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Massenpsychologie und Ich-Analyse

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Massenpsychologie und Ich-