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Lieutenant Gustl

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Lieutenant Gustl

Novelle

dtv,

15 min read
12 take-aways
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What's inside?

Ein literarischer Geniestreich: Schnitzlers Novelle spielt ausschließlich im Kopf ihres Helden, der eine Nacht lang ĂŒberlegt: Soll er sich umbringen oder nicht?


Literatur­klassiker

  • Novelle
  • Moderne

Worum es geht

Der lÀcherliche Ehrenkodex des MilitÀrs

Österreich um 1900: WĂ€hrend in den KaffeehĂ€usern von Wien ĂŒber den Untergang der Welt schwadroniert wird, stemmt sich vor allem das MilitĂ€r den Auflösungserscheinungen des Fin de SiĂšcle entgegen und hĂ€lt seinen Ehrenkodex hoch. Ausgerechnet diesen Ehrenkodex der kaiserlichen und königlichen Armee wĂ€hlt der Wiener Arzt und Literat Arthur Schnitzler als Thema fĂŒr seine revolutionĂ€re Novelle. RevolutionĂ€r ist sie vor allem aufgrund der ErzĂ€hlperspektive: Erstmals ermöglicht ein deutschsprachiger Schriftsteller seinen Lesern den direkten Blick in die Gedanken seines Helden. Der Leutnant Gustl wird an der Garderobe eines Konzertsaals von einem BĂ€ckermeister angepöbelt. Gustl stockt der Atem: Wie soll er auf eine solche Unverfrorenheit angemessen reagieren? Der Ehrenkodex des MilitĂ€rs befiehlt: Duell oder Selbstmord. Ein Duell mit dem rangniederen BĂ€cker ist nicht möglich. Bleibt nur das andere ... Schnitzler treibt seinen Helden in einer nĂ€chtlichen Odyssee durch Wien, die schließlich zu einem ĂŒberraschenden Ende fĂŒhrt. Was fĂŒr die Helden von James Joyce’ Roman Ulysses Dublin ist, ist fĂŒr Schnitzlers Gustl Wien: Kulisse fĂŒr ein raffiniertes „Kopftheater“.

Take-aways

  • Lieutenant Gustl ist die erste deutschsprachige Novelle, die sich konsequent der ErzĂ€hlweise des inneren Monologs bedient.
  • Es gibt keinen herkömmlichen ErzĂ€hler mehr: Der Leser erfĂ€hrt direkt und ungefiltert die Gedanken der Titelfigur.
  • Leutnant Gustl sitzt im Konzertsaal und langweilt sich. Seine Gedanken schweifen ab, insbesondere zu seinen zahlreichen Liebschaften.
  • Bei der Garderobe kommt es zu einem Eklat: Ein BĂ€ckermeister nennt den drĂ€ngelnden Offizier einen „dummen Bub“.
  • Gustls Dilemma: Einerseits darf er die Beleidigung nicht auf sich sitzen lassen, andererseits kann er den BĂ€cker wegen des Standesunterschieds nicht zum Duell fordern.
  • Der einzige Ausweg: Sein soldatischer Ehrenkodex verlangt von ihm, sich mit seinem eigenen Revolver das Leben zu nehmen.
  • Hin- und hergerissen zwischen EhrgefĂŒhl und Todesfurcht wandelt Gustl durch das nĂ€chtliche Wien und lĂ€sst seinen Gedanken freien Lauf.
  • Nach einer halb durchwachten Nacht erfĂ€hrt er im Kaffeehaus, dass der BĂ€cker soeben verstorben ist.
  • GlĂŒckselig und in der Hoffnung, dass niemand von dem Vorfall etwas mitbekommen hat, nimmt er sein altes Leben wieder auf – so als wĂ€re nichts geschehen.
  • Arthur Schnitzler verfasste die Novelle in nur fĂŒnf Tagen, u. a. inspiriert durch die psychoanalytischen Schriften Sigmund Freuds.
  • Die Erstveröffentlichung erfolgte in der Weihnachtsbeilage der Neuen Freien Presse von 1900, die Buchveröffentlichung 1901.
  • Die Novelle sorgte fĂŒr einen Skandal: Wegen Verunglimpfung des MilitĂ€rs wurde Schnitzler sein Offiziersrang aberkannt.

