine Gerechtigkeit mit globalem Anspruch auszudehnen.

Über den Autor

John Rawls wird am 21. Februar 1921 in Baltimore im amerikanischen Bundesstaat Maryland geboren. Sein Vater ist Rechtsanwalt, die Mutter setzt sich aktiv für die Gleichberechtigung der Frau ein. Rawls schreibt sich 1939 am College in Princeton ein und studiert ab 1946 an der Universität Princeton Philosophie. Sein bedeutendster Lehrer ist der Wittgenstein-Schüler Norman Malcolm. Das Thema von Rawls’ Doktorarbeit, die er 1950 veröffentlicht, ist die moralische Beurteilung menschlicher Charaktereigenschaften. 1952/53 bekommt er ein Forschungsstipendium der Universität Oxford. Dort erhält er die Möglichkeit, John Austin, Isaiah Berlin und Stuart Hampshire kennen zu lernen. Von besonderer Bedeutung in Oxford ist für Rawls aber die Bekanntschaft mit Herbert Hart. Harts Seminare über Grundfragen der Rechtsphilosophie haben auf Rawls großen Einfluss. Nach Professuren an der Cornell University und am MIT in Cambridge, Massachusetts, folgt Rawls 1961 einem Ruf nach Harvard. 1971 publiziert er Eine Theorie der Gerechtigkeit. In Harvard lehrt er anfangs als Philosophieprofessor. Ab 1979 ist er Professor ohne Lehrverpflichtung und folgt dem Ökonomen und Nobelpreisträger Kenneth Arrow als Harvard-University-Professor nach. An Rawls’ zweitem Hauptwerk Politischer Liberalismus (1993) entzündet sich eine lebhafte Diskussion über demokratische Verfassungsstaatlichkeit. In seinen letzten Jahren erleidet Rawls mehrere Schlaganfälle, die ihn aber nicht an der Arbeit hindern. Im Sinne einer Selbstinterpretation und eines Kommentars zu Eine Theorie der Gerechtigkeit folgt 2001 Gerechtigkeit als Fairness. John Rawls stirbt am 24. November 2002 in Lexington (Massachusetts).

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