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Grammatologie

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Grammatologie

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Klassiker des Poststrukturalismus

Grammatologie ist das bekannteste von gleich drei Werken, mit denen Derrida 1967 die Bühne der Philosophie betrat, und dasjenige, das ihn über Nacht zu einem der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts machte. Er entwirft darin ein Projekt von beachtlichem Umfang: die tief greifende Analyse und radikale Kritik des gesamten abendländisch-metaphysischen Denkens von Platon bis Hegel und seiner Fortsetzung in den intellektuellen Strömungen der 1960er-Jahre wie Strukturalismus und Poststrukturalismus. Nebenher begründete das Buch ein neues geisteswissenschaftliches Forschungsinstrument: die Dekonstruktion. Dieses Konzept wurde seither von zahlreichen akademischen Disziplinen aufgegriffen und – teils zum Missfallen Derridas – zum sogenannten Dekonstruktivismus ausgebaut. Außerdem hat die Grammatologie wesentlich zur Etablierung des Poststrukturalismus, einer der intellektuellen Hauptströmungen der Nachkriegszeit, beigetragen. Ein Werk, das bis heute nichts an Radikalität und Brisanz verloren hat.

Take-aways

  • Grammatologie von Jacques Derrida gilt als Gründungstext des Dekonstruktivismus.
  • Inhalt: Ein bestimmtes Konzept der Sprache hat die gesamte klassisch-metaphysische Tradition der Philosophie – und damit die Weltsicht einer ganzen Epoche – geprägt. An Autoren wie de Saussure, Lévi-Strauss oder Rousseau zeigt sich, wie der Logozentrismus das gesprochene Wort als Ort der Präsenz und der Wahrheit verehrte und die Schrift als gefährliche Täuschung ablehnte. Diese Vorstellung gilt es, umzukehren.
  • Das Werk ist ein wichtiger Wegbereiter des Poststrukturalismus.
  • Es wurde 1967 veröffentlicht und bedeutete Derridas Durchbruch als Philosoph.
  • Derrida stellt hier Konzepte wie „Dekonstruktion“, „Différance“ oder „Ur-Spur“ vor, die sein gesamtes weiteres Werk prägen sollten.
  • Die Dekonstruktion ist ein immanentes und kritisches Lektüreverfahren.
  • Sie wurde von vielen geistesswissenschaftlichen Forschungsgebieten übernommen, wurde aber auch heftig kritisiert.
  • Derrida reichte Grammatologie als Doktorarbeit ein – sie wurde abgelehnt.
  • Während zahlreiche französische Denker von Derrida beeinflusst wurden, erntete er in Deutschland und in den USA harsche Kritik.
  • Zitat: „Ein Textäußeres gibt es nicht.“

Zusammenfassung

Die Epoche des Logozentrismus

In den zeitgenössischen Wissenschaften rückt das Problem der Sprache immer stärker ins Zentrum. Gleichzeitig beginnt die Schrift ihren sekundären Charakter gegenüber der Sprache abzulegen. Sie hört auf, bloßes Hilfsmittel zu sein, und beginnt, die Definitionshoheit über die Sprache selbst zu gewinnen. Damit geht eine einflussreiche historische Epoche des Abendlands zu Ende, nämlich die Herrschaft des Logozentrismus. Der Logozentrismus ist ein metaphysisches System, das sich um den griechischen Begriff „lógos“ (Vernunft) dreht, der als Garant für Wahrheit einsteht. Durch den Logos wird die unhinterfragbare, absolut gesicherte Realität der Welt erkannt. Die im Logozentrismus privilegierte Ausdrucksart dieser Erkenntnis ist das gesprochene Wort. Schrift hingegen gilt als rein äußerliches, sekundäres Medium, das die Wahrheit des spontan gesprochenen Wortes lediglich aufbewahrt – und im schlimmsten Fall verzerrt und manipuliert.

