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Zur Chronik von Grieshuus

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Zur Chronik von Grieshuus

C. H. Beck,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein Höhepunkt in Theodor Storms Schaffen: Liebe, Jähzorn und Schuld in der norddeutschen Heide.


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Realismus

Worum es geht

Liebe, Jähzorn und Schuld

Die Sorgen und Nöte alter Adelsgeschlechter um die Weitergabe ihrer Macht sind nicht gerade das brisanteste Thema unserer Zeit. Gleiches gilt für die nicht standesgemäße Liebe. Warum also ist Storms Novelle dennoch so bewegend? Weil es darin weniger um historisch veränderliche Normen geht als um ewige Gesetze, die wiederholt über Glück und Unglück von Generationen bestimmen. Das Unheimliche dieser Vorgänge zeigt sich im Aberglauben an eine Sage, die sich in der Novelle gegen jede Vernunft bewahrheitet: Lange nach dem Mord an seinem Bruder sucht Hinrich unerkannt die Nähe seines Enkels. Er selbst hat seinen Jähzorn besiegt – nun versucht er, seinen Schützling und einzigen Nachkommen von der von ihm verursachten Erblast zu befreien. Dass am Ende doch beide auf fast unerklärliche Weise den Tod finden, ist Ausdruck einer tiefen Skepsis Storms gegenüber der modernen Vorstellung von selbstbestimmten Individuen. Nur in der Liebe scheint der Mensch zeitweise seiner existenziellen Ohnmacht enthoben.

Take-aways

  • Zur Chronik von Grieshuus ist eine Novelle aus Theodor Storms Spätwerk, in der seine lang gereifte Erzählkunst einen ihrer Höhepunkte erreichte.
  • Inhalt: Durch die Liebe zu einer Nichtadligen büßt Junker Hinrich sein Erbe ein. Mit einem bösartigen Schachzug erreicht sein Zwillingsbruder den Tod von Hinrichs Frau – die zuvor aber eine gemeinsame Tochter zur Welt bringt. Vor Wut und Trauer erschlägt Hinrich ihn und flieht. Viele Jahre später kehrt er unerkannt wieder, um an der Seite seines Enkels zu leben. Doch auf unerklärliche Weise rächt sich seine Tat und kostet ihn und seinen geliebten Nachfahren das Leben.
  • Die Novelle gilt als typische Vertreterin des poetischen Realismus.
  • Sie zeichnet sich außerdem durch eine kunstvoll gestaffelte Erzählsituation aus.
  • Die inneren Konflikte Hinrichs lassen sich als Widersprüche der hereinbrechenden Moderne interpretieren.
  • Vererbungslehre und Aberglaube stehen sich als alternative Erklärungsversuche des unabänderlichen Schicksals gegenüber.
  • Storms Arbeit an der Novelle gingen intensive Studien des Autors von überlieferten Geschichten voraus.
  • Die Novelle wurde bei ihrer Veröffentlichung mit überschwänglichem Lob aufgenommen.
  • In der Forschung wird sie bis heute eher stiefmütterlich behandelt.
  • Zitat: „(…) ein Aberglaube schwebte über dieser Heide, der letzte Schatten eines düsteren Menschenschicksals, womit ein altes Geschlecht von der Erde verschwunden war.“

Zusammenfassung

Der Chronist von Grieshuus

Vor langer Zeit, als der Ich-Erzähler noch ein Junge war, unternahm er einen Herbstspaziergang. Damals ging er aus der Stadt hinaus in die einsame Heide. Mit der Dämmerung kam er in ein kleines Tal, wo er auf alte Grundmauern stieß. Er erinnerte sich damals, von diesem Ort, Grieshuus, schon gehört zu haben: Ein altes Adelsgeschlecht sei hier untergegangen, hieß es. Ihm wurde unheimlich zumute und in seine Wahrnehmung mischten sich Bilder vergangener Zeiten. An den „schlimmen Tagen“, so der Aberglaube, würde man in diesem Tal bei Dunkelheit umkommen. Fortan ging er als „Chronist von Grieshuus“ der Geschichte dieses Ortes nach. Nach jahrzehntelangen mündlichen und schriftlichen Nachforschungen veröffentlicht er nun seine Aufzeichnungen.

