Sherwood Anderson
Winesburg, Ohio
Suhrkamp, 2016
Was ist drin?
Die Trostlosigkeit amerikanischer Kleinstädte meisterhaft in Szene gesetzt.
- Roman
- Moderne
Worum es geht
Der Ort der zerplatzten Träume Winesburg, Ohio ist wie ein zerbrochener Spiegel. Die Scherben liegen lose nebeneinander. Was sie reflektieren, ist das Scheitern des amerikanischen Traumes: einsame, verzweifelte Figuren, unfähig zu lieben oder auch nur miteinander zu kommunizieren. Gemeinschaft gibt es nicht mehr, jeder ist mit seinem Unglück allein. Das Streben nach Glück, der uramerikanische „pursuit of happiness“, zerschellt an der Ichbezogenheit des modernen Menschen – und zwar nicht nur in der Großstadt, sondern ganz besonders auf dem Land. Was dem Menschen bleibt, ist die Flucht. Ob sie gelingt, hängt davon ab, was man dabei mitnimmt. Sherwood Anderson und seinem Helden George Willard gelingt diese Flucht – mit Geschichten im Gepäck und einem neuen Traum als Ziel.
Take-aways
- Winesburg, Ohio ist einer der wichtigsten Klassiker der amerikanischen Moderne.
- Inhalt: In der Kleinstadt Winesburg wird der junge Redakteur George Willard mit den Lebensgeschichten der Bewohner, ihrer Einsamkeit, ihren Träumen, unerfüllten Wünschen und Begierden konfrontiert. Während ihn alle für die zentrale Figur des Ortes halten, entfremdet er sich immer mehr, wird erwachsen und verlässt schließlich die Stadt.
- Das Buch besteht aus 22 Einzelgeschichten, die nicht chronologisch sortiert sind. Einige erschienen vorab in Zeitschriften.
- Die Texte handeln vor allem von der Einsamkeit des modernen Menschen und seiner Unfähigkeit, sich verständlich zu machen.
- Zentrales Motiv und Rahmen des Erzählreigens ist der Traum.
- In den Geschichten tauchen mehr als 100 namentlich genannte Figuren auf.
- Andersons erster Verleger lehnte die Veröffentlichung der „zu düsteren“ Storys ab.
- Das 1919 erschienene Buch wurde in 20 Sprachen übersetzt und bis heute millionenfach verkauft.
- Autoren wie William Faulkner oder Ernest Hemingway beriefen sich auf Winesburg, Ohio.
- Zitat: „Der junge Mann, der seinen Heimatort verließ, um sich dem Abenteuer des Lebens zu stellen, überließ sich seinen Gedanken, aber es handelte sich nicht um besonders großartige oder dramatische Gedanken.“
Zusammenfassung
Menschen in Winesburg
Dem Autor des Buches „Über das Groteske“ erscheinen im Traum oft sämtliche Menschen, die er je getroffen hat. Alle sind zu grotesken Figuren geworden. Einige von ihnen haben den Schriftsteller zum Schreiben animiert, und so entstand ein Buch, das nie veröffentlicht wurde. Dessen zentraler Gedanke: Die Menschen haben vage Ideen zu Wahrheiten verdichtet. Jeder, der sich eine davon zu eigen machte, wurde zur grotesken Figur.
Wing Biddlebaum ist ein ängstlicher Bewohner der Kleinstadt Winesburg. Er fühlt sich nicht zugehörig und hat ausschließlich mit George Willard Kontakt, dem jungen Reporter des Winesburg Eagle. Den Namen „Wing“ bekam Biddlebaum wegen seiner ständig nervösen Hände. George Willard ahnt, dass es mit den Händen etwas auf sich haben muss – und er hat Recht: Biddlebaum war einst ein beliebter Lehrer in einem anderen Ort, bis ein „halbblöder Schuljunge“, der in ihn verliebt war, anzügliche Fantasien als Wahrheit präsentierte. Der Lehrer wurde zu Unrecht beschuldigt, fast gelyncht und fortgejagt. Seitdem lebt er unter falschem Namen in Winesburg und gibt seinen Händen die Schuld an seinem Unglück.