„Zweifellos ist das Problem der Sprache (…) nie ein Problem unter anderen gewesen.“ (S. 16)

Dieses erkenntnistheoretische Muster definiert einerseits die philosophische Tradition der Metaphysik und andererseits die moderne linguistische Vorstellung vom Zeichen. Die Linguistik teilt das Zeichen in den Signifikanten und das Signifikat auf. Der Signifikant ist etwas, das auf ein Ding oder eine Vorstellung verweist – etwa ein Wort. Das Signifikat ist dieses Bezeichnete, also das Ding oder die Vorstellung selbst. Bezüglich der Wahrheit ist der Signifikant immer defizitär, denn er ist nur Verweis, nur Spur. Anwesend, also gesichert und wahr, ist das Sein dagegen nur im Signifikat. Analog dazu gründet die abendländische Metaphysik in Dualismen wie Körper und Geist, Sinnliches und Intelligibles, Natur und Kultur usw. Dabei steht stets eine Seite eines solchen Dualismus dem Signifikat, dem Sein, näher als die andere und wird daher als besser bewertet als die andere. Es besteht somit ein enger Zusammenhang zwischen der Dominanz logozentrischer Metaphysik im Abendland und einer bestimmten Idee von Sprache und Zeichen.

Dekonstruktion und totale Schrift

Das Ende dieser Dominanz wird durch die Erkenntnisse der modernen Biologie, der Kybernetik und der Mathematik angezeigt. Sie legen einen völlig anderen Begriff von Schrift nahe. Diese Schrift ist nicht mehr, wie im Logozentrismus, ein bloß sekundäres Aufschreibesystem, das selbst keinen Zugang zur Wahrheit der Dinge enthält, sondern sie ist gerade als Inschrift, als Code, der Schlüssel zum Wesen der Dinge, die sie einschreibt – oder eben „pro-grammiert“. In der Philosophie wurde dieses Konzept einer totalen Schrift zunächst von Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger entwickelt, und zwar gerade durch eine tief gehende Analyse und Kritik der traditionellen Metaphysik. Diesen Weg gilt es, fortzusetzen.

„Die Bewegungen dieser Dekonstruktion rühren nicht von außen an die Strukturen. (…) Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen (…). Die Dekonstruktion wird immer auf bestimmte Weise durch ihre eigene Arbeit vorangetrieben.“ (S. 45)

Will man die neue Möglichkeit einer totalen Schrift erkunden, so ist das offenbar in der logozentrischen Denkart nicht mehr möglich. Diese hat die Schrift abgewertet, denn die Erkenntnis der Wahrheit war dank Logos und Stimme stets auch ohne Schrift möglich. Doch die neue Art von Schrift dreht den Spieß um: Sie ist nicht mehr vernachlässigbares Beiwerk, sondern konstitutiv für die Sprache. Um dieses neue Verhältnis zu denken, bedarf es einer Dekonstruktion des Logozentrismus und seiner „Metaphysik der Präsenz“. Eine solche Dekonstruktion hat mit dem Aufkommen der totalen Schrift bereits begonnen. Dabei geht es um eine kritische Untersuchung des Logozentrismus, mit dem Ziel, dessen vergessene oder verdrängte Voraussetzungen und Grenzen aufzuzeigen. Da unsere Begriffe von Sprache, Schrift oder Zeichen aber selbst diesem Logozentrismus entsprungen sind, kann dieser weder überwunden noch zerstört werden, ohne damit Denken und Sprache selbst zu zerstören.

Die Grammatologie

Wenn der Logozentrismus nicht nur eine bestimmte Idee von Sprache und Schrift geprägt, sondern auch ein Modell von Erkenntnis und damit von Wissenschaft entworfen hat, wie soll dann eine neue Wissenschaft der Schrift, ein Grammatologie, aussehen? Offenbar muss sie weit über die Grenzen einer Sprachwissenschaft hinausgehen und die Bedingungen von Wissenschaftlichkeit untersuchen. Kann die moderne Linguistik dabei helfen? Wie sich an Ferdinand de Saussure zeigt, verbleibt diese ebenfalls in der logozentrischen Tradition und behandelt Schrift als bloßes äußerliches Anhängsel der gesprochenen Sprache. Der Logozentrismus bevorzugte eine bestimmte Schriftart, die phonetisch-alphabetische Schrift. Eines ihrer zentralen Merkmale, die Linearität, ist eng mit der alltäglichen Vorstellung von Zeit als einer sukzessiven Abfolge verbunden. Da diese Konzeption wiederum, wie Heidegger zeigte, auf die abendländische Philosophie zurückgeht, muss eine Betrachtung von Schrift notwendigerweise die Dekonstruktion der gesamten Geschichte der Philosophie umfassen. Die weitreichende historische Auswirkung der Dominanz des phonetischen Alphabets muss auf allen kulturellen Gebieten wie Religion, Politik, Ökonomie oder Technik untersucht werden. Damit sprengt die Grammatologie die Grenzen einer spezialisierten Einzelwissenschaft wie etwa der Linguistik. Sie wird auch zu etwas anderem als einer Humanwissenschaft, denn mit der Dekonstruktion der „Metaphysik der Präsenz“ wird auch der vorgeblich selbstverständliche Begriff des Menschen fragwürdig.