Zwei ungleiche Brüder

Das Adelsgeschlecht, das Mitte des 17. Jahrhunderts auf Grieshuus lebt, besteht nur noch aus dem alten Junker und seinen zwei Zwillingssöhnen, Hinrich und Detlev. So ähnlich die Brüder sich äußerlich sind, so verschieden sind ihre Talente und Vorlieben; ihr Verhältnis zueinander ist entsprechend distanziert. Detlev ist wissbegierig und besucht später die Universität, wo er Jura studiert. Obwohl er sich unauffällig verhält, meint man im Dorf, sich vor ihm in Acht nehmen zu müssen. Hinrich, der ältere Bruder und damit Erbe des Vaters, treibt sich dagegen im Dorf, auf den Feldern und im Wald herum. Am liebsten geht er mit dem Jäger Owe Heikens und seinem Knecht Hans Christoph auf Wolfsjagd. Der Jähzorn, den man bei Detlev nur befürchtet, tritt bei Hinrich offen zutage. Als sich sein Lieblingshund durch eine Tierfalle verletzt, die Hans Christoph hätte forträumen sollen, schlägt er den Verantwortlichen brutal zu Boden. Bärbe, ein junges Mädchen aus dem Dorf, steht daneben, flieht erschrocken vor Hinrich und kommt von da an nicht mehr nach Grieshuus. Ruhelos kümmert Hinrich sich um den Verletzten und versucht sein Verhalten wiedergutzumachen.

Die Liebe zwischen Hinrich und Bärbe

Jahre später, zur Zeit des Nordischen Krieges, hört Hinrich auf einem Nachtspaziergang aus einem abgelegenen Haus Schreie. Der alte Schreiber, der dort mit seiner Tochter wohnt, hatte sich am selben Tag mutig gegen herumziehende Soldaten zur Wehr gesetzt, die nun in der Dunkelheit zurückgekommen sind, um sich zu rächen. Hinrich lässt seine Jagdhunde auf sie los und rettet so dem Schreiber und seiner Tochter das Leben. Er bringt die Soldaten als Gefangene nach Grieshuus, lässt seine Hunde aber beim Haus des Schreibers Wache halten. Nach einer sorgenvollen Nacht erfährt er, dass der Schreiber und seine Tochter ihr Haus verlassen haben. Traumatisiert von den Geschehnissen, aber auch geängstigt von den Hunden, sind sie ins Turmhaus von Owe Heikens gezogen, der ein Bruder des Schreibers ist.

„(...) ein Aberglaube schwebte über dieser Heide, der letzte Schatten eines düsteren Menschenschicksals, womit ein altes Geschlecht von der Erde verschwunden war.“ (S. 11)

Anders als sonst sträubt sich Hinrich vor einem Besuch bei Owe Heikens. Als er aber doch zu ihm muss, trifft er auf die Tochter des Schreibers, der gerade aufgetragen wurde, ein Huhn zu schlachten. Während sie es nicht übers Herz bringt, macht Hinrich kurzen Prozess. Das Mädchen fragt Hinrich nach seiner Selbstbeherrschung. Er erkennt sie als Bärbe, das Mädchen, das damals vor seinem Gewaltausbruch geflohen ist. Als sie seinen Ausbruch damals aber als Jugendsünde abtun will, vertraut er ihr an, dass er letztens seinen Lieblingshund wegen Ungehorsam auf der Jagd erschlagen hat. Sie erschrickt und bittet ihn, so etwas nie wieder zu tun. Er verspricht es ihr. Sie kommen sich nahe und lösen sich nur widerwillig voneinander. Hinrich fühlt sich, als sei ihm durch sein Geständnis und sein Versprechen eine Last von der Seele genommen.