Zusammenfassung

Im Konzertsaal

Leutnant Gustl sitzt im Konzertsaal und findet nur ein Wort fĂŒr das, was ihm da geboten wird: Langweilig! Er fĂŒhlt sich bei dieser kulturellen Darbietung – einem Oratorium – deplatziert. So was gehört doch eher in eine Kirche. Und dort hĂ€tte man zumindest die Möglichkeit wegzugehen, wenn es langweilig wird. Aber hier? Gustls Nachbar wĂŒrde so ein Betragen wohl nicht gutheißen, so interessiert und fasziniert wie er dem Gesang lauscht. Die Konzertkarte hat Gustl von seinem Kameraden Kopetzky geschenkt bekommen. Dieser konnte selber nicht hingehen, obwohl seine Schwester dem Chor angehört. Gustl konnte unmöglich ablehnen, wenn er seinen Kameraden nicht beleidigen wollte. Brav klatscht er, wenn alle klatschen, aber die jungen Damen in den Logen interessieren ihn eigentlich viel mehr als das ganze Getöse. In die Oper sollte er mal wieder gehen: Das ist unterhaltsam und zerstreuend.

„Was guckt mich denn der Kerl dort immer an? Mir scheint, der merkt, daß ich mich langweil’ und nicht herg’hör ... Ich möcht’ Ihnen raten, ein etwas weniger freches Gesicht zu machen, sonst stell’ ich Sie mir nachher im Foyer!“ (S. 11)

Eigentlich ist Gustls Freundin Steffi daran schuld, dass er nun auf der harten Konzertbank sitzt: HĂ€tte sie ihn nicht versetzt, um mit einem anderen Herrn ein Nachtmahl einzunehmen, wĂ€re der Abend sicher sehr lustig geworden. Man applaudiert. Gustl hofft, dass es nun bald vorbei ist. Er ĂŒberlegt, ob er noch ins Kaffeehaus gehen soll. Nein, besser nicht. Er hat erst gestern 160 Gulden verspielt und kann es sich im Grunde nicht leisten, sein ganzes Geld auf den Kopf zu hauen. Er hat schon einen Bittbrief an seine Mutter geschrieben, die seinen Onkel anpumpen soll. Oder soll er den Onkel auf dem Land selbst besuchen? Das letzte Mal konnte Gustl sich die sterbenslangweilige Zeit dort mit einer auslĂ€ndischen Dame versĂŒĂŸen, die in den NĂ€chten zu ihm kam.

Ein ungeheuerlicher Zwischenfall

Gustl ĂŒberlegt, nach dem Konzert noch den Ring, die Wiener Hauptstraße, entlangzugehen. Aber das verwehrt er sich: FĂŒr das morgige Duell muss er ausgeschlafen und frisch sein. Ein Doktor, offenbar ein Jurist, hat ihm gegenĂŒber eine Bemerkung fallen lassen, mit der er das gesamte MilitĂ€r beleidigt hat. Der Lump hat doch allen Ernstes behauptet, dass einige der MilitĂ€rs nicht nur wegen der Landesverteidigung in die Kaserne gegangen seien. Als ob aus ihnen ansonsten nichts Gescheites hĂ€tte werden können. Eine Frechheit! Gustl hat ihn zum Duell gefordert. Endlich ist das Konzert beendet. Gustl drĂ€ngt es an die Garderobe. Muss das denn so lange dauern? Die Masse wogt genau in seine Richtung, und schon ist er eingekeilt. Er mustert die hĂŒbschen Damen und malt sich aus, mit welcher er gern eine AffĂ€re hĂ€tte. Endlich ist er bei der Garderobe angelangt. Doch ein breiter Mann versperrt ihm den Weg. Die beiden rempeln sich gegenseitig an und Gustl verliert die Beherrschung. Der Mann dreht sich um und entpuppt sich als ein ihm bekannter BĂ€ckermeister. Keck und unverfroren greift er nach dem SĂ€bel des Leutnants und droht, ihn zu zerbrechen, wenn er nicht endlich aufhöre zu drĂ€ngeln. Diese Frechheit garniert er noch damit, dass er den Offizier als „dummen Bub“ bezeichnet.