Die Differenz und die Urschrift

In de Saussures Schriften kündigt sich eine interessante Umkehrung an: dass sich nämlich die Schrift als Ursprung der Sprache entpuppen könnte. Diese Ahnung klingt in der These an, dass der Wert oder die Bedeutung jedes Zeichens nur aus seiner Differenz zu allen anderen Zeichen bestehe. Davon ausgehend lässt sich ein Begriff von Schrift als Urschrift oder Urspur entwickeln, der die Dekonstruktion des Logozentrismus, der Präsenz und damit des Bewusstseins ermöglicht. Wenn jedes (gegenwärtige) Zeichen seinen Sinn nur aus dem Bezug zu allen anderen (abwesenden) Zeichen erhält, dann ist es eher eine Spur als eine Präsenz. Der Verweis auf Abwesendes, die Differenz oder die Vermittlung ist dann die fundamentalste strukturelle Eigenschaft der Sprache und nicht Anwesenheit und Identität. Diese können sich nur auf dem Fundament dieser Urdifferenz bilden, indem sie nach weiteren Identitäten verlangen, die ihnen Sinn geben. Die Kategorien des Logozentrismus sind ein gutes Beispiel, denn sie erhalten nur Sinn durch Gegenteile und Entsprechungen: Körper und Geist, Theorie und Praxis, Schrift und Stimme, Mensch und Natur. Gegeben ist dabei, zum Beispiel, weder der Geist noch der Körper, sondern lediglich die Differenz zwischen beiden. Die Vorstellungen von Geist und Körper hängen voneinander ab und verändern sich permanent. Fundamental ist nur die Differenz zwischen ihnen, die Urspur, die Tatsache, dass keine Entität für sich und durch sich anwesend und signifikant ist, sondern stets nur als Spur von unendlich vielen anderen Zeichen (die selbst Spuren sind) präsent und denkbar wird.

Natur, Kultur, Schrift

Die bisher geleistete historisch-systematische Grundlagenarbeit soll an einem konkreten Beispiel bestätigt und vertieft werden: der Epoche Jean-Jacques Rousseaus. Rousseau kommt exemplarischer Wert zu. Denn obwohl die „Metaphysik der Präsenz“ von Platon bis Hegel dauerte, wurde ausgerechnet im 18. Jahrhundert das Problem der Schrift akut, und Rousseau war es, der ihre Unterdrückung erstmals denkbar machte. Außerdem führte er ein neues Modell der Präsenz in den Logozentrismus ein. Aufgrund der gegenwärtigen Popularität des Strukturalismus soll auch die Perspektive des Ethnologen Claude Lévi-Strauss auf Rousseau hinzugezogen werden.

Der Logozentrismus des Strukturalismus: Lévi-Strauss

Lévi-Strauss bezeichnet Rousseau nicht nur als Gründer der Ethnografie, er sieht sein gesamtes eigenes Werk als Fortführung des Rousseau’schen Denkens. Der rote Faden, der beide verbindet, ist der Logozentrismus. Lévi-Strauss beschreibt in seinem Buch Traurige Tropen unter anderem das schriftlose Volk der Nambikwara. Er schildert sie als harmonische, sorgenfreie Gesellschaft, deren Mitglieder rein verbal, von Angesicht zu Angesicht kommunizieren und deshalb völlig gegenwärtig leben. Dieser paradiesische Zustand wird durch das koloniale Eindringen von Schrift und Kultur gewaltsam beendet. Lévi-Strauss schildert eindrücklich, wie das Volk der Nambikwara unter dem Einfluss der westlichen Zivilisation herunterkam. Darin zeigt sich das logozentrische Erbe der strukturalistischen Ethnografie, aber auch ihre Verbundenheit zum Rousseau’schen Projekt der Suche nach dem Ursprung der Gesellschaft. Der Ethnologe erkundet eigentlich nicht die fremde Kultur, sondern die Vergangenheit der eigenen, abendländischen Zivilisation.