„(...) während auf den kahlen Bäumen die Raben vor Frost und Hunger schrieen, drangen heiße Worte durch die trennenden Bohlen hin und wider.“ (über Hinrich und Bärbe, S. 39)

In der Folgezeit stattet Hinrich Bärbe heimliche Besuche ab. Eines Tages aber passt Owe Heikens Hinrich ab und verbietet ihm, Bärbe weiterhin zu besuchen. Er macht ihm moralische Vorwürfe und erinnert ihn, dass er durch eine Beziehung zu einer Nichtadligen sein Erbe aufs Spiel setzt. Nur das Liebeslied, das Hinrich Bärbe hinter verschlossener Tür singen hört, verhindert, dass er auf seinen alten Freund losgeht. Er verteidigt seine Liebe zu Bärbe und zieht sich zurück. In der folgenden Zeit wird Hinrich von seinem Vater mehr als sonst in die Geschäfte eingespannt. Owe Heikens verhindert weiterhin seine Besuche bei Bärbe. Nur über Blicke oder durch die Wand gesprochene Worte bleiben die beiden Liebenden in Verbindung.

„Die Hände des alten Priesters legten sich zitternd auf ihre Häupter.“ (über Hinrich und Bärbe, S. 50)

Hinrich fährt nach Kiel zur Verlobungsfeier seines Bruders, der dort als angesehener Rechtsanwalt arbeitet. Entgegen dem Anraten seines Vaters kann Hinrich mit den adligen Töchtern dort nichts anfangen – ebenso wenig wie mit seinem Bruder. Früher zurückgekehrt gelingt es ihm, Bärbe allein anzutreffen, und in der Euphorie des Wiedersehens deutet er an, sie heiraten zu wollen. Während eines Gottesdienstes können Hinrich und Bärbe die Augen nicht voneinander lassen, was der alte Junker bemerkt. In einem Gespräch mit dem Pastor berichtet er ihm, dass sein Sohn offenbar Heiratsabsichten habe. Mit wachsender Eindringlichkeit versucht er den Pastor zu verpflichten, seinem Sohn von der Kanzel aus ins Gewissen zu reden. Der Pastor weigert sich: Standesfragen seien für eine christliche Eheschließung irrelevant. Der alte Junker schäumt vor Wut.

Zwei Beerdigungen, eine Hochzeit und ein Mord

Einige Monate später stirbt der alte Junker. Nach seiner Beerdigung erzählt Detlev dem überraschten Hinrich, der von Geburt aus Alleinerbe ist, von der Existenz eines Testaments. Am selben Tag wird auch Bärbes Vater beerdigt. Vor aller Augen nimmt Hinrich Bärbe tröstend in den Arm. Sie folgen dem Pastor unauffällig in sein Haus, wo er sie auf Hinrichs Bitte hin traut. Das junge Ehepaar bezieht einen idyllisch gelegenen Hof nahe Grieshuus, den Hinrich von seiner Patentante vererbt bekommen hat. Es ist Sommer und die beiden verleben eine kurze, glückliche Zeit.

„,Mein Leben! Mein Leben!ʻ schrie eine Stimme. ,Sie stirbt; ich will dafür das deine!‘“ (Hinrich zu Detlev, S. 60)

Die Testamentseröffnung ist für Hinrich eine Schmach. Das Herrenhaus und damit die Macht sollen Detlev allein zufallen. Dieser ist selbst nicht anwesend. Sein Vertreter reicht Hinrich aber einen Brief, in dem Detlev einen Tausch der geerbten Güter vorschlägt. Dazu müsse er sich nur von Bärbe trennen. Wenn sie bereits verheiratet seien, wisse er Wege, sie dennoch loszuwerden. Ungläubig und wütend zerreißt Hinrich den Brief. Er eilt nach Hause und sagt Bärbe, er werde sich nicht mit dem Testament zufriedengeben. Sie gibt ihm zu bedenken, dass er diese Entwicklung habe voraussehen können; nun müsse er die Folgen hinnehmen. Das Herrenhaus bleibt zunächst unbewohnt. Eines Tages geht Hinrich mit der schwangeren Bärbe zum Gottesdienst. Er setzt sich auf den Platz seines Vaters. Wenig später erscheint Detlev mit seiner Frau und Gefolge. Als er Hinrich auf dem Platz sitzen sieht, sagt er für alle hörbar, dass er sich schon Platz zu verschaffen wissen werde, und verlässt die Kirche.

