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Überwachen und Strafen

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Überwachen und Strafen

Die Geburt des Gefängnisses

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Das Gefängnis ist ein komplexes Disziplinarsystem. Wie es entstand und welche Kräfte darin wirken, zeigt Michel Foucault in einem seiner Hauptwerke.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Postmoderne

Worum es geht

Gefängnis und Gesellschaft

In Überwachen und Strafen will Foucault mehr als nur die Entstehung des Gefängnisses nachzeichnen. Es geht ihm um die wechselseitigen Beziehungen zwischen Ökonomie, Politik und Wissenschaft, aus denen sich ein eigentliches Strafsystem gebildet hat. Als historischen Fokus wählt Foucault die Entwicklung der Strafen in Frankreich zwischen 1750 und 1850. In diesem Zeitraum wurde die öffentlich vollzogene körperliche Strafe durch die verborgen bleibende Haftstrafe abgelöst. Statt der körperlich schmerzhaften Züchtigung ging es nun darum, das Innere des Sträflings zu verändern. Die dabei angewandten Strafmechanismen sind für Foucault Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Disziplinierungssystems. Unter Zuhilfenahme historischer Quellen entwickelt er seine Gedanken zur Entstehung der „Disziplinen“, die den Einzelnen in Form eines Normierungsnetzes umgeben. Das Gefängnis erscheint sogar als Ort, an dem durch das Sammeln von Wissen die Grundlagen für die modernen Humanwissenschaften gelegt wurden. Die nicht immer einfache Sprache ist Ausdruck des Bemühens, jedes simple Erklärungsmuster zu vermeiden. Dennoch ist das Buch streckenweise fesselnd und die Analysen zur „Mikrophysik der Macht“ bleiben jederzeit nachvollziehbar.

Take-aways

  • Überwachen und Strafen ist ein Hauptwerk des französischen Philosophen Michel Foucault.
  • Foucault gilt aufgrund seiner Macht- und Diskursanalysen als einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts.
  • In Überwachen und Strafen untersucht er, wie die Institution Gefängnis entstanden ist und wie daraus ein gesamtgesellschaftliches Disziplinarsystem werden konnte.
  • Er betrachtet die Entwicklung der Strafjustiz zwischen 1750 und 1850 in Frankreich: In diesem Zeitraum wurden Körperstrafen durch Haftstrafen abgelöst.
  • Von geheimen Prozessen und öffentlicher Bestrafung ging man über zu öffentlichen Gerichtsverfahren und verborgener Bestrafung.
  • Es sollte nicht mehr der Körper bestraft, sondern das Individuum im Gefängnis zur Besserung erzogen werden.
  • Das Gefängnis benutzt dazu Methoden der Disziplinierung, die in ähnlicher Weise auch in der Schule, der Fabrik und im Militär angewandt werden.
  • In diesem Disziplinarsystem wird der Einzelne mithilfe von Klassifizierung, Übung und Überwachung zum funktionierenden Teil eines Apparats erzogen.
  • Mit der Entstehung des Gefängnisses ist der Freiheitsentzug zur Regelstrafe geworden.
  • Damit haben die Strafvollzieher an Macht gewonnen: Die Justiz ist auf das Wissen angewiesen, das während des Strafvollzugs gesammelt wird.
  • Ein „Kerkersystem“ entsteht, das weit über das Gefängnis hinausreicht: Ärzte, Wissenschaftler und Pädagogen entscheiden, was normal ist.
  • Dabei verliert das Gefängnis wieder an Bedeutung, während die immer dichter werdenden Normierungsnetze sich über die ganze Gesellschaft ausbreiten.