Verpasste Gelegenheit

Innerlich kocht Gustl vor Wut. Ist das gerade wirklich passiert? Wie soll er reagieren? Hoffentlich hat niemand diese Peinlichkeit mitbekommen. Ehe sich der Leutnant versieht, ist der freche BĂ€cker auch schon verschwunden. Oh Gott! denkt Gustl. Er hĂ€tte ihn sofort erschlagen mĂŒssen. Diese Schande kann er nicht ertragen: Er, ein Offizier, von einem gewöhnlichen BĂ€cker gedemĂŒtigt. Und dies, ohne ihn sofort niedergestreckt zu haben! Er mĂŒsste sich auf der Stelle erschießen, um dem Spott zu entgehen und der Ehre GenĂŒge zu tun. Aber so weit darf es nicht kommen. Der BĂ€cker muss sterben, auf der Stelle. Doch das geht jetzt nicht mehr. Es ist zu spĂ€t. Er ist weg und es wĂ€re unehrenhaft, ihn von hinten oder erst morgen oder ĂŒbermorgen zu erschlagen. Hoffentlich tritt er die Sache nicht breit. Aber selbst wenn nicht, Gustl weiß: Mit dieser Schmach kann man nicht weiterleben. Wie in Trance findet er sich auf den Straßen Wiens wieder. Er stolpert voran, widersprĂŒchliche Gedanken feuern durch sein Hirn: Soll er den Freitod suchen oder die Sache auf sich beruhen lassen? Reicht die Hoffnung, dass niemand etwas davon erfahren wird, oder sehen die Menschen ihm sogar an, dass er ein Feigling ist und sich hat demĂŒtigen lassen?

Ehre oder Tod

Gustl malt sich aus, wie seine Mutter oder Steffi um ihn trauern wĂŒrden, wenn er sich umbrĂ€chte. Auch seine Regimentskollegen wĂŒrden sich fragen, warum das hat geschehen mĂŒssen. Hinterher wĂŒrden sie sagen: Das war es nicht wert. Aber wenn er sie jetzt um ihren Rat bĂ€te, dann wĂŒrden auch sie den Freitod als einzige Möglichkeit sehen, um sich der Schande zu entziehen. Gustl bemitleidet sich selbst: Er als Offizier hat ĂŒberhaupt keine Möglichkeit, sich gegen solch einen Zivilisten zur Wehr zu setzen. Das empfindet er als ungerecht. Ihn erfĂŒllt Abscheu gegen Menschen, denen etwas Ähnliches passiert ist und die einfach so weitergelebt haben, als sei nichts geschehen. Das ist fĂŒr Gustl nicht denkbar. Obwohl: Jetzt zweifelt er sogar daran, ob er die Beleidigung ĂŒberhaupt richtig verstanden hat. Hat der BĂ€cker die ungeheuerlichen Worte wirklich gesagt? Ja, es steht außer Frage. Er kann sie ja jetzt noch hören: „Dummer Bub“, hat er gesagt. Ohne es recht zu bemerken, ist Gustl bereits bei der AspernbrĂŒcke angekommen und befindet sich auf dem besten Weg nach Kagran, einem Vorort Wiens.

Nachts im Prater

HĂ€tte er seinen Revolver dabei, wĂŒrde er jetzt sofort abdrĂŒcken, sagt sich Gustl. Dann denkt er an seine Cousine, die lange Zeit dahinsiechen musste. Insofern ist so ein Freitod in den besten Jahren eine glatte Sache. Man muss es natĂŒrlich geschickt anstellen, sonst ist man hinterher nicht tot, sondern behindert, wie der Kadett-Stellvertreter, der sich blind geschossen hat. Aus Eifersucht. Das sind GefĂŒhle, die Gustl gar nicht kennt. Inzwischen ist er doch tatsĂ€chlich schon beim Prater angelangt, wo er in der Dunkelheit dahinspaziert. MĂŒde setzt er sich auf eine Parkbank und malt sich aus, wie es wĂ€re, dort einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen. In der klaren, kalten Nachtluft ĂŒberlegt Gustl genau, wie er es morgen anstellen will: Sieben Uhr wĂ€re eine gute Zeit, sich totzuschießen. Um acht, wenn die Schule anfĂ€ngt, wĂ€re dann schon alles vorbei. Doch wieder lenken ihn seine vagabundierenden Gedanken ab. Er erinnert sich an Frau Mannheimer, eine hĂŒbsche, blonde Frau mit guten Umgangsformen. Er vergleicht sie mit seiner Steffi und kommt zu dem Ergebnis, dass ihm Frau Mannheimer noch mehr zugesagt hĂ€tte und dass sie ihm einen besonderen „Schliff“ hĂ€tte geben können. Das wiederum erinnert ihn an seine erste Bekanntschaft mit der Liebe: Er war noch ein kleiner Junge und seine Gespielin mindestens doppelt so alt wie er.

Flucht?