„Auf dem Meierhofe lag ein schönes, aber totes Weib, neben ihr ein Siebenmonatskind, ein Mädchen, in der Wiege.“ (über Bärbe und Henriette, S. 61)

Als Hinrich von einer Reise zurückkehrt, liegt Bärbe nach einer Frühgeburt im Sterben. Hinrich erfährt, dass sie kurz vor der Geburt einen Brief gelesen hat und dadurch in große Aufregung geraten ist. Es handelt sich um eine Anklageschrift, in der Detlev beweist, dass Bärbe eine Leibeigene ist. Ihr Vater habe sich die Freiheit, in die man ihn und seine Tochter entlassen hat, nicht rechtlich bestätigen lassen. Die Ehe sei ohne die Erlaubnis ihres Besitzers geschlossen und damit ungültig. Voller Wut und Angst jagt Hinrich in die nächste Stadt, um einen Arzt zu holen. Es ist bereits Nacht, als er auf dem Rückweg durch die Heide auf seinen Bruder trifft. Nach einem kurzen Streit ersticht Hinrich ihn. Eine junge Frau namens Matten wird heimlich Zeugin des Mords, erzählt aber niemandem davon. Bärbe stirbt noch in dieser Nacht, ihre neugeborene Tochter aber lebt. Hinrich verschwindet spurlos.

Neues Leben auf Grieshuus

Hinrichs und Bärbes Tochter Henriette wächst in einem Kloster auf. Noch als junge Frau gibt sie die Hoffnung auf eine Rückkehr ihres Vaters nicht auf. Sie heiratet einen schwedischen Oberst und bekommt einen Sohn von ihm, den sie Rolf nennen. Nachhaltig geschwächt von der Geburt stirbt sie einige Jahre später. Auf dem Sterbebett bittet sie ihren kleinen Sohn, seinen Großvater von ihr zu grüßen. Der Oberst zieht mit Rolf nach Grieshuus, das nach vielen Jahren schlechter Bewirtschaftung sehr heruntergekommen ist. Vor allem die vielen Wölfe sind ein Problem. Der Oberst ist nicht dazu geeignet, diesen Zustand zu ändern. Die mittlerweile alte und fast blinde Matten ist Rolfs beste Freundin und erzählt ihm von früheren Zeiten. Man schreibt ihr hellseherische Fähigkeiten zu. Der Hauslehrer Caspar Bokenfeld wird eingestellt, um Rolf zu unterrichten. Seine Aufzeichnungen sind es, die der „Chronist von Grieshuus“ später von einem Nachfahren des Hauslehrers zu lesen bekommt und nun veröffentlicht.

„Das siebzehnte Jahrhundert war vorüber; es saßen andere Leute auf Grieshuus.“ (S. 62)

Einmal erzählt Rolf Bokenfeld von einem Wolfsangriff, dem er nur knapp entkommen konnte. Einige Zeit später taucht ein alter Mann mit zwei Jagdhunden auf und bietet sich dem Oberst als Wildmeister an. Er hat verschiedene königliche Empfehlungsschreiben bei sich, verhält sich ungewöhnlich selbstbewusst und schaut Rolf eindringlich an. Der Oberst akzeptiert sein Angebot und der Wildmeister zieht ins verlassene Turmhaus von Owe Heikens ein. Im Herrenhaus möchte er nur an drei Tagen des Januars wohnen, was unter den Bewohnern Verwunderung auslöst. Denn ebendiese Tage werden „die schlimmen Tage“ genannt, an denen in der Heide jedes Mal Unheil geschieht.