Zusammenfassung

Geheime Prozesse und öffentliche Bestrafungen

Vor der Französischen Revolution von 1789 hatte das Strafsystem zwei verschiedene Gesichter: Während die Gerichtsverfahren geheim und überwiegend schriftlich geführt wurden, war die Vollstreckung des Urteils öffentlich. Die geheime Prozessführung war Ausdruck des absolutistischen Staatsverständnisses. Wissen war ein souveränes Recht des Königs, auf das der Angeklagte keinen Anspruch hatte. Er erfuhr nichts über Beweise und Zeugen, seine Schuld wurde vom Gericht aus Zeugenaussagen und Indizien festgestellt. Dabei galt übrigens keineswegs das Prinzip, dass ein Angeklagter entweder schuldig oder unschuldig ist: Ein bisschen schuldig war er nur schon durch den Verdacht, und mit jedem weiteren Indiz wurde er noch etwas schuldiger. Die Folter war hierbei sowohl eine Strafe als auch ein Mittel zur Wahrheitsfindung. Gefoltert wurde der Angeklagte, um von ihm ein Geständnis zu erhalten, das dem Gericht viele Mühen ersparen und ihm zur Bestätigung seines Urteils dienen sollte: Mit dem Geständnis, obwohl durch Folter hervorgebracht, bezeugte der Angeklagte die Richtigkeit des Urteils.

„Die Bestrafung hat allmählich aufgehört, ein Schauspiel zu sein. Alles an ihr, was nach einem Spektakel aussah, wird nun negativ vermerkt.“ (S. 16)

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stand im Zentrum des Strafsystems der Körper des Verurteilten. Haftstrafen waren noch nicht gebräuchlich. Durch Pranger, Prügel und andere „peinliche“ Maßnahmen wurde der Körper traktiert. Die Marter umfasste drei Kriterien: Sie musste eine bestimmte Menge an Schmerz erzeugen, Teil einer Strafliturgie sein und als Triumph der Justiz bemerkt werden. Bis zur Abschaffung der Folter hatten die zum Tod Verurteilten vor ihrer Exekution noch ausgeklügelte Qualen zu erleiden, bis hin zum Vierteilen. Ihr Schmerz war das wesentliche Element der Strafe. Ungeachtet ihrer Grausamkeit waren die Qualen kein Zeichen von entfesselter Willkür, sondern dem Verbrechen angepasste Mittel der Bestrafung.

Marter als Demonstration absoluter Macht

Die Wahrheit wurde also in einem geheimen Verfahren festgestellt und durch das Vollstreckungsritual gleichsam verkündigt: Der Verurteilte wurde durch die Straßen geführt, musste öffentlich Abbitte für seine Taten leisten, und vor seiner Hinrichtung wurde das Urteil nochmals verlesen. Man erwartete, dass er mit seinen letzten Worten sein Geständnis öffentlich erneuerte. Zwischen Verbrechen und Marter wurden deutliche Beziehungen hergestellt: Als Vorausschau ins Jenseits sollte sich erweisen, ob der Verurteilte in der Hölle leiden oder, wenn er die letzten irdischen Qualen ergeben ertrug, Gnade vor Gott finden würde. Darin lag die Faszination, die Hinrichtungen auf das Publikum ausübten: Es wollte Zeuge eines Augenblicks der Wahrheit werden.

„Eine Technik der Verbesserung verdrängt in der Strafe die eigentliche Sühne des Bösen und befreit die Behörden von dem lästigen Geschäft des Züchtigens.“ (S. 17)

Als zentrales Element der Strafliturgie bildete der Körper des Verurteilten den Gegenpart zur Macht des Herrschers, die sich in der Vollstreckung des Urteils manifestierte. Weil der König das Gesetz war, beleidigte ein Verbrechen ihn persönlich. Folglich bewies die Urteilsvollstreckung seine überlegene Kraft, die Überwindung des Verstoßes und seinen physischen Sieg über den Verbrecher. Die Urteilsvollstreckung war ein Fest, in dem der Souverän seine Macht demonstrierte und erneuerte.