„Im Bett hatte der Schriftsteller einen Traum, der alles andere als ein Traum war. Sobald er anfing, schläfrig zu werden, doch immer noch bei vollem Bewusstsein, begannen Gestalten vor seinen Augen zu erscheinen. (…) Sie waren samt und sonders groteske Figuren.“ (S. 20)
Doktor Reefy, der frühere Arzt von Winesburg, lebt zurückgezogen in seiner ehemaligen Praxis. Er hat die Angewohnheit, Einfälle auf Zettel zu notieren, diese zu Papierkugeln zu knüllen und in seine Taschen zu stopfen. Früher war er verheiratet mit einer jungen Frau, die er in seiner Praxis kennengelernt hatte. Sie hatte seine Hilfe wegen einer ungewollten Schwangerschaft gesucht. Die Schwangerschaft „erledigte sich durch Krankheit“, und die Frau blieb bei Doktor Reefy. Sie heiratete ihn und starb im folgenden Jahr. In der kurzen Zeit ihrer Ehe las der Doktor seiner Frau die vielen Ideen auf seinen Papierkügelchen vor.
„In Jesse Bentley gärte es; mit hängendem Kopf ging er unter den Bäumen dahin. (…) Dem alten Mann war die Idee gekommen, dass er Gott jetzt dazu bringen könne, sich ihm durch ein Wort oder ein Zeichen vom Himmel zu offenbaren (…)“ (S. 77)
Elizabeth Willard, die Mutter des jungen Redakteurs George, ist eine kranke, enttäuschte und „geisterhafte“ Frau, die mit George und ihrem Mann Tom in einem von ihrem Vater geerbten Hotel lebt. Die Träume ihrer Jugend sind zerplatzt, und sie hofft nur noch darauf, dass ihr Sohn das Schicksal ihrer farb- und sinnlosen Existenz nicht wiederholen muss. Eines Tages belauscht sie ein Gespräch zwischen George und Tom. Der Vater ermahnt den Sohn, mit dem Träumen aufzuhören, und erteilt ihm joviale Ratschläge. Elizabeth ist wütend. Sie hasst ihren Mann schon lange, jetzt verdichtet sich der Hass zur Mordfantasie. Sie erinnert sich an all die Pläne und Träume aus ihrer Zeit vor Tom Willard, an Leidenschaften und Enttäuschungen. Dann zieht sie sich schön an und frisiert sich, um ihren Mann in der Hotelhalle vor allen Gästen mit einer Schere zu töten. Doch dann verlässt sie die kurzzeitig verspürte Kraft. George kommt ins Zimmer seiner Mutter und teilt ihr mit, dass er den Ort verlassen werde. Er müsse fort. Das Gespräch mit seinem Vater habe ihm die Notwendigkeit klar gemacht, Winesburg verlassen zu müssen. Elizabeth ist hocherfreut, findet aber keine Worte, um dies auszudrücken.
Doktor Parcival ist ein verwahrloster und geschwätziger Mann, der seit fünf Jahren in Winesburg wohnt. Jeden Tag, wenn der Chef der Lokalzeitung in die Kneipe geht, sucht Parcival George in der Redaktion auf und erzählt ihm erfundene oder wahre Details aus seinem Leben. George ist fasziniert von diesen Geschichten. Parcival warnt den jungen Reporter vor den Menschen. George solle sich Verachtung für sie angewöhnen, um überlegen zu sein – so wie Parcivals Bruder seine eigene Familie verachtet und doch für sie gesorgt habe. Eines Tages geschieht auf der Hauptstraße von Winesburg ein Unfall. Ein Zeuge benachrichtigt Doktor Parcival, doch dieser weigert sich, zu kommen. Als George kurz darauf bei Parcival erscheint, ist der Doktor in Panik und weiß gewiss: Man wird ihn für seine Weigerung lynchen. Doch in Wirklichkeit hat niemand seine Weigerung bemerkt. Der Doktor ist dennoch überzeugt, dass man ihn eines Tages kreuzigen wird. Er bittet George um Hilfe. Nur dieser könne das Buch, das er, Parcival, schreibe, vollenden. Kerngedanke des Buches: Alle Menschen sind Christus und alle sind gekreuzigt.