Die Gedanken wandern weiter zu seinen Eltern und seiner Schwester Klara, die er herzlich liebt. Sie hat ihm erst kĂŒrzlich einen bewegenden Brief geschrieben, den er nicht beantwortet hat. Bliebe denn noch Zeit fĂŒr einen kurzen, letzten Besuch? Mit dem Sieben-Uhr-Zug nach Graz? Was wĂ€re aus ihm geworden, wenn er nicht zum MilitĂ€r gegangen wĂ€re? Er wĂ€re daheim geblieben und hĂ€tte Ökonomie studiert, wie es sein Vater gewĂŒnscht hatte. Doch nun ist alles vorbei. Auswandern mĂŒsste man. Weit weg, wo sich keiner um die Ehre schert. Nach Amerika. Gustl kommt der Vorfall mit dem BĂ€ckermeister inzwischen schon so weit weg vor, als sei er vor 100 Jahren passiert. Warum war er auch so grob? Das ist doch normalerweise gar nicht seine Art. Es war ihm einfach alles zu viel: die Geldnot, das bevorstehende Duell mit dem Doktor, die Schwierigkeiten mit Steffi, die Hitze im Konzertsaal 
 Er wischt diese Gedanken beiseite: Auswandern – kommt fĂŒr ihn nicht infrage, Flucht – ebenso nicht, die Familie – wird ĂŒber seinen Tod schon hinwegkommen. Eigentlich will Gustl nach Hause, schlĂ€ft aber unversehens auf der Parkbank ein.

Die Stunde rĂŒckt nĂ€her

Nachts um drei Uhr erwacht Gustl unsanft. Erst weiß er gar nicht, wo er ist. Dann fĂ€llt ihm alles wieder ein: Beleidigung, Ehre, Selbstmord. Die frische Morgenluft erinnert ihn an sein Kampieren mit der Kompanie. Er schaut sich um und denkt, dass der FrĂŒhling die Natur schon in wenigen Tagen wieder beleben wird – aber er wird dann schon dahin sein. Werden die anderen um ihn trauern? Seine Steffi wird es heimlich tun mĂŒssen, damit ihr offizieller Freund nichts von der AffĂ€re mit Gustl erfĂ€hrt. Das ist eben sein Schicksal: Als unbekannter Freund wird er auch ein unbekannter Toter bleiben. Das erinnert ihn an die Dame, der er vor der Steffi zugeneigt war. Sie hieß Adele und hat ihn heiß und innig geliebt. Doch er hat mit ihr Schluss machen mĂŒssen, weil es ihm auf Dauer zu langweilig wurde mit immer derselben. Sie hat geheult wie ein Schlosshund. Doch sie hat immer zu ihm gehalten. Was war er doch fĂŒr ein Idiot! Wer wird denn ĂŒberhaupt hinter seinem Sarg herlaufen? Der Kopetzky vielleicht und seine Eltern und Klara. Die aber nur, weil sie seine Familie sind. Ansonsten wissen sie doch wenig ĂŒber ihn, gibt Gustl traurig zu. Er geht zum MilitĂ€r, verspielt sein Geld und gibt sich mit verdorbenen Frauen ab. Eine armselige Existenz.

„O ja, mein FrĂ€ulein, ich möcht’ schon! ... O, die Nase! - JĂŒdin ... Noch eine ... Es ist doch fabelhaft, da sind auch die HĂ€lfte Juden ... nicht einmal ein Oratorium kann man mehr in Ruhe genießen ...“ (S. 21)