„Die entscheidendste Intention des vorliegenden Essays wäre es also, rätselhaft zu machen, was vorgeblich unter dem Namen der Nähe, der Unmittelbarkeit und der Präsenz (…) verstanden wird.“ (S. 123)

Lévi-Strauss ignoriert denn auch eigene, an anderer Stelle verzeichnete Beobachtungen von Ungerechtigkeit und Streit bei den Nambikwara. Er übersieht zudem, dass dieses Volk bereits Schrift besitzt: Es kennt Eigennamen und Stammbäume. Der Akt der Benennung markiert den Eintritt in die Schrift: Durch die Benennung wird eine Differenz zu anderen Namen gesetzt, womit alles Eigene ausgelöscht wird. Dies ist ein Ur-Akt der sprachlichen Gewalt. Deshalb ist es falsch, die Nambikwara als schriftloses Volk zu bezeichnen, und ebenso falsch, sie als gewaltfreie Gesellschaft zu stilisieren. Auch die beeindruckend langen Familienstammbäume, die sie aus dem Gedächtnis auflisten können, erfüllen die Kriterien von Schrift. Sie bilden ein Netzwerk aus Elementen mit spezifischen, wechselseitigen Beziehungen und archivieren Information.

Die Logik des Supplements

Rousseau teilt zwar die logozentrische Skepsis gegenüber der Schrift, doch er glaubt nicht mehr an die reine Selbstpräsenz des Wortes. Einerseits hält er, ganz logozentrisch, Schrift für eine künstliche Barriere zwischen Denken und Ausdruck, aber auch zwischen Menschen. Das gesprochene Wort dagegen steht für die ideale, unvermittelte Form menschlichen Zusammenlebens. Andererseits erkennt Rousseau der Schrift doch immer wieder das Vermögen zu, die Wahrheit von Gesprochenem gegen Fehlinterpretation abzusichern – und zeigt das gesprochene Wort damit als mangelhaft. Diese Doppeldeutigkeit beschreibt er mit dem Begriff des „Supplements“. Ein Supplement ist einerseits ein rein äußerliches Anhängsel, ein bloßer Zusatz, andererseits aber auch ein vollwertiger Ersatz für etwas, das selbst nicht genug Aussagekraft besitzt.

„Die Theorie der Schrift bedarf also nicht nur einer wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Befreiung (…). Zweifellos ist heute eine Reflexion notwendig, in der die ,positive‘ Entdeckung und die ,Dekonstruktion‘ der Geschichte der Metaphysik in all ihren Begriffen sich wechselseitig und mit äußerster Sorgfalt kontrollieren lassen.“ (S. 147)

Diese Logik des Supplements findet sich sowohl in Rousseaus autobiografischen Schriften als auch in seinen Traktaten zur Bildung und zur Sprache. Ein sehr aufschlussreiches Beispiel ist seine Sichtweise der Masturbation. Einerseits kritisiert er diese als bloßen Ersatz für Geschlechtsverkehr. Andererseits bekennt er, jegliche Beziehung zu Frauen zugunsten der Onanie aufgegeben zu haben. Seine Begründung erklärt die Logik des Supplements: In der Masturbation können alle Fantasien verwirklicht, alle Frauen, die in Wirklichkeit unerreichbar sind, doch gegenwärtig geliebt werden. Das Supplement ermöglicht also eine sonst unmögliche Präsenz. Gleichzeitig gesteht Rousseau, dass er trotzdem sexuell frustriert ist, denn die Präsenz der Frauen in der Onanie bleibt eine Illusion. Schließlich erklärt er die Masturbation zum Schutzschild für seine sensible Natur und schreibt der reinen Präsenz sogar etwas Gefährliches, Krankmachendes zu. Und tatsächlich: Die vollkommene Präsenz ist nur dann möglich, wenn keine Zeitdauer, keine Veränderung, keine Differenz eintritt – wenn also alles Leben fehlt: im Tod.