„Die Vorstellung, dass George Willard eines Tages Schriftsteller werden würde, hatte ihm eine Art Ausnahmestellung in Winesburg verschafft.“ (S. 126)
Jesse Bentley besitzt eine große Farm bei Winesburg. Einst ausgezogen, um Geistlicher zu werden, kehrte er nach dem Tod seines Vaters und seiner Brüder im Bürgerkrieg zurück, um die Farm zu übernehmen. Er heiratete eine Frau aus der Großstadt, die unter der harten Landarbeit immer mehr verkümmerte. Als streng religiöser Mensch hält Jesse sich für auserwählt und macht Pläne, die ganze Region in ein neues Reich Gottes zu verwandeln. Als er eines Nachts – seine Frau ist hochschwanger – durch die Felder rennt, bittet er Gott um einen Sohn. Seine Frau bringt aber eine Tochter zur Welt und stirbt dabei. Louise Bentley, Jesses Tochter, ist ein mürrisches Mädchen. Auch als sie später einen Bankier heiratet und einen Sohn zur Welt bringt, ändert sich nichts an ihrem Wesen. David Hardy, Louises Sohn, muss in seiner Kindheit erleben, wie seine Mutter ihre Mitmenschen terrorisiert. Nur auf der Farm seines Großvaters Jesse ist er glücklich. Eines Tages beschließt David, aus seinem Elternhaus zu fliehen. Er verläuft sich, wird aber gefunden. Erst jetzt erlebt der Junge seine Mutter zum ersten Mal als liebevoll. Das hält allerdings nicht lange an. Schon bald kommt Jesse, um seinen Enkel mitzunehmen. Louise lenkt ein und der Junge wächst künftig bei seinem Großvater auf.
„Tandy ist die Eigenschaft, stark genug zu sein, um geliebt zu werden. Es ist das, was Männer bei Frauen suchen und was sie nicht bekommen.“ (der Fremdling, S. 138)
Auf Jesses Farm ändert die Anwesenheit des Jungen alles: Jesse selbst wird vom Tyrannen zum umgänglichen Menschen, und seine Schwestern kümmern sich liebevoll um David, der mehr und mehr aufblüht. Eines Tages nimmt Jesse ihn mit auf eine Fahrt und hält am Waldrand. Dort verlangt er in frommem Wahn ein Zeichen Gottes. David flieht verstört und Jesse hadert mit Gott. Die Situation beruhigt sich. Doch als David 15 Jahre alt ist, ereignet sich etwas, das ihn zur Flucht aus Winesburg treibt. Jesse fängt ein Lamm und fährt mit dem Tier und seinem Enkel erneut zu der Stelle am Waldrand. Bevor er das Opferritual ausführen kann, befreit David das Lamm und flieht. Als er Jesse mit dem Messer hinter sich herkommen sieht, schleudert er ihm einen Stein an die Stirn. In der Gewissheit, den Großvater getötet zu haben, verlässt er Winesburg. Jesse überlebt und muss beschämt erkennen, dass er zu viel von Gott verlangt hat.
Alice Hindman hat als Sechzehnjährige ein Verhältnis mit einem jungen Mann, der Winesburg bald auf der Suche nach Arbeit verlässt – nicht ohne Alice zu versprechen, sie nachzuholen. Alice wartet viele Jahre vergebens. Eines Nachts läuft sie aufgewühlt und voller Sehnsucht nackt in den Regen hinaus und einem Mann hinterher. Als sie diesen anruft, entpuppt er sich als schwerhörig. Alice wird sich schlagartig ihrer Lage bewusst, versteckt sich voller Scham und resigniert schließlich.