„(...) zu einer ausnutzbaren Kraft wird der Körper nur, wenn er sowohl produktiver wie unterworfener Körper ist.“ (S. 37)

Die Beteiligung des Volkes an den Marterzeremonien war für den Machthaber ein zweischneidiges Schwert. War sie einerseits notwendig, um die Macht von Justiz und König zu demonstrieren und eine einschüchternde und abschreckende Wirkung zu erzielen, konnte das Publikum andererseits Einfluss auf den Verlauf der Hinrichtungen nehmen. Oft wollte es den Verurteilten selbst umbringen, ihn aber manchmal auch vor dem Scharfrichter retten. Es kam sogar vor, dass am Ende eines solchen Hinrichtungsspektakels nicht etwa der Verurteilte, sondern der Henker dem aufgebrachten Publikum zum Opfer fiel. Auch bei Hinrichtungen von Anführern der Aufstände, die sich im 18. Jahrhundert häuften, kam es öfters zu Tumulten gegen die Obrigkeit. Es waren nicht zuletzt diese „Schafottaufstände“, die zur Abkehr von der öffentlichen Bestrafung führten.

Öffentliche Prozesse und verborgene Strafen

Nach 1750 mehrten sich im Zeichen der Aufklärung die Proteste gegen die „peinlichen“ Strafen. Forderungen nach Respekt vor der menschlichen Natur verbanden sich mit einer ökonomischen Tendenz: Der steigende Wohlstand führte dazu, dass Gewaltverbrechen in ihrer Häufigkeit durch Eigentumsdelikte verdrängt wurden. Zugleich zeigte sich die Lückenhaftigkeit und Willkür des Strafsystems: Es gab konkurrierende Justizinstanzen mit unklaren Kompetenzen und eine Fülle von Gesetzesverstößen wurde einfach geduldet. Die einsetzende Reformbewegung hatte das Ziel, Gesetzesübertretungen regelmäßig, wirksam, präzise und umfassend zu sanktionieren. Nicht mehr der König wurde durch das Verbrechen verletzt, sondern ein „Gesellschaftskörper“.

„In der Tat ist die Verlagerung des Schwergewichts von den Gewaltdelikten zu den Betrugsdelikten Teil eines komplexen Mechanismus aus Produktionsentwicklung, Vermehrung der Reichtümer, rechtlicher und moralischer Aufwertung der Eigentumsbeziehungen, strengeren Überwachungsmethoden, sorgfältigerem Durchkämmen der Bevölkerung, besseren Erfassungs-, Ergreifungs- und Ermittlungstechniken.“ (S. 99)

Mit der Französischen Revolution von 1789 wurden die Gerichtsverfahren öffentlich. Erst ein vollständiger Beweis überführte nun den Angeklagten, sonst galt er als unschuldig. Mit Beweisen, die auf Wissenschaft und gesundem Menschenverstand beruhten, ersetzte das Gerichtsverfahren das inquisitorische Prinzip. Bis 1848 wurden die Elemente des Schauspiels nach und nach aus dem Strafsystem entfernt. Die Unausweichlichkeit der Bestrafung sollte vom Verbrechen abhalten, nicht mehr das grässliche Theater. Der sinnlichen Wahrnehmung entzogen, wurde die Strafe Bestandteil des Bewusstseins. Ihr Vollzug wurde allmählich einer neuen, autonomen Institution übertragen: dem Gefängnis.

Strafen werden milder und individueller

Im Gesetzbuch von 1791 stand nur noch auf Mord und Verrat die Todesstrafe, die Strafen für andere Taten wurden auf höchstens 20 Jahre Haft begrenzt. Weil die Strafe der Besserung des Täters dienen sollte, war ihre Begrenzung erforderlich – denn jede Besserung wäre sinnlos, wenn der Häftling sie nicht mehr in Freiheit nutzen könnte. Mit dem Strafgesetzbuch von 1810 wurde die zwischen Geld- und Todesstrafe angesiedelte Haftstrafe schließlich zum Regelfall. Der Entzug der Freiheit trifft, anders als eine Geldstrafe, alle gleich. Zudem lässt das Prinzip der Freiheitsstrafe eine zeitliche Abstufung zu, je nach Schwere des Vergehens.