Der Ursprung der Sprache

Rousseaus Traktat über die Sprache, der Essai sur l’origine des langues, legt weitere Beispiele für Supplemente vor. Es führt eine Reihe von Dualismen an, die das Schicksal der Sprache und ihren Verfall von einem Instrument des unmittelbaren Ausdrucks zur abstrakten Schrift zeigen. Die ursprünglich-natürliche Sprache bestimmt Rousseau als Sprache des Südens, der Leidenschaften und als melodisch-expressive Sprache des Akzents. Dem entgegen stellt er ihre kultivierte Schwundform als Sprache des Nordens, der Bedürfnisse und als harmonisch-kalkulierte Sprache der Artikulation. Dieser vereinfachten Bewertung widerspricht Rousseau allerdings an anderen Stellen seines Werks. Vor allem definiert er die menschliche Sprache als jenes Instrument, durch das die Emotionalität des Menschen in geregelten Zeichen ausgedrückt werden kann. Das bedeutet, dass alle menschliche Sprache immer schon artikuliert und damit schriftartig ist. Sie war nie natürlich und unmittelbar, sondern immer schon ein geregeltes Zeichensystem, das allen Ausdruck und alle Expressivität ermöglicht hat. Auch wenn, historisch gesehen, die alphabetische Schrift eine relativ späte Errungenschaft darstellt – strukturell ist Sprache der Urschrift, dem ursprünglichen Supplement entsprungen. Sie hat immer schon eine Unmittelbarkeit ersetzt, die niemals an sich da war, sondern erst in der Sprache denkbar wurde.

Zum Text

Aufbau und Stil

Derrida wird immer wieder ein Hang zum Literarischen und damit Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen. Bereits im Vorwort allerdings bezeichnet der Autor seine Grammatologie als Essay. Damit weist er sie einer Textgattung zu, die gar keinen Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit erhebt, sondern eher die persönlich und literarisch eingefärbte Untersuchung eines soziokulturellen Phänomens zum Ziel hat. Das Buch besteht aus zwei Teilen: einer theoretischen Grundlegung sowie deren praktischer Anwendung. Während der erste Teil Ausgangssituation und Problemstellung im Hinblick auf die zeitgenössische Wissenschaftslandschaft bestimmt und das Projekt der Grammatologie sowie die Methode der Dekonstruktion vorstellt, arbeitet der zweite Teil dieses begriffliche Rüstzeug in einer minutiösen Lektüre von Lévi-Strauss und vor allem von Rousseau weiter aus. Diesem praktischen Teil sind etwa zwei Drittel des gesamten Buches gewidmet. Derrida zitiert darin ausführlich Passagen, die er sorgfältig kommentiert und interpretiert. Dieser sehr empirische Zugang, der stets nah am Originaltext bleibt, trägt dazu bei, Derridas durchaus abstrakte Begriffe und unorthodoxe Gedankengänge konkret zu veranschaulichen und dadurch besser verständlich zu machen. Außerdem ist die Art, wie Derrida Widersprüche in den zitierten Texten aufzeigt und sie zu eigenen Argumenten ausbaut, selbst ein handfestes Anwendungsbeispiel der oft missverstandenen Methode der Dekonstruktion.