Der Wildmeister und sein Schützling

Viele Jahre vergehen. Der Wildmeister rückt mit dem alten Hans Christoph erfolgreich den Wölfen zu Leibe und bringt auch Rolf das Jagen bei. Die beiden entwickeln ein stilles Vertrauensverhältnis. Als Rolfs Hund ihm einmal nicht gehorcht, wird er darüber so böse, dass er ihn erstechen will. Der Wildmeister kann ihn nur knapp davon abhalten. Er mahnt ihn: Wenn er aus Wut einen Hund töte, könne es ihm ebenso mit einem Menschen geschehen. Als dem Wildmeister zu Ohren kommt, der Oberst wolle Grieshuus vielleicht verkaufen, muss er sich ihm gegenüber mit aller Mühe beherrschen: Es sei die Heimat von Rolfs Familie und der Oberst als Fremder dürfe diese Verbindung nicht auflösen.

„Der Wildmeister war wohl selbst ein jähzorniger Mann gewesen; aber er hatte gelernt, sich zu besiegen.“ (S. 87)

Abel, eine junge Enkeltochter von Matten, verliebt sich in Rolf. Auf die Bitte seines Hauslehrers hin schießt er eine Eule, die Abel und Matten mit ihrem Geheul nicht hat schlafen lassen. Als Abel ihm dafür überschwänglich dankt, stößt er sie brutal von sich, wobei sie sich verletzt. Sie zieht sich in der Folgezeit immer mehr zurück und wird schließlich bei anderen Verwandten untergebracht. Rolf rechtfertigt sich für den Vorfall: Er sei – zum Glück – nicht wie sein Großvater. Bokenfeld versteht, denn er weiß, dass Rolfs Großmutter eine Nichtadlige war, was als Ursache für den Niedergang des Geschlechts gilt.

„Der Wildmeister legte die Büchse in des Knaben Hände. ,Das ziemet dirʻ, sprach er; ,es ist der letzte Wolf in deinen Wäldern.‘“ (S. 99)

Der Wildmeister bittet den Oberst, den letzten Wolf der Gegend mit Rolf zusammen töten zu dürfen. Auch der Hauslehrer schließt sich ihnen an. Im Turmhaus sitzend warten sie darauf, dass der Wolf unten im Hof, wo ein Zicklein als Köder angebunden ist, in die Falle geht. Als Rolf einschläft, zieht ihn der Wildmeister ergriffen an die Brust. In diesem Augenblick erkennt der Hauslehrer die verblüffende Ähnlichkeit der beiden. Dann ist der Wolf im Hof zu hören. Der Wildmeister weckt Rolf, leitet ihn an und lässt ihn den Wolf erschießen. Rolf und der Hauslehrer bleiben über Nacht beim Wildmeister. Als sie zu Bett gehen, ist Rolf ganz in sich gekehrt, spricht vor sich hin – und springt plötzlich auf. Durch den Türspalt sieht der Hauslehrer, wie er in den Armen des weinenden Wildmeisters liegt. Am nächsten Tag verabschiedet sich der Wildmeister aus Grieshuus. Rolf schweigt von ihm.

Die schlimmen Tage

Ein paar Jahre später. Bokenfeld ist mittlerweile Pastor und häufig in Grieshuus zu Gast. Man vermisst den Wildmeister und auch Rolf, der zur schwedischen Kavallerie gegangen ist. Der Krieg ist wieder entflammt. Den Menschen auf Grieshuus kommt zu Ohren, dass Rolf ganz in der Nähe mit seiner Truppe stationiert ist. Am Abend des 24. Januar, einem der „schlimmen Tage“, kommt Abel außer Atem nach Grieshuus. Der Wildmeister sei wieder im Ort – und man müsse schnellstmöglich jemanden zu Rolfs Truppe schicken, denn russische Soldaten planten noch in dieser Nacht einen Angriff. Starr vor abergläubischer Angst weigern sich die Knechte, zu reiten. Da taucht der Wildmeister auf; er ist mittlerweile ein Greis, zu Tode geschwächt. Dennoch nimmt er Abschied von allen und reitet auf Rolfs geliebtem ehemaligen Pferd Falada los. Der Oberst und Bokenfeld wachen viele Stunden. Am Morgen wird Rolfs Leiche gebracht. Er habe sich im Überraschungsangriff der Russen tapfer geschlagen, als er plötzlich seine Falada ohne Reiter in das Kampfgewühl galoppieren sah. Abgelenkt von diesem Anblick sei er von einer Lanze ins Herz getroffen worden. Bokenfeld geht in die Heide. An der Stelle des Brudermords findet er den toten Wildmeister liegen, der dort vom Pferd gestürzt ist.