„Die Züchtigungen sollten eher eine Schule sein als ein Fest, eher ein ständig aufgeschlagenes Buch als eine Zeremonie.“ (S. 143)

Die Tendenz zu milderen Strafen im Lauf der Jahrhunderte ist nicht nur eine Bewegung weg von Grausamkeit und hin zu mehr Menschlichkeit, sondern die Folge einer Zieländerung der Strafmaßnahmen: Statt auf den Körper richtet sich die Strafe auf das Innere des Menschen. Die Justiz beschäftigt sich also fortan mit einer körperlosen Realität. Bestraft werden die Leidenschaften, die zu Verbrechen führten, und die Strafe wird nicht nur dem Vergehen, sondern auch der Persönlichkeit des Angeklagten angepasst. Es wird nicht mehr nur über das Verbrechen, sondern auch über die Seele des Verbrechers geurteilt.

Funktionierende Menschen – dank Disziplin

Das Gefängnis konnte sich als Ort der Bestrafung aufgrund der Vorstellung durchsetzen, dass es eine Läuterungsstation ist, die den Straftäter zu einem besseren Menschen macht. Es wird individualisiertes Wissen über den Insassen gesammelt, um seine Gefährlichkeit für die Zukunft abschätzen zu können. Gleichzeitig wird er mittels „Disziplinen“ unterworfen: Jede Tätigkeit folgt einem Zwang und wird genau überwacht. So werden die Körperkräfte des Häftlings einerseits gesteigert, um sie ökonomisch nützlicher zu machen, andererseits aber auch geschwächt, damit sie politisch fügsam werden. Der Häftling wird kontrolliert und unterworfen.

„Zwischen dem Verbrechen und der Rückkehr zu Recht und Tugend bildet das Gefängnis einen ‚Raum zwischen zwei Welten‘, einen Ort für die individuellen Transformationen, die dem Staat die verlorenen Subjekte zurückerstatten.“ (S. 159)

Seit dem 18. Jahrhundert arbeiten auch andere Institutionen wie Krankenhäuser, Manufakturen, Schulwesen und Militär detaillierte Pläne aus, um den einzelnen Menschen zum perfekt funktionierenden Teil einer Maschine auszubilden. Jeder Bewegungsablauf wird in kleinstmögliche Einheiten geteilt und für jede Einheit wird eine Zeit vorgegeben. Dann wird die gesamte Bewegung so lange geübt, bis sie automatisch und auf Abruf funktioniert. Signalhafte Befehle lösen reflexartig den einstudierten Bewegungsablauf aus. Im Militär trat dieser Drill nach Erfolgen der preußischen Armee in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seinen Siegeszug durch Europa an.

„(...) die Disziplinartaktik (...) ermöglicht sowohl die Charakterisierung des Individuums als Individuum wie auch die Ordnung einer gegebenen Vielfalt. Sie ist die erste Bedingung für die Kontrolle und Nutzbarmachung einer Gesamtheit verschiedener Elemente: die Basis für eine Mikrophysik der Macht, die man ‚zellenförmig‘ nennen könnte.“ (S. 191)

Der Disziplinarraum ist stets zellenförmig: Jedem Individuum wird sein Platz zugewiesen. In den Manufakturen, den Vorstufen industrieller Fabriken, wurden feste Arbeitsplätze eingerichtet. Die exakte räumliche Zuordnung eines Individuums zu einem Platz erschwert nicht nur unerwünschte Unruhe und Zeitverschwendung, sondern erleichtert auch die ständige Beobachtung und damit die Einordnung der Leistung des einzelnen Menschen. Dieses Disziplinarsystem erzieht „gelehrige Körper“, indem es ihre Fähigkeiten analysiert und gleichzeitig manipuliert. Den Körpern werden nützliche Fertigkeiten beigebracht; in Prüfungen wird das Erlernte kontrolliert und der Einzelne nach seiner Leistung klassifiziert – alles unter permanenter Zwangsausübung.