„Er war ein Schriftsteller, der mit Gestalten seines Gehirns herumhantiert. Ein winziger blauäugiger König in einem New Yorker Sechs-Dollar-Zimmer mit Blick auf Washington Square.“ (über Enoch Robinson, S. 164)
Wash Williams, der hässliche Telegrafist von Winesburg, erzählt George Willard eines Tages seine Lebensgeschichte und den Grund für seinen Frauenhass: Als junger Mann war er verliebt und heiratete. Doch seine Frau betrog ihn. Als er dahinterkam, schickte er sie zu ihrer Mutter zurück. Diese bat ihn zu sich. Wash, bereit, seiner Frau zu vergeben, wartete zwei Stunden, bis diese zu ihm ins Zimmer kam – nackt. Das war ein Plan der Schwiegermutter. Wash schlug mit einem Stuhl auf diese ein, bis die Nachbarn kamen. Er bedauert, sie nun nicht mehr töten zu können, da sie kurz darauf an einem Fieber gestorben sei.
„Ich will nicht zu denen gehören, die als verschroben gelten, zu denen, die man anglotzt (…). Ich möchte wie alle Leute sein. Ich werde das diesem George Willard schon zeigen. Er soll es merken. Ich werde es ihm geben.“ (Elmer Cowley, S. 187)
Seth Richmond ist ein Freund von George Willard. Als Kind ist er ein ruhiger, kluger Junge. Wenn seine Mutter ihn tadelt, hält er ihrem Blick stand und verunsichert sie damit. Auch nach einer jugendlichen Sauftour mit zwei anderen Jungen kann die Mutter ihn nicht maßregeln und versucht es auch gar nicht erst. Jetzt sitzt Seth in Georges Zimmer und hört zu, wie dieser ihm ankündigt, sich in Helen White verlieben zu wollen. Seth solle Helen das mitteilen, bittet George, da der sie seit seiner Kindheit kennt. Seth geht unter Protest und fasst den Entschluss, Winesburg zu verlassen. Sein Weg führt ihn schließlich trotzdem zu Helen. Er teilt Helen seinen Entschluss mit, und sie bewundert ihn dafür. Als die beiden sich verabschiedet haben, meint Seth, dass er niemals geliebt werden wird. Das ist etwas für Leute wie George.
Winesburgs bekanntester Agnostiker Tom Hard kümmert sich kaum um seine fünfjährige Tochter. Als ein Fremder in den Ort kommt und sich mit Tom anfreundet, erhält dessen Tochter einen neuen Namen. Denn der Fremde – ein Trinker, der in Winesburg seine Sucht bekämpfen will – bezeichnet in einem Gespräch mit Tom die Eigenschaft, stark genug zu sein, um geliebt zu werden, als „Tandy“. Das Kind will von da an Tandy heißen.
„Jedes Mal, wenn er die Augen aufhob und die Schönheit der Landschaft in dem schwindenden Licht sah, drängte es ihn, irgendetwas zu tun, was er noch nie getan hatte, zu schreien oder aufzuheulen oder seine Frau mit Fäusten zu bearbeiten (…)“ (über Ray Pearson, S. 200)
Reverend Curtis Hartman ist Pastor in Winesburg. Er ist beliebt, doch seinen Predigten fehlt es an Inspiration. Die erhalten sie erst, als Hartman eines Tages im Haus gegenüber dem Kirchturm – in dem er die Predigten verfasst – die Lehrerin Kate Swift rauchend und lesend auf dem Bett beobachtet. Der Reverend sucht nun immer häufiger seine Schreibstube im Kirchturm auf und beschließt eines Abends im Winter, sich der Sünde hinzugeben. Kate Swift kommt lange nicht in ihr Zimmer, Hartman friert bitterlich. Dann taucht sie doch auf – nackt und verzweifelt wirft sie sich aufs Bett, danach betet sie. Hartman ist erlöst. Er rennt durch Winesburg zu George Willard in die Redaktion und bezeichnet Kate als Instrument Gottes. Er selbst spüre die Kraft Gottes in sich. Etwas früher am selben Abend macht sich Kate Swift auf den Weg in die Redaktion, um mit George zu sprechen. Obwohl sie sich in der Schule eher spröde gibt, ist sie von George, der Schriftsteller werden will, begeistert. In der Redaktion hat sie einen schwachen Moment und schmiegt sich leidenschaftlich an ihn. Im nächsten Moment besinnt sie sich und läuft davon. Während George völlig aufgewühlt in der Redaktion bleibt, stolpert Hartman herein. George glaubt, die Stadt sei verrückt geworden. Noch im Bett versucht er, zu begreifen, was passiert ist, doch es gelingt ihm nicht.