„Und da er mich itzt ansahe, war mir, als schaue ein lebenslanger Gram aus diesem edlen Antlitz.“ (Bokenfeld über den Wildmeister, S. 109)

Auf der Beerdigung enthüllt der Oberst vor der versammelten Gemeinde die Identität des Wildmeisters. Junker Hinrich sei kein bösartiger Mörder gewesen. Er selbst könne seine Tat nachvollziehen. Die Dorfbevölkerung verabschiedet die Toten. Hinrich und Rolf werden Seite an Seite beerdigt. Pastor Bokenfeld heiratet Abel, die er schon lange geliebt hat. Zuletzt ist Grieshuus verlassen und liegt in Trümmern. Bokenfeld hat alle seine Bewohner überlebt. Er zitiert ein Gedicht über die unabwendbare Vergänglichkeit alles menschlichen Treibens.

Zum Text

Aufbau und Stil

In der Novelle findet sich die für Storm typische gestaffelte Erzählsituation, wie sie auch im Schimmelreiter kunstvoll Anwendung findet. Der Text beginnt mit einer kurzen Einführung des Ich-Erzählers, der im darauffolgenden ersten Buch gemäß seiner Rolle als „Chronist“ zurücktritt. Zu Beginn des zweiten Buchs wird der Leser an die Existenz des Chronisten erinnert, wenn dieser erneut von seinen Nachforschungen erzählt und seine Autorschaft an einen weiteren – wenn auch ganz anders gearteten – Chronisten übergibt. Mit der „Niederschrift des Magisters Caspar Bokenfeld“ nimmt die Novelle ihren Fortgang und schließlich ihr Ende. Durch Bokenfelds unmittelbare Anwesenheit bei den Ereignissen bekommt die Erzählung eine filmische Perspektivierung; so etwa, wenn er die Vereinigung von Hinrich und Rolf durch den Türspalt beobachtet und diesen dann vor sich und dem Leser schließt. Er steht dabei in einem Spannungsfeld zwischen neutralem Beobachter und teilnehmender Figur. In zeitlicher Hinsicht wird das letzte Jahrhundert der Geschichte von Grieshuus erzählt. Die Staffelung des Erzählens, das Vor- und Zurücktreten der Erzähler und ihre Sprünge im Erzählen bewirken dagegen eine kaum mehr bestimmbare Zeiterfahrung.

Interpretationsansätze

  • Die Novelle ist eine typische Vertreterin des poetischen Realismus. Sie steht im Spannungsfeld von objektiver Beschreibung und subjektivem Erleben. Die bildhaften Elemente sind dabei keiner metaphorischen Assoziation entnommen, sondern der erzählten Wirklichkeit selbst (die Bedrohung durch die Wölfe oder auch das Blut des Huhns, das auf Bärbes weiße Schürze spritzt).
  • Der Text thematisiert den Umbruch zur Moderne als eine Krisenzeit. Das historische Setting, die rückwärtsgerichtete Erzählstrategie und das Unglück der Hauptfiguren zeugen von einer nostalgisch-romantischen Tendenz und einem Unbehagen des Autors in seiner Gegenwart.
  • Die Figur des Hinrich ist die Figur eines Zerrissenen: Seine nicht standesgemäße Hochzeit ist die Absage an sein Erbe, sein Mord zerreißt die familiären Bande; beides bewirkt in letzter Konsequenz das Ende der feudalen Herrschaft auf Grieshuus. Hinrichs Lebensaufgabe, seinen Jähzorn unter Kontrolle zu bringen, sowie sein Bestreben, Grieshuus zu erhalten, charakterisieren ihn als Typus eines neuen, rationalistischen Menschen (im Gegensatz zum lethargischen Oberst). Die Ausrottung der Wölfe ist ein starkes Symbol für den Versuch, äußerlicher wie innerlicher Gefahren Herr zu werden. Zugleich ist Hinrich ausdrücklich als ein Heimatloser gekennzeichnet, der nicht mehr zurückkehren kann.
  • Die Novelle stellt die Begriffe Vererbung, Schicksal und Schuld in ein komplexes Beziehungsgeflecht: Hinrichs Jähzorn findet sich in Rolfs Charakter wieder und trotz seiner Versuche der Wiedergutmachung fordert seine Schuld ihren Tribut an seinem Nachfahren.
  • Den Erzählern ist unbegreiflich, dass die Zeit über noch so tragische Ereignisse fast spurlos hinweggeht. Diese Unbegreiflichkeit mischt sich mit einer Melancholie gegenüber ihrem eigenen verblassenden Leben. Die unheimliche Vergänglichkeit ist der Nährboden des Aberglaubens um die „schlimmen Tage“, so sehr die Erzähler sich auch davon unbeeindruckt zeigen möchten.