Allgegenwärtige Überwachung

Ende des 18. Jahrhunderts stellte Jeremy Bentham sein Modell eines panoptischen Gebäudes vor, dessen Zellen so angeordnet sind, dass sie alle von einem Raum im Mittelpunkt eingesehen werden können. Der Insasse ist für den Überwacher ständig sichtbar, der Beobachter für den Insassen aber nicht. Der Insasse kann nie sicher sein, ob er gerade beobachtet wird oder nicht; allein die Möglichkeit reicht zum Zweck der Disziplinierung aus. Gemäß diesem Prinzip wurden im Lauf des 19. Jahrhunderts etliche Strafanstalten errichtet.

„Das lückenlose Strafsystem (...) wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend.“ (S. 236)

Damals bezeichnete die Justiz sanktionierte Gesetzesverstöße als „Delinquenz“. Wer einmal Delinquent war, für den gab es kein Entrinnen: Nach seiner Entlassung wurde der Sträfling von der Polizei überwacht, durfte sich nur an bestimmten Orten aufhalten und fand unter diesen Bedingungen kaum Arbeit, sodass er leicht rückfällig wurde. Die Polizei nutzte einen Teil der Delinquenten als Spitzel, die schon im Gefängnis ihre Mitgefangenen, später in Freiheit andere potenzielle Verbrecher ausspionierten. So wurde das gesamte Land mit einem Überwachungsnetz überzogen, dem idealerweise kein für die Polizei interessantes Vorkommnis entging.

Gefangen im Netz der Normalität

Mit Einführung der Gefängnisstrafe haben sich die Machtverhältnisse zwischen Justiz und Strafvollzug verschoben. Um eine eventuelle Besserung des Häftlings, seinen Charakter und sein Verhalten beurteilen zu können, wird er beobachtet. Vollzugsbeamte, Ärzte, Geistliche und Psychologen tragen zusammen, was sie über ihn in Erfahrung bringen. Auf dieses im Strafvollzug gesammelte Wissen ist die Justiz angewiesen, wenn sie über die Freilassung des Gefangenen zu entscheiden hat. So werden nicht nur die Gutachter zu Nebenrichtern, es wechselt auch die Willkür von der Justiz zum Strafvollzug, in dessen Ermessen Hafterleichterungen und bedingte Entlassungen jetzt liegen.

„Zu ihrer Durchsetzung muss sich diese Macht mit einer ununterbrochenen, erschöpfenden, allgegenwärtigen Überwachung ausstatten, die imstande ist, alles sichtbar zu machen, sich selber aber unsichtbar.“ (S. 275)

Nachdem die „Disziplinen“ mit Schule, Militär und Produktion schon wichtige Bereiche der Gesellschaft durchdrungen haben, ist ihre Ausweitung auf das Gefängnis nur folgerichtig. Es unterscheidet sich qualitativ nicht von anderen Arten der Formierung. Das Kerkersystem ist eine Steigerung und Kombination aller bisher praktizierten Techniken des Verhaltenszwangs.

„Das Gefängnis setzt an den ihm Anvertrauten eine Arbeit fort, die anderswo begonnen worden ist und von der gesamten Gesellschaft mit unzähligen Disziplinarmechanismen an jedem Einzelnen fortgeführt wird.“ (S. 390 f.)