„Es wurde Nacht; Pferde wieherten, die Verkäufer in den Geschäften liefen wie verrückt umher, Kinder gingen verloren und heulten wie am Spieß – kurz, eine amerikanische Kleinstadt war mit der so entsetzlich schweren Aufgabe beschäftigt, sich zu amüsieren.“ (S. 228)
Enoch Robinson verlässt Winesburg mit 21, um in New York Maler zu werden. Er kommt jedoch in der dortigen Künstlerszene nicht zurecht und zieht sich immer öfter in sein Zimmer zurück, das seine Fantasie mit den Geistern der Vergangenheit füllt. Er wird schließlich Werbegrafiker, heiratet und hat zwei Kinder. Eines Tages stirbt sein Vater in Winesburg und vererbt ihm 8000 Dollar. Enoch verlässt daraufhin seine Familie und zieht in sein Zimmer zurück. Als alter Mann erzählt er George Willard, warum er schließlich nach Winesburg zurückgekehrt ist: Eines Tages besuchte ihn eine Nachbarin in seinem Zimmer und drang in seine Fantasiewelt ein. Er ließ dies eine Weile zu, doch schließlich hielt er es nicht mehr aus, beschimpfte und verjagte die Frau. Alle Fantasiegestalten verließen ihn mit ihr, und Enoch blieb allein zurück.
Belle Carpenter liebt den grobschlächtigen Barkeeper Ed Handby. Handby ist eifersüchtig auf George Willard, der hin und wieder mit Belle ausgeht. Eines Abends geht Belle mit George spazieren – wohlwissend, dass Ed ihnen folgt. Gerade als George Belle geküsst hat, taucht Ed auf und es kommt zu einem Handgemenge. Ed wirft den hilflosen George ins Gebüsch und verschwindet mit Belle. George ist beschämt.
„Mann oder Knabe, Frau oder Mädchen, für einen kleinen Augenblick war ihnen das zuteil geworden, was Reifsein in der modernen Welt für Männer und Frauen erträglich macht.“ (über George und Helen, S. 238)
Elmer Cowley lebt mit seinem Vater seit einem Jahr in Winesburg. Die beiden betreiben einen Laden mit Kuriositäten. Elmer glaubt, dass ganz Winesburg ihn für verschroben hält. Nach einem Streit mit seinem Vater rennt er weg und gerät auf die Farm seiner Jugend zurück. Dort klagt er einem geistig Zurückgebliebenen sein Leid und beschließt, George Willard, den er als Repräsentanten von Winesburg sieht, stellvertretend für die Stadt einen Denkzettel zu verpassen. Zurück in Winesburg holt er George aus der Redaktion, um ihm die Meinung zu sagen. Doch er bekommt die Worte nicht heraus und lässt den Redakteur stehen. Später bestiehlt Elmer seinen Vater und will die Stadt verlassen. Am Bahnhof trifft er noch einmal auf George, gibt ihm das gestohlene Geld, schlägt ihn unerwartet nieder und springt in den Zug. Er ist stolz, George bewiesen zu haben, dass er nicht verschroben ist.
„Der junge Mann, der seinen Heimatort verließ, um sich dem Abenteuer des Lebens zu stellen, überließ sich seinen Gedanken, aber es handelte sich nicht um besonders großartige oder dramatische Gedanken.“ (über George, S. 241)
Ein junger Feldarbeiter und Frauenheld bittet seinen älteren Kollegen Ray Pearson um Rat: Soll er die junge Frau, die von ihm schwanger ist, heiraten oder nicht? Ray hadert mit seiner eigenen Situation als sechsfacher Vater, der durch eine ungewollte Schwangerschaft in einer frustrierenden Ehe gelandet ist. Er will den Jungen vor diesem Schicksal warnen, doch seine Stimme versagt. Abends entschließt sich Ray, den Jungen abzufangen, bevor dieser sich entscheidet. Er rennt in die Stadt, um seine Warnung auszusprechen, doch als er bei ihm ankommt, ist dieser bereits entschlossen, zu heiraten. Ray widerspricht nicht. Was immer er ihm hätte raten können, es wäre doch eine Lüge gewesen.