Es dĂ€mmert bereits, als er den Nordbahnhof erreicht. Gustl hat Hunger. Er hat ja seit Stunden nichts mehr gegessen. Jetzt fragt er sich, warum er sich eigentlich ausgerechnet um sieben Uhr erschießen will. Er denkt ans Kaffeehaus und daran, wie der BĂ€ckermeister die Nachricht von seinem Tod aufnehmen wird. Es macht ihn wĂŒtend, sich vorzustellen, dass er sich umbringen muss, wĂ€hrend dieser Zivilist einfach so weiterleben kann, als wĂ€re nichts gewesen. Doch das, so denkt der Leutnant, soll ihm nicht so leicht gelingen. Aufschreiben wird er den ganzen Vorfall und ihn zum Regimentskommando geben. In diesem Augenblick marschieren die „Vierundvierziger“, ein Infanterieregiment, zum Schießplatz. Gustl blickt ihnen wehmĂŒtig nach. Langsam, aber sicher beklemmen ihn die innere Unruhe und Angst. Doch er mahnt sich zum Durchhalten: Nach Hause gehen, die Pistole aus der Nachttischschublade holen und abdrĂŒcken. Da ist doch nicht viel dabei. Jetzt fĂ€llt ihm auch ein, dass er vorher noch mancherlei Briefe verbrennen muss, darunter die Liebespost von Steffi. Unversehens ist Gustl bei einer Kirche gelandet. Er ĂŒberlegt hin und her, dann betritt er das Gotteshaus. Drinnen wĂŒrde er am liebsten zur Beichte gehen, um vor dem Selbstmord noch einmal mit einer Menschenseele zu sprechen. Er sinnt darĂŒber nach, dass die GlĂ€ubigen alle besser dran sind als er. Am liebsten wĂŒrde er ein altes MĂŒtterlein bitten, ihn in ihr Gebet aufzunehmen. Als dann aber die Orgel erschallt, fĂŒhlt sich der Leutnant zu unangenehm an das Konzert vom Vorabend erinnert und verlĂ€sst fluchtartig die Kirche.

Auf dem Ring

Der Hunger kehrt zurĂŒck. Gustl möchte am liebsten in seinem angestammten Kaffeehaus einkehren und krĂ€ftig frĂŒhstĂŒcken. Den Erschießungstermin verschiebt er um eine Stunde: auf acht Uhr. Nun ist er schon an der Wiener Burg angekommen. Ein Regiment aus Bosnien hĂ€lt Wache, was Gustl dazu anregt, ĂŒber Bosnien-Herzegowina nachzudenken und darĂŒber, wie schön es doch gewesen wĂ€re, im Feld zu sterben. Der Leutnant hat nun die Ringstraße erreicht und kann schon sein geliebtes und vertrautes Kaffeehaus sehen. In Gedanken schreibt er Abschiedsbriefe an seine Lieben: an Klara und Steffi, wobei ihm fĂŒr Steffi nichts Rechtes einfĂ€llt. Er gibt zu, dass er sie nicht wirklich liebt und dass vermutlich noch etliche Damen seinen Weg gekreuzt hĂ€tten, bis er auf eine gestoßen wĂ€re, die „was wert ist“.

Der BĂ€cker ist tot, das Leben geht weiter

Im Kaffeehaus gehört Gustl zu den ersten GĂ€sten des Morgens. Der Ober schlĂŒpft schnell in seinen Frack und wundert sich darĂŒber, dass der Leutnant so frĂŒh ist. Gustl bestellt eine Melange und macht sich ĂŒber die Zeitungen her. Er setzt sich ans Fenster und zieht die VorhĂ€nge zu. Als ihm der Ober seine Bestellung bringt, erzĂ€hlt er dem Leutnant, dass der Herr Habetswallner in der Nacht gestorben ist – just der BĂ€ckermeister, der den Leutnant am Abend zuvor beleidigt hat! Um halb fĂŒnf Uhr morgens hat ihn der Schlag getroffen. Bei dieser Nachricht jubiliert Gustl innerlich. Er kann sein GlĂŒck nicht fassen, will sich aber nichts anmerken lassen und fragt deshalb möglichst unauffĂ€llig nach den genauen UmstĂ€nden. Der Ober hat die Nachricht vom BĂ€ckerburschen, der in der FrĂŒhe die Brötchen gebracht hat. Der BĂ€cker sei in einem Konzert gewesen und auf den Stiegen zusammengebrochen. Der Hausmeister habe ihn dann in die Wohnung gebracht und den Arzt alarmiert, aber es sei schon zu spĂ€t gewesen. Gustl triumphiert: Die ganze Gefahr ist abgewendet, der BĂ€cker ist tot und Gustl darf leben. Sofort genehmigt er sich eine Zigarre und plant den weiteren Tagesablauf: Erst geht er in die Kaserne, wo er sich von seinem Untergebenen kalt abreiben lassen will. Um halb zehn steht das Exerzieren an. Abends will er sich unbedingt mit Steffi treffen. Da fĂ€llt Gustl auch das Duell mit dem Doktor ein. Welch eine Freude: Jetzt ist er wieder voll da und kann es nicht erwarten, dem Herrn Doktor eine Abreibung zu verpassen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Arthur Schnitzlers Novelle Lieutenant Gustl folgt einem einfachen Ă€ußeren Aufbau: Nach dem Zusammenstoß mit dem BĂ€ckermeister treibt es den gedemĂŒtigten Helden durch die nĂ€chtlichen Straßen von Wien. Sein Schlummer auf der Parkbank im Prater teilt die Geschichte in zwei Teile. Gustls TrĂ€ume erfĂ€hrt der Leser nicht, aber die GedankengĂ€nge des Leutnants gehen am nĂ€chsten Morgen weiter wie am Abend zuvor, bis er schließlich im Kaffeehaus die „frohe Botschaft“ vom Tod des BĂ€ckers vernimmt. Aufsehenerregender als der lineare Ablauf der Geschichte sind der Stil und die sprachlichen Mittel dieser Novelle: Lieutenant Gustl ist das erste Werk in der deutschen Literaturgeschichte, das vollstĂ€ndig in der Form des inneren Monologs geschrieben wurde. Es gibt also weder einen außenstehenden, womöglich allwissenden ErzĂ€hler, noch einen traditionellen Ich-ErzĂ€hler. Auch geht Schnitzler ĂŒber die Technik der erlebten Rede hinaus, bei der immer noch ein ErzĂ€hler die Gedanken der Hauptperson – meist in der Vergangenheitsform und in der dritten Person – wiedergibt: Er gewĂ€hrt dem Leser unmittelbaren Zutritt zu den Gedanken des Leutnants, die in direkter Form (also quasi in Echtzeit) vermittelt werden. Gustls Gedanken jagen ungefiltert dahin: VerkĂŒrzte oder abgebrochene SĂ€tze (Ellipsen) beherrschen den Gedankenmonolog des Leutnants; mundartliche Sprache, Phrasen und Redensarten, Erinnerungen, Assoziationen und GedankensprĂŒnge geben der Novelle eine eigentĂŒmliche AuthentizitĂ€t. Schnitzler zeigt durch die Gedankenwelt seiner Hauptfigur einen Kosmos der Reflexionen, der viel mehr enthĂ€lt als das, was die Ă€ußere Handlung ausmacht.