Alle Disziplinareinrichtungen der Gesellschaft ergeben zusammen ein feines, den Einzelnen umspannendes Kerkernetz. Es bildet sich eine Hierarchie von spezialisierten und kompetenten Autoritäten, die aufgrund genau festgelegter Regeln einordnen und strafen. Dabei gilt nicht mehr die Verletzung allgemeiner Interessen als Kriterium für die Bestrafung, sondern ein anderer Maßstab: die Norm. Ärzte, Professoren, Pädagogen und Sozialarbeiter sind die Normalitätsrichter in einem Kerkersystem, das zur Uniformität drängt. Das Gefängnis, quasi die Krönung dieses Systems, ist so in der Gesellschaft verankert: Permanent wird ermittelt, in welchem Zustand der Häftling sich im Verhältnis zur Norm befindet. Die Normierung des Individuums mittels aller zur Verfügung stehenden Disziplinartechniken lässt schließlich einen riesigen Komplex aus Macht und Wissen entstehen. Es geht deshalb nicht darum, ob es eine Alternative zum Gefängnis gibt. Das Problem besteht vielmehr darin, dass sich dessen Machteffekte immer mehr ausweiten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Marter, Bestrafung, Disziplin, Gefängnis – so lauten die Titel der vier großen Abschnitte, in die sich Überwachen und Strafen gliedert. Jeder dieser Abschnitte umfasst vier Kapitel. Im ersten Abschnitt („Marter“) schildert Foucault die Vierteilung des Königsattentäters Damien im Jahre 1757 und stellt ihr sogleich das minutiöse Zeitreglement eines Gefängnisses für junge Straftäter um 1830 gegenüber. Damit ist der Zeitrahmen der Untersuchung umrissen. Im zweiten Abschnitt („Bestrafung“) geht es um die Reformbemühungen für humanitärere Strafen, den Wandel zur nicht öffentlichen Strafe und ihre beabsichtigte Wirkung auf das Individuum. Der dritte Abschnitt („Disziplin“) nimmt den größten Raum des Werkes ein. In ihm behandelt Foucault die Entstehung disziplinarischer Methoden, deren beabsichtigte Wirkung auf den Menschen und die Mittel zu ihrer Durchsetzung. Der letzte Abschnitt („Gefängnis“) schließlich analysiert die Machtverschiebungen, die daraus resultieren, dass sich die Richter auf Wissen verlassen müssen, das von anderen zusammengetragen wird. Außerdem analysiert Foucault hier die Parallelen und Abhängigkeiten zwischen dem Gefängnis und anderen Normierungsinstitutionen in der Gesellschaft wie Schule, Fabrik und Militär. Foucault schreibt in einer akademischen Sprache, die für Leser ohne wissenschaftlichen Hintergrund nicht immer leicht verständlich ist. In seinen besten Passagen aber fasst er die zahlreichen Mosaiksteinchen seiner Überlegungen prägnant zusammen. Scharfe, zwingende Schlussfolgerungen werden in engagiertem Ton geäußert.

Interpretationsansätze

  • Foucault beschränkt sich völlig auf die Analyse des Disziplinarsystems, ohne daraus Schlüsse zu ziehen, wie man die Institution Gefängnis ändern könnte. Es geht ihm um das Verständnis dafür, wie sich ein normierendes Netz aus überwachenden und strafenden Instanzen über die gesamte Gesellschaft ausbreiten konnte.
  • Kennzeichnend für Foucaults Arbeit ist seine Ablehnung monokausaler Erklärungen. Er will es sich (und dem Leser) nicht einfach machen, sondern das gesamte Geflecht von ökonomischen und politischen Interessen und Prozessen entwirren, das zur Entstehung des Gefängnisses und seiner spezifischen Disziplinarformen geführt hat.
  • Macht, einer der Zentralbegriffe in Foucaults Werk, ist eine nicht exakt zu bestimmende Kraft, die ihre Wirkung auf den Einzelnen entfaltet. Sie ist ein Zusammenspiel von Interessen, Institutionen und Methoden, die als „Mikrophysik der Macht“ auf den Einzelnen wirken. Dieser wiederum steht der disziplinierenden Macht nicht als bloßes Objekt gegenüber, sondern ist ein funktionierender Teil des Systems und übt selber Macht aus.
  • Erst in der letzten Fußnote benennt Foucault seine Absicht: Er will mit diesem Buch den historischen Hintergrund für weitere Untersuchungen liefern, die sich mit der Normierungsmacht in der modernen Gesellschaft befassen. Dabei bedient er sich der Methode der Dekonstruktion: Er zerlegt das vorgefundene System in seine Einzelteile und führt es auf seine Ursprünge zurück, um so das Netz der Macht freizulegen.