Interpretationsansätze

  • Mit der Grammatologie, insbesondere mit der ausführlichen Kritik an den beiden wichtigen Strukturalisten Ferdinand de Saussure und Claude Lévi-Straus, zeigt sich Derrida als Wegbereiter des Poststrukturalismus.
  • Das Buch zelebriert eine Geste der Befreiung: Derrida spricht sowohl von einer Befreiung der Zeichen aus ihrer logozentrischen Deutung als auch von der Befreiung der Erkenntnis von Illusionen.
  • Letzteres weist Parallelen zu Kants kritischer Philosophie auf. Eine Nähe, die Derrida jedoch nicht weiter ergründet: Kant ist der einzige klassische Philosoph, der in der Grammatologie nicht behandelt wird.
  • Wesentliches Ziel der dekonstruktivistischen Lektüre ist die immanente Kritik: Die untersuchten Texte sollen nicht von externen Positionen aus kritisiert werden, sondern auf dem Boden ihrer eigenen Argumentation und durch ihre eigenen Widersprüche.
  • Dieses Lektüreverfahren versucht, durch „close reading“ die unbewussten Voraussetzungen eines Textes sichtbar zu machen. Der dekonstruktivistischen Kritik geht es also nicht primär um eine Zurückweisung, sondern vor allem um ein besseres Verständnis.
  • Damit hat Derridas Grammatologie eine starke ethische und politische Dimension. Der Autor entwirft ein Denken, in dem Neues nicht durch Ermächtigung, sondern durch ein Durchdringen von Bestehendem entsteht.
  • Eine Voraussetzung der Dekonstruktion ist die Psychoanalyse. Auch wenn Derrida sie in der Grammatologie lediglich streift – die Annahme einer unbewussten Aussage von Texten, die über die Absicht des Autors hinausgeht, verweist eindeutig auf Freud.

 

Historischer Hintergrund

Frankreich in der Nachkriegszeit

Frankreich ging aus dem Zweiten Weltkrieg als eine der Siegermächte hervor. Bereits 1945 wurde das Land Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, Ende 1946 folgte die Gründung der Vierten Republik. Wie viele durch den Krieg zerstörte Nationen Europas erhielt auch Frankreich finanzielle Unterstützung beim Wiederaufbau durch den amerikanischen Marshallplan. Und wie der Rest Europas erlebte die Nation dadurch in den folgenden Jahrzehnten einen außergewöhnlichen Wirtschaftsaufschwung, die „Trente Glorieuses“, also 30 glorreiche Jahre. Vor dieser Phase wirtschaftlicher Prosperität und innenpolitischer Sicherheit erlebte Frankreich jedoch innenpolitisch wie außenpolitisch eine Krise. Die Vierte Republik erwies sich als äußerst instabil, außerdem musste die junge Nation ihren Niedergang als Kolonialmacht hinnehmen: Im Lauf des ersten Indochinakriegs von 1946 bis 1954 errangen die Kolonien Südostasiens ihre Unabhängigkeit. Von 1954 bis 1962 emanzipierte sich Algerien in einem äußerst brutal geführten Konflikt von der französischen Kolonialherrschaft. 1958 wurde die Fünfte Republik ausgerufen. Weltkriegsgeneral Charles de Gaulle kehrte als Ministerpräsident und federführende Kraft hinter der neuen Staatsverfassung in die Politik zurück. Im selben Jahr wurde Frankreich Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG, der Vorläuferin der EU.

Gegen Ende der 1960er-Jahre bildete sich in Frankreich wie in vielen Ländern diesseits des eisernen Vorhangs eine breite gegenkulturelle Protest- und Reformbewegung. Sie protestierte unter anderem gegen den dominierenden Konservatismus, Kolonialkriege und zunehmende Kapitalisierung. In Frankreich erreichten diese Unruhen im Mai 1968 mit einem Generalstreik ihren Höhepunkt.

Entstehung

Derridas Grammatologie entstand im Kontext der Pariser Intellektuellenszene der 1960er-Jahre und in einer besonderen gesellschaftlichen Atmosphäre kurz vor dem Mai 1968. Beides prägte den Stil, aber auch den Inhalt des Buches sehr deutlich, denn Derrida gewann seine Positionen in der Grammatologie hauptsächlich mittels umfassender kritischer Analyse der dominierenden zeitgenössischen Denkformen. Zu diesen zählten einerseits die Hauptströmungen der kontinentalen Philosophie der Nachkriegszeit wie Psychoanalyse, Marxismus (Derrida studierte bei Louis Althusser) oder die deutsche Phänomenologie von Edmund Husserl und Martin Heidegger. Andererseits gehörten dazu auch bestimmte Schwerpunkte, die eine ganze Generation französischer Denker teilte, etwa die Renaissance bzw. Rehabilitation Friedrich Nietzsches, vor allem aber der Strukturalismus. Begründet durch Linguisten wie Ferdinand de Saussure oder Roman Jakobson und den Ethnologen Claude Lévi-Strauss, stellte der Strukturalismus ein interdisziplinäres Forschungsprogramm dar, das soziokulturelle Phänomene auf zugrunde liegende, nicht notwendig bewusste Verhältnisse und Funktionen zurückführte. Er stand im Zusammenhang mit einer umfassenden Bewegung des Geisteslebens des 20. Jahrhunderts, die als „linguistic turn“ (sprachkritische Wende) bezeichnet wird und die das Medium Sprache zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse machte.