InterpretationsansÀtze

‱ Schnitzlers Leutnant Gustl ist ein Antiheld. Weil der Leser direkt in seine Gedanken blicken kann, erfĂ€hrt er schnell, dass der schneidige Soldat eigentlich eine ziemlich einfĂ€ltige Persönlichkeit ist: Er ist unfĂ€hig, eine echte Beziehung aufzubauen, und gibt sich deswegen ausschließlich mit „Menschern“ (etwa: billige Flittchen) ab. Seine vor Klischees und Stereotypen strotzenden Gedanken sind beherrscht von latenter Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus. ‱ Des Leutnants GedankengĂ€nge verlaufen zirkulĂ€r: Er bewegt sich immer im Kreis (ĂŒbrigens auch rĂ€umlich in der Stadt Wien): Die wiederkehrenden Themen sind seine AffĂ€ren, die Beziehung oder vielmehr Nichtbeziehung zu seiner Familie, das Leben in der Kaserne, der militĂ€rische Ehrenkodex und der geplante Selbstmord. ‱ Gustls Gedankenstrom fĂŒhrt ihn zwar zu mancher Einsicht, aber nicht zu innerer Umkehr: Als er erfĂ€hrt, dass der BĂ€cker tot ist, nimmt er sein altes, eingefahrenes Leben wieder auf, als hĂ€tte er aus den Nöten der zurĂŒckliegenden Nacht nichts gelernt. ‱ Schnitzler kritisiert den militĂ€rischen Ehrenkodex seiner Zeit: Die Offiziere bildeten eine Klasse fĂŒr sich, sie waren geradezu Herrenmenschen, die alles Zivile verachten. Indem die Beleidigung durch einen Zivilisten den Leutnant in ein moralisches Dilemma stĂŒrzt, wird der Ehrenkodex als lĂ€cherlich und lebensfremd entlarvt. ‱ Die literarische Technik des inneren Monologs entspricht der Methode der freien Assoziation, wie sie die Psychoanalyse verwendete, die zur Zeit Schnitzlers aufkam: Gedankenfetzen, TrĂ€ume, VerdrĂ€ngtes, Erinnerungen, Hoffnungen, SehnsĂŒchte werden in rascher Abfolge und möglichst ungefiltert erzĂ€hlt oder zu Papier gebracht. Der innere Monolog kann als literarische Ausdrucksform der psychoanalytischen Revolution bezeichnet werden.