Historischer Hintergrund

Frankreich zwischen Revolution und Restauration

Die Einführung der Haftstrafe und des Gefängnisses zwischen 1750 und 1850 vollzog sich in Frankreich in einer Zeit tief greifenden ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Wandels. Frankreich war bis zur Revolution von 1789 eine absolute Monarchie. Auch die oberste Justizgewalt lag somit in den Händen des Königs. Nach Gutdünken konnte er Gerichtsurteile verschärfen oder den Verurteilten begnadigen. Dieses System führte zu einer Willkürherrschaft, weil der König das Gesetz zwar repräsentierte, aber dennoch über ihm stand. Zugleich war Frankreich das Musterbeispiel für einen zentralistisch regierten Staat. Mit den Manufakturen, großen, organisierten Handwerksbetrieben, etwa für Textilien und Porzellan, hatte es eine Vorstufe zu den industriellen Fabriken geschaffen. Es bildete sich ein wohlhabendes Bürgertum, das nach Teilhabe an der politischen Macht verlangte. Auf die Revolution von 1789 folgte die Erste Republik. Sie war von kurzer Dauer: Napoleon setzte sich 1799 an die Staatsspitze und krönte sich 1804 selbst zum Kaiser. Seine Eroberung weiter Teile Europas endete mit seiner endgültigen Niederlage 1815. In der folgenden Periode der Restauration regierten wieder Könige das Land. Als Charles X. das Parlament auflöste, kam es 1830 zur Julirevolution. Danach regierte der so genannte „Bürgerkönig“ Louis-Philippe. Anfangs vom Großbürgertum unterstützt, verfolgte er zunächst eine liberale, dann aber zunehmend repressive Politik. Im revolutionären Jahr 1848 wurde er gestürzt. In der Zweiten Republik wurde ein Neffe Napoleons zum Präsidenten gewählt, als Napoleon III. krönte er sich 1852 zum Kaiser. Seine Herrschaft endete im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Die industrielle Revolution verlief in Frankreich leicht gebremst, weil die Bereitschaft zu Investitionen in politisch unruhigen Zeiten nicht sehr ausgeprägt war.

Das Bedürfnis nach Kontrolle der unberechenbaren und zu Aufständen neigenden Bevölkerung wuchs mit der Labilität der politischen Verhältnisse. Zur Überwachung wurde das Land, zeitgleich mit dem Bau großer Gefängnisse, mit einem Netz von Spitzeln überzogen. Inmitten des Wechsels von Herrschaftsformen und Regierungen sorgte ein Mann für Kontinuität in der Repression: Joseph Fouché wurde schon während der Ersten Republik zur Unterdrückung royalistischer Aufstände eingesetzt und diente als Polizeiminister unter Napoleon und dem König Louis XVIII. Die umfangreiche Spionage-Tätigkeit finanzierte er hauptsächlich mit den Erträgen aus den Konzessionen für Glücksspiele. 1815 wurde Fouché abgesetzt.

Entstehung

Bereits in Die Ordnung der Dinge (1966) beschäftigte sich Foucault mit der Entstehung der Humanwissenschaften. Dieses Thema setzte er in Überwachen und Strafen fort, indem er das Sammeln des Wissens über ein Individuum als einen wesentlichen Aspekt des Strafvollzugs darstellt. Zugleich ist die Entstehung dieses Werks im Zusammenhang mit dem politischen Engagement Foucaults zu verstehen. 1971 war er an der Gründung der „Gruppe zur Information über Gefängnisse“ beteiligt, die Insassen französischer Gefängnisse die Gelegenheit geben wollte, ihre Situation öffentlich darzustellen; dies vor dem Hintergrund zahlreicher Häftlingsrevolten. Gemeinsam mit seinem Lebensgefährten, dem Soziologieprofessor Daniel Defert, beteiligte sich Foucault an Demonstrationen gegen die Praxis des französischen Strafvollzugs. Auch mit Überwachen und Strafen folgte Foucault seinem Motto: „In meiner Arbeit versuche ich, die versteinerten Machtverhältnisse zum Tanzen zu bringen.“