Historischer Hintergrund

Wirtschaftliche und weltanschauliche Umbrüche

Die Zeit der Gründerkrise ab 1873 strafte den euphorischen Fortschrittsglauben der Gründerzeit Lügen. Die Angst, die kapitalistisch-industrielle Umwälzung gehe zu schnell und rücksichtslos vonstatten, hatte sich als berechtigt erwiesen. Die Einigkeit der Deutschen, die mit der Reichsgründung 1871 erreicht werden sollte, wurde zwischen den Gewinnern und Verlierern der neuen Wirtschaftsordnung, zwischen Kapitalisten und Arbeitern zerrieben, bevor sie sich entwickeln konnte. Die Aufweichung der Standesgrenzen zeigte ihre psychologische Kehrseite: Der Einzelne wurde, ob erfolgreich oder nicht, zum Spekulanten seiner Lebensmöglichkeiten – ein kräftezehrender Prozess. Der rigorose Militarismus und Materialismus der preußischen Regierung, die auch Storm unmittelbar zu spüren bekam, fanden ihre Entsprechung in der geistesgeschichtlichen Entwicklung. Charles Darwins Evolutionstheorie sowie Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches Schriften entzauberten auf unterschiedliche Weise das moralische Selbstverständnis des Menschen und untergruben so die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft.

Entstehung

Nach seiner Pensionierung als Amtsrichter 1880 zog Theodor Storm mit seiner zweiten Ehefrau und seinen Töchtern in eine Villa im Dorf Hademarschen mit weitläufigem Grundstück. Von seinem „Poetenstübchen“ aus schaute er in ein malerisches Flusstal. Hier erlebte er bis zu seinem Tod 1888 eine intensive Schaffensperiode, in der allein zehn Novellen entstanden. Das Bewusstsein seiner Anerkennung als Dichter, die häusliche Behaglichkeit und die Nähe zur Natur wurden aber von familiären und finanziellen Sorgen sowie zunehmenden Altersgebrechen getrübt.

Ideen zur Chronik von Grieshuus sammelte Storm ab 1881. Sie stammten aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Zum einen besaß Storm eine Dorfchronik, in der die Zeichnung eines burgartigen Herrenhauses zu sehen war. Ein Verwandter von ihm war dort als Gutsverwalter angestellt gewesen. Dieses  „Griese Huus“ wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erbaut und 1734 im Nordischen Krieg zerstört. Storm studierte diesen Zeitraum schwer durchschaubarer Kriegswirren mit Eifer und großer Sorgfalt. Die Sage von den „schlimmen Tagen“, denen ein Brudermord vorausgeht, wurde Storm von einem Bekannten erzählt, der von einer Italienreise zurückgekehrt war.