Historischer Hintergrund

Die Duellpraxis im Österreich des Fin de Siùcle

Der österreichische Schriftsteller Hermann Broch bezeichnete Wien in einem seiner Essays als „fröhliche Apokalypse“. Damit verwies er auf die Untergangsstimmung und Dekadenz in der Donaumetropole im Fin de SiĂšcle, dem Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. In der Tat bröckelte die schöne Fassade der kaiserlichen und königlichen Doppelmonarchie ganz gewaltig. Nach dem Krieg mit Preußen und dem Ausschluss aus dem Deutschen Bund 1866 verlor Österreich nicht nur Macht, sondern vor allem die Anbindung an die deutschen Staaten. Innenpolitische Schwierigkeiten wurden akut. Kaiser Franz Joseph I. sah sich massiven UnabhĂ€ngigkeitsbestrebungen der unterschiedlichsten Teile des Vielvölkerstaates gegenĂŒber. 15 verschiedene ethnische Gruppen, fĂŒnf Religionen und mehr als zehn Sprachen wurden unter dem habsburgischen Doppeladler vereint. Was konnte das riesige Reich zusammenhalten? Neben dem Staatsoberhaupt war es vor allem das MilitĂ€r. Die Armee, die mit klaren Strukturen und einheitlicher FĂŒhrung ausgerĂŒstet war, avancierte zum letzten Aktivposten, der dem Zerfall standzuhalten schien. Insbesondere der Ehrenkodex und die Duellregeln spielten eine große Rolle. Das Duell war die bis 1918 ĂŒbliche Form der Konfliktregelung unter Offizieren. Duellanten mussten „satisfaktionsfĂ€hig“ sein, also dem Offizierskorps oder einem höheren Stand angehören. Das Duell unter Gleichgestellten musste nicht mit dem Tod eines der Kombattanten enden. In jedem Fall wurde durch den schlichten Vollzug die Ehre beider wiederhergestellt. Erstaunlicherweise waren Duelle sowohl in Preußen als auch in Österreich verboten und wurden zivilrechtlich geahndet, gleichwohl waren sie militĂ€risch vorgeschrieben. Duellanten wurden zwar zivilrechtlich verfolgt, aber meist schnell begnadigt und dann im MilitĂ€r in allen Ehren wieder aufgenommen. Wer aber dem Duell auswich, wurde mit Schimpf und Schande aus dem Offizierskorps gejagt.

Entstehung

FĂŒr seine Novelle Lieutenant Gustl bediente sich Schnitzler – erstmalig in der deutschen Literatur – der Technik des inneren Monologs. Dieser legt die menschliche Psyche offen, wie es die Psychoanalyse als wissenschaftliche Disziplin um die Jahrhundertwende ebenfalls tat. Vordatiert auf 1900, erschien Ende 1899 Sigmund Freuds epochale Schrift Die Traumdeutung, die Schnitzler offensichtlich gekannt hat. Dieses Werk und seine eigenen Erfahrungen als Nervenarzt bildeten den Hintergrund zur Entstehung der Novelle. Ein direktes literarisches Vorbild fĂŒr die Technik des inneren Monologs war der französische Roman Les lauriers sont coupĂ©s von Edouard Dujardin. Arthur Schnitzler vermerkte unter seiner Novelle den Entstehungszeitpunkt, der mit einiger Sicherheit als korrekt angenommen werden kann: Reichenau, 13.–17. Juli 1900. Reichenau ist ein kleiner Kurort in Niederösterreich, der etwa 80 km sĂŒdlich von Wien liegt. Innerhalb der kurzen Spanne von fĂŒnf Tagen verfasste Schnitzler das Manuskript und diktierte es nach seiner RĂŒckkehr in Wien zur endgĂŒltigen Niederschrift. In seinem Tagebuch vermerkte er: „Ltn. Gustl vollendet, in der Empfindung, dass es ein Meisterwerk.“ Vorlesungen in privater Runde und bei einer literarischen Vereinigung in Breslau brachten ein sehr positives Echo. Gedruckt erschien Lieutenant Gustl (mit der alten französischen Schreibweise fĂŒr „Leutnant“) am 25. Dezember 1900 in der Weihnachtsbeilage der Neuen Freien Presse. Im Folgejahr erschien der Text auch als Buch.