Wirkungsgeschichte

Auf die Organisation der Gefängnisse oder die Haftbedingungen hatte Überwachen und Strafen wohl kaum einen nennenswerten Einfluss. Der Autor lässt in seinem Werk allerdings auch keinen Zweifel daran, dass er sich diesbezüglich keinerlei Hoffnungen hingegeben hat. Zudem hat er aus seinen Thesen auch gar keine Vorschläge für Änderungen des Strafvollzugs abgeleitet. Die Beschäftigung mit Foucaults Werken ist gleichwohl anhaltend. Unmengen von Sekundärliteratur sind über ihn und seine Schriften erschienen, als Seminarthema an Universitäten ist seine Philosophie ein Dauerbrenner. In der Foucault-Rezeption wurde mehrfach die Feststellung des Autors hervorgehoben, dass sich die Überwachungspraktiken nicht auf die Gefängnisse beschränken, sondern in der gesamten Gesellschaft, in Fabriken, Schulen und Kasernen, wirksam sind. Die Gesellschaft schafft sich die Subjekte, die sie zu ihren Zwecken benötigt. Von marxistischen Denkern wurde kritisiert, Foucault begreife Macht als ein nicht an die ökonomischen Verhältnisse gebundenes, ahistorisches Beziehungsgeflecht und schließe damit Veränderung aus. Starken Widerhall finden die Überlegungen Foucaults zum Verhältnis von Subjekt und Macht bis heute in den Humanwissenschaften wie Psychologie und Soziologie. Foucault gilt zusammen mit Jean-François Lyotard und Jacques Derrida als Begründer der Postmoderne. Die Postmoderne zielt darauf ab, bestehende Wissensstrukturen aufzubrechen, indem sie ganz neue Zusammenhänge aufdeckt oder konstruiert.

Über den Autor

Michel Foucault wird am 15. Oktober 1926 in Poitiers geboren. Dort besucht er zwischen 1940 und 1945 das jesuitische Gymnasium. Ab 1945 lebt er in Paris, wo er an der Eliteuniversität École normale supérieure Philosophie und Psychologie studiert. Nach Abschlüssen in diesen Fächern lehrt er dort von 1950 bis 1955 Psychologie und ist zugleich zeitweise Assistent an der Universität von Lille. Er nimmt Lehrtätigkeiten in Schweden und Warschau an und ist 1959/60 als Direktor des Institut français in Hamburg tätig. Nietzsche, Marx, Freud und Heidegger prägen Foucaults Denken. In seiner 1961 veröffentlichten Dissertation Wahnsinn und Gesellschaft (Folie et déraison) untersucht er, wie der Wahnsinn im Verlauf der Geschichte mittels definitorischer Macht von der Vernunft unterschieden wird. Machtstrukturen, die Rolle des Wissens bei ihrer Herausbildung und ihre Beziehungen zum Individuum werden zu den zentralen Themen seines Schaffens. In Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses, 1966) beschäftigt er sich mit der Entstehung der Humanwissenschaften. Seine wissenschaftliche Karriere führt ihn über die Universität von Clermont-Ferrand und eine zweijährige Gastprofessur an der Universität in Tunis zurück nach Paris, wo er ab 1968 überwiegend lebt. Ab 1970 hat er den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France inne. Foucaults Denkmethode ist am ehesten der philosophischen Richtung des Poststrukturalismus (und damit der Postmoderne) zuzuordnen. 1963 beginnt Foucault mit Die Geburt der Klinik (Naissance de la clinique) die Entstehung von Institutionen zu erforschen, was er 1975 mit Überwachen und Strafen (Surveiller et punir) fortsetzt. In seinem zwischen 1976 und 1984 in drei Bänden veröffentlichten letzten großen Werk Sexualität und Wahrheit (Histoire de la sexualité) analysiert er die Sexualität aus psychiatrischer, rechtlicher und moralischer Perspektive. Als einer der einflussreichsten Philosophen der Neuzeit stirbt Foucault am 25. Juni 1984 in Paris an den Folgen von Aids.

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