In Zusammenhang gebracht wurden diese Versatzstücke von einem Thema, das Storm wohl ebenso sehr aus eigener Erfahrung wie auch aus intellektuellem Interesse umtrieb: der Jähzorn. In seinen Aufzeichnungen formulierte er den Wunsch, eine Novelle darüber schreiben zu wollen. Während in seinem ganzen Werk jähzornige Figuren auftreten, galt sein besonderes Interesse nun dem Versuch, die Frage nach der Vererbung dieses Wesenszugs künstlerisch zu gestalten. Er notierte: „Das wirkliche Schicksal liegt in der Vererbung. Hier ist ein großer Stoff zu finden.“ Seine intensive Auseinandersetzung mit der Vererbungslehre ist aus Briefen bekannt. 1884 erschien die Novelle in Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften sowie in einer nochmals überarbeiteten Buchausgabe.

Wirkungsgeschichte

Von Freunden und Kollegen erhielt Storm für die Veröffentlichung großen Zuspruch. Sein langjähriger Freund Theodor Fontane schrieb: „Das Schönste, was Sie geschaffen haben. Storm hoch!“. Einige Biografen schließen sich diesem Urteil an. Unter den übrigen Novellen seines Spätwerks hat Zur Chronik von Grieshuus allerdings eher Liebhaberstatus und steht insbesondere im Schatten von Der Schimmelreiter. In der Literaturwissenschaft wurde der Text bis heute stiefmütterlich behandelt. Besonders kritische Stimmen sahen die Tendenz zum „Edelkitsch“, die sie Storm ohnehin zuschrieben, in dieser Novelle stärker ausgeprägt als in anderen. Auch Fontane berichtete im bereits zitierten Brief immerhin von seiner „unter Thränenwasser gesetzten Familie“. Die historische Themenwahl und die Verortung der Novelle in heimatlicher Umgebung wurden als Ausdruck einer vermeintlichen Rückschrittlichkeit Storms aufgefasst.

Eine prominente Verarbeitung der Chronik von Grieshuus war die gleichnamige Ufa-Verfilmung durch Arthur von Gerlach aus dem Jahr 1925. Unter großem bühnenbildnerischem Aufwand wurde die Geschichte in Babelsberg und in der Lüneburger Heide in düsteren Bildern zum Leben erweckt. Die Handlung folgt dabei im Großen und Ganzen der textlichen Vorlage. Der Film gilt als Meisterwerk des expressionistischen Kinos.

Über den Autor

Theodor Storm wird am 14. September 1817 als Spross einer alteingesessenen Husumer Patrizierfamilie geboren. Sein Vater ist Rechtsanwalt. Storm studiert Jura und lässt sich 1843 ebenfalls als Rechtsanwalt in Husum nieder. Als er sich 1853 gegen die Annektierung Husums durch Dänemark auflehnt, muss er seine Heimatstadt verlassen. Erst 1864 kann er wieder dorthin zurückkehren. In der Zwischenzeit arbeitet er als Assessor in Potsdam, wo er unter anderem mit Theodor Fontane, Joseph von Eichendorff und Paul Heyse verkehrt. In Husum hat er zwischen 1864 und 1880 zuerst das Amt des Landvogts, dann das des Amtsrichters inne. Storm heiratet zweimal, aus den beiden Ehen gehen insgesamt sieben Kinder hervor. Zu einer einschneidenden Erfahrung wird für ihn der Versuch, nach dem Tod der ersten Ehefrau mit der zweiten Frau erneut eine glückliche Ehe zu führen. Die permanente geistige Präsenz der Verstorbenen stellt das neue Eheglück immer wieder infrage. Storm verarbeitet diese Erfahrung in der Novelle Viola Tricolor (1874). Zwischen Immensee (1849), einer Novelle über den Widerstreit zwischen bürgerlichem Leben und Künstlerexistenz, mit der Storm schlagartig berühmt wird, und dem Schimmelreiter (1888) publiziert der Autor noch viele weitere Novellen, unter anderem Pole Poppenspäler (1874), Aquis submersus (1876), Carsten Curator (1878), Hans und Heinz Kirch (1882) sowie Ein Doppelgänger (1886). Daneben entstehen realistisch-impressionistisch getönte Gedichtbände. Theodor Storm erkrankt an Magenkrebs und stirbt am 4. Juli 1888.

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