An einem Abend, an dem George mit Helen verabredet ist, stirbt seine Mutter. George, erst verärgert über die Koinzidenz, dann zutiefst beschämt, beschließt, Winesburg zu verlassen. Auf dem Jahrmarkt von Winesburg lässt George seine Jugend Revue passieren. Ernüchterung macht sich breit. Helen White, die in den Collegeferien in Winesburg weilt, fühlt sich ähnlich. Die beiden begegnen sich im Umfeld der Feierlichkeiten, verbringen den Abend schweigend miteinander und geraten spielerisch in Neckereien zwischen Erwachsensein und Kindheit. Im folgenden April verlässt George Winesburg mit dem Zug. Helen, die ihn verabschieden will, kommt zu spät. Ausgestattet mit etwas Geld und jovialen Ratschlägen seines Vaters fährt er los und lässt Winesburg hinter sich.
Zum Text
Aufbau und Stil
Winesburg, Ohio ist ein Roman in 22 Einzelerzählungen, von denen eine in vier Teile gegliedert ist. Die Texte sind unterschiedlich lang, sie umfassen zwischen 4 und 40 Seiten. Alle Erzählungen sind in der dritten Person und im Präteritum verfasst, der Erzähler berichtet figurennah und allwissend. In einigen Texten finden sich Erzählerkommentare zum Geschehen und auch allgemeiner Natur. Als konkrete Person wird der Erzähler nur im Prolog sichtbar. Die späteren Kommentare verwenden zumeist ein unpersönliches „man“. Die erzählte Zeit umfasst durch zahlreiche Rückschauen mehrere Jahrzehnte, wobei die einzelnen Erzählungen nicht chronologisch geordnet sind. Die Rückschauen werden in den meisten Fällen an die Erzählgegenwart gekoppelt, in der der Hauptcharakter George Willard als etwa 18-Jähriger in Winesburg lebt. Die Texte enthalten häufig Dialoge und Monologe. Die Anzahl der namentlich genannten Figuren liegt bei über 100. Die meisten haben jedoch nur einen einzigen Auftritt. Stilistisch sind die Texte einfach gestaltet, der Einsatz von Alltagssprache verweist auf die Praxis der mündlichen Überlieferung. Der Erzählton ist schlicht bis spröde.
Interpretationsansätze
- Die Struktur des Textes als Vielzahl nur locker miteinander verzahnter Skizzen versinnbildlicht die existenzielle Einsamkeit der Menschen in der Kleinstadt.
- Der Traum des Autors im Prolog (dem alle folgenden Geschichten entstammen) ist ein Gegenentwurf zum amerikanischen Traum, eine Demaskierung der Vorstellung vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Der alte Autor im Prolog ist möglicherweise identisch mit George Willard, der seine Jugend im Traum halluziniert und niederschreibt. So öffnet und schließt sich der Erzählungsreigen mit der Hauptfigur.
- Die Unmöglichkeit einer funktionierenden Kommunikation zwischen den Menschen (etwa bei den Figuren, die keine Worte finden, um sich auszudrücken) verdeutlicht die Entfremdung des modernen Menschen. Dies ist in der Szenerie der Kleinstadt noch weit eindrucksvoller als in der anonymen Großstadt: Der Gemeinde ist endgültig ihre Gemeinschaft verloren gegangen.
- Der Schreibende agiert als Schicksalschronist: George, der künftige Schriftsteller, wird zur Projektionsfläche für alle, die ihre Lebensgeschichte nicht ungehört verklingen lassen wollen. Die Aufgabe des Chronisten von Winesburg ist es, Schicksale zu sammeln. Das Buch selbst ist eine solche Sammlung.
- Die Präsentation von generationsübergreifenden Geschichten in einem Erzählstrang orientiert sich an der Wirkweise von Träumen. Auch dort passiert vieles nicht chronologisch, sondern oft gleichzeitig. Damit wird die zentrale Bedeutung des Traumes für die Konstruktion des Buches noch mehr hervorgehoben.
- Wahrheit ist die individuelle Konstruktion des Einzelnen – dieses wiederkehrende Motiv betont die Isolation des Menschen. Jeder konstruiert seine eigene Wahrheit, es gibt keinen Konsens mehr.