Als Derrida Mitte der 1960er-Jahre seine Doktorarbeit bei Maurice de Gandillac schrieb, bezog er sich explizit auf diese Denk- und Forschungsrichtungen – und kritisierte sie allesamt radikal als Fortsetzungen der 2000-jährigen Tradition der Metaphysik. Die Grammatologie beschäftigte sich also mit dem Fortbestand der Schriftbegriffe von Platon, Aristoteles und der Scholastik in der zeitgenössischen Geisteswissenschaft.

Wirkungsgeschichte

Als Doktorarbeit wurde die Grammatologie abgelehnt. Dennoch veröffentlichte Derrida sie 1967 in Buchform – zusammen mit zwei weiteren Büchern: Schrift und Differenz und Die Stimme und das Phänomen. Dies waren seine ersten eigenständigen Publikationen. Insbesondere die Grammatologie begründete Derridas herausragende, wenn auch umstrittene Stellung innerhalb der zeitgenössischen Geisteswissenschaften.

Während sich einflussreiche Denker wie Jean-François Lyotard oder Hélène Cixous dezidiert unter den Einfluss Derridas stellten, erntete er in Deutschland und in den USA harsche Kritik. Noam Chomsky, John Searle oder Jürgen Habermas warfen ihm vor, unverständlich zu schreiben oder sachlich hinter der aktuellen analytischen Sprachphilosophie zurückzubleiben. Die Debatte mit Kritikern bestimmte Derridas weitere Karriere ebenso wie die Ausarbeitung der in der Grammatologie eingeführten Kernbegriffe wie „Dekonstruktion“, „Différance“ oder „Urspur“. In den Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaften hat die Grammatologie ebenso starken und bleibenden Einfluss genommen wie in der Philosophie.

Über den Autor

Jacques Derrida wird am 15. Juli 1930 in El Biar, Algerien, als Sohn einer sephardisch-jüdischen Familie geboren. Als Zwölfjährigem wird ihm vom französischen Vichy-Regime der Schulbesuch untersagt. Ab 1949 lebt er in Paris, wo er zwischen 1952 und 1954 an der École normale supérieure, einer der intellektuellen Kaderschmieden Frankreichs, studiert. 1956 erhält er ein Stipendium für die Harvard-Universität. Von 1960 bis 1964 arbeitet er an der Sorbonne als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Von 1965 bis 1983 ist er Dozent für Philosophiegeschichte an der École normale supérieure. Den Durchbruch als Philosoph schafft er 1967 mit gleich drei Publikationen: Die Schrift und die Differenz (Lʼécriture et la différence), Die Stimme und das Phänomen (La Voix et le phénomène) sowie Grammatologie (De la Grammatologie). Derrida ist zeit seines Lebens in die akademische Institutspolitik involviert. Auf dem Gipfel dieses Engagements wird er 1983 Mitgründer des Collège international de philosophie in Paris. Diese offene Universität verschreibt sich der Aufgabe, einerseits die an den Universitäten unterrepräsentierten Zweige der philosophischen Forschung zu fördern und sie andererseits auch für Interessierte außerhalb der Universität zugänglich zu machen. Ab 1983 wirkt Derrida auch als Forschungsleiter an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. Er bekleidet eine Reihe von Gastprofessuren an amerikanischen Universitäten wie Irvine, Johns Hopkins oder Yale. Diese Präsenz in der englischsprachigen Welt fördert seine internationale Bekanntheit weiter. 1985 nimmt ihn die American Academy of Arts and Sciences als Mitglied auf. 1988 wird er von der italienischen Nietzsche-Gesellschaft ausgezeichnet, 2001 erhält er den Theodor-W.-Adorno-Preis. Derrida stirbt am 8. Oktober 2004 in Paris. 

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