Wirkungsgeschichte

Schnitzlers Novelle ging auch deshalb in die deutsche Literaturgeschichte ein, weil sie einen handfesten Skandal und einen gesellschaftlichen Aufruhr auslöste. Schließlich stellt Schnitzler einen zĂ€hneklappernden, Ă€ngstlichen, arroganten Offizier dar, der sich windet und den Ehrenkodex des MilitĂ€rs besudelt, indem er ihn ungewollt als bloße Scheinwelt entlarvt. Drei Tage nach der Veröffentlichung in der Neuen Freien Presse meldete sich bereits ein anonymer Rezensent in dem Nationalblatt Reichswehr zu Wort und kritisierte das Werk und seinen Schöpfer vernichtend. Doch damit nicht genug: Die Auseinandersetzung um die Novelle gipfelte in einem Dekret vom 14. Juni 1901, in dem Schnitzler mitgeteilt wurde, dass er seines „Offizierscharakters fĂŒr verlustig erklĂ€rt“ worden sei. Der Grund fĂŒr die Degradierung war aber nicht nur die Veröffentlichung, sondern ironischerweise auch die ausgebliebene Aufforderung zum Duell an den Autor der Kritik in der Reichswehr, mit dem sich Schnitzler hĂ€tte schlagen mĂŒssen.

Dass sich ein Skandal auch als Marketingmaßnahme eignet, bewies der S. Fischer Verlag im Juli 1901 mit einer ganzseitigen Anzeige im Börsenblatt. Die Reaktion war entsprechend: Noch im gleichen Jahr musste eine zweite Auflage gedruckt werden. Die literarische Welt reagierte auf die Veröffentlichung sehr positiv. Hugo von Hofmannsthal grĂŒĂŸte Schnitzler auf einer Ansichtskarte sarkastisch: „Reklameheld! der die Welt zwar nicht durch seine Werke, aber jedes Jahr durch Skandale in Atem hĂ€lt!“ Allein der Umstand, dass Schnitzler den inneren Monolog konsequent zum Stilprinzip seiner Novelle machte, sichert Lieutenant Gustl einen prominenten Platz in der Literaturgeschichte.

Über den Autor

Arthur Schnitzler wird am 15. Mai 1862 als Sohn des jĂŒdischen Klinikdirektors Johann Schnitzler in Wien geboren. Schon frĂŒh packen ihn die Leselust und das Interesse an der Schriftstellerei. Obwohl der Vater die literarischen Ambitionen seines Sohnes fördert, studiert Arthur auf dessen Wunsch Medizin in Wien. 1882 folgt ein Jahr beim MilitĂ€r als Sekundararzt. 1885, mit 23, promoviert er in Medizin. In den folgenden Jahren arbeitet er als Assistenzarzt in verschiedenen Wiener Kliniken. Nach dem Tod des Vaters eröffnet er eine Privatpraxis. 1893 erscheint sein Dramenzyklus Anatol. Eine tiefe Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal beginnt. Schnitzler arbeitet vor allem fĂŒr die BĂŒhne: Sein Reigen von 1897 erregt einen Skandal wegen des vermeintlich pornografischen Inhalts und bleibt lange verboten. Mit der Novelle Lieutenant Gustl tut sich Schnitzler als Prosaschriftsteller hervor, allerdings kostet ihn die angebliche Verunglimpfung des MilitĂ€rs seinen Offiziersrang. 1903 heiratet er seine LebensgefĂ€hrtin Olga Gussmann, mit der er bereits einen Sohn hat. In den folgenden Jahren kommen mehrere seiner Schauspiele zur UrauffĂŒhrung, u. a. Der einsame Weg, Der grĂŒne Kakadu und Das weite Land. Immer wieder ecken seine Werke bei der Zensur an: Neben dem Reigen betrifft das vor allem den Einakter Haus Delorne, der 1904 noch am Abend vor der UrauffĂŒhrung verboten wird, und die Komödie Professor Bernhardi, die 1912 zwar in Berlin, nicht aber in Wien aufgefĂŒhrt werden darf. Bei Kriegsausbruch 1914 bekennt sich Schnitzler zum Pazifismus: Im Unterschied zu vielen seiner Schriftstellerkollegen bricht er nicht in Kriegseuphorie aus. Nach der Trennung von seiner Frau im Jahr 1921 erzieht Schnitzler seine Kinder allein. 1922 macht er die nĂ€here Bekanntschaft Sigmund Freuds, der in der Psychoanalyse zu Ă€hnlichen Erkenntnissen kommt wie Schnitzler mit den Mitteln der Literatur. 1924 verwendet er die Technik des inneren Monologs in der Novelle FrĂ€ulein Else. 1926 erscheint die Traumnovelle. Schnitzler stirbt am 21. Oktober 1931.

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