- Das wiederkehrende Motiv der Hände zeigt vor allem deren Nutzlosigkeit. Die Hände der verschiedenen Charaktere sind mal nervös, mal riesig, mal blutrot, mal unerwartet feinfühlig – doch sie alle können das mögliche Glück nicht festhalten. Die Hände sind ein Symbol für Machtlosigkeit.
Historischer Hintergrund
Die USA um 1900
Die USA um 1900 waren geprägt durch technischen Fortschritt, massive Einwanderung und Landflucht. In den Jahren nach dem amerikanischen Bürgerkrieg war das Land zur wirtschaftlichen Weltmacht aufgestiegen. Rund ein Drittel aller weltweit produzierten Industriegüter kam um die Jahrhundertwende aus den USA. 1893 demonstrierten die USA ihren globalen technologischen Führungsanspruch auf der World’s Columbian Exposition in Chicago. 27 Millionen Besucher bestaunten Erfindungen und technische Neuerungen. Parallel zur Industrialisierung zogen immer mehr Menschen vom Land in die Stadt, um in Fabriken ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In den Volkszählungen von 1890 bis 1910 verringerte sich der Anteil der Landbevölkerung von 64,9 auf 54,4 Prozent. 1920 lebten schließlich erstmals mehr Amerikaner in den Städten als auf dem Land. Diese Entwicklungen hatten Auswirkungen auf beide Seiten: auf die wachsenden Städte ebenso wie auf die schrumpfenden Landgemeinden. Allein die Stadt Chicago wuchs von 1870 bis 1900 von etwa 300 000 Einwohnern auf 1,7 Millionen. Die Folge: Gettobildung und soziale Spannungen.
Auf der anderen Seite erlebte die Landwirtschaft – vor allem im fruchtbaren mittleren Westen der USA – einen Boom. Die Nachfrage nach Lebensmitteln stieg durch die Einwanderung in den Städten massiv an. Zudem ließen sich mit der Einführung neuer Technologien und dank steter Vergrößerung der bewirtschafteten Flächen die Erträge des Landbaus deutlich erhöhen. Für viele Farmer wurden die Jahre um 1900 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs trotz der anhaltenden Landflucht ein goldenes Zeitalter.
Entstehung
Sherwood Anderson war um 1913 Mitglied der „Chicago Renaissance“, einer Gruppe von Schriftstellern und Schriftstellerinnen um Theodore Dreiser, Edgar Lee Masters und Carl Sandburg. Er veröffentlichte kleinere literarische Texte und programmatische Essays in verschiedenen Zeitschriften, bevor er mit dem Schreiben von Romanen begann. Winesburg, Ohio war sein dritter Roman. Für den namensgebenden, fiktiven Ort stand Andersons zweite Heimatstadt Clyde in Ohio Pate. Anderson selbst gab als Einflüsse Gertrude Steins Drei Leben und Edgar Lee Mastersʼ Spoon River Anthology an. Auch Mark Twain mit seinen realistischen Darstellungen des amerikanischen Kleinstadtlebens kann als Einfluss gelten.
Einige der Erzählungen aus Winesburg, Ohio erschienen vorab in verschiedenen Zeitschriften zwischen Februar 1916 und Dezember 1918 und erregten nicht nur im Kreise der „Chicago Renaissance“ Aufsehen. Für eine Buchpublikation bei Andersons bisherigem Verleger reichte das allerdings nicht. Dieser befand die Storys aus der Kleinstadt im mittleren Westen für „zu düster“. Erst der New Yorker Herausgeber Ben Huebsch, der sich unter anderem 1916 mit der amerikanischen Erstveröffentlichung von James Joyces Dubliners einen Namen gemacht hatte, erkannte das Potenzial des Erzählreigens. Von Huebsch stammt auch der Titel Winesburg, Ohio. Anderson selbst hatte den Titel des Prologs („Das Buch über das Groteske“) als Buchtitel vorgesehen. Winesburg, Ohio erschien im Mai 1919 bei Huebsch in New York.
Wirkungsgeschichte
Das unmittelbare Echo auf den Roman fiel unterschiedlich aus. Einige Kritiker bemängelten – wie Andersons bisheriger Verleger – die düstere Stimmung vieler Geschichten und die nüchterne Sprache. Vor allem Schriftstellerkollegen lobten dagegen genau diese Kombination: die ungeschönte Darstellung der Verlorenheit des Menschen in der Moderne. Das Buch verkaufte sich zunächst mäßig, doch im Lauf der Jahre sorgten Übersetzungen in 20 Sprachen für eine weltweite Millionenauflage. Zu den frühesten, unmittelbar von Winesburg, Ohio beeinflussten Werken lassen sich Ernest Hemingways In unserer Zeit (1924) oder verschiedene Texte William Faulkners zählen. Im Ausland tauchen Einflüsse bei so unterschiedlichen Autoren wie Virginia Woolf, Maxim Gorki oder Bertolt Brecht auf.
Winesburg, Ohio gilt heute als einer der wichtigsten Klassiker der amerikanischen Moderne. Die von Anderson popularisierte Form der Nebeneinanderstellung einzelner Erzählungen, die zusammen das Panorama eines Ortes entwerfen, führt bis zu Dylan Thomas’ berühmtem Hörspiel Unter dem Milchwald (1954). Zu den Bewunderern des Buches gehörten Ray Bradbury, Amos Oz oder Henry Miller. In der neueren Literatur sind zum Beispiel Ingo Schulzes Simple Storys (1998) ein Echo auf Winesburg, Ohio. Zahlreiche Verweise in Büchern, Filmen und Fernsehserien zeigen noch heute den anhaltenden Einfluss von Andersons Buch auf die zeitgenössische Kultur. So spielt etwa Philip Roths Roman Empörung (2008) zum Teil in Winesburg. Daniel Nearings Film Chicago Heights (2010) basiert auf Winesburg, Ohio. Es gibt zudem eine Adaption fürs Fernsehen sowie eine Theaterfassung von 1934 aus Andersons Feder.
Über den Autor
Sherwood Anderson wird am 13. September 1876 als drittes von fünf Kindern in Camden, Ohio in den USA geboren. 1884 zieht die Familie nach Clyde um. Dort schlägt sich der Junge mit Gelegenheitsjobs durch. Nach dem Tod seiner Mutter 1895 geht Anderson nach Chicago und wird Fabrikarbeiter, später Texter in einer Werbeagentur. 1904 heiratet er, zieht nach Cleveland und betreibt dort eine Versandfirma für Farben. 1912 erleidet er einen Zusammenbruch und verlässt seine Frau und drei Kinder, um nach Chicago zurückzukehren. Dort nimmt er seinen Job als Werbetexter wieder auf, schließt sich der Autorengruppe „Chicago Renaissance“ an und veröffentlicht erste literarische Texte in Zeitschriften. 1916 lässt er sich scheiden und heiratet erneut. Im selben Jahr erscheint der erste Roman Windy McPherson’s Son, 1917 mit Marching Men der zweite. Nach einem Gedichtband erscheint 1919 sein erfolgreichstes Buch, die Erzählungssammlung Winesburg, Ohio. Ein weiterer Roman erscheint, bevor Anderson und seine Frau nach Paris reisen, wo der Autor Gertrude Stein und James Joyce kennenlernt. Nach Scheidung und erneuter Heirat lässt er sich in Virginia nieder. Hier kauft er sich von den Erlösen seiner Buchverkäufe eine Farm und zwei Wochenzeitungen. Nach zahlreichen Reisen und weiteren Büchern heiratet er 1933 ein viertes Mal. Durch seine neue, sozial engagierte Frau ändert sich sein Fokus. Er verfasst nun sozialkritische Beiträge für die Zeitschrift Today. 1936 erscheint mit Kit Brendon Andersons siebter und letzter Roman, 1937 wird eine Sammlung mit Theateradaptionen unter dem Titel Plays: Winesburg and Others veröffentlicht. Sherwood Anderson stirbt am 8. März 1941 in Panama an den Folgen einer Magenverletzung, die er sich durch einen Holzspieß im Martini zugezogen hatte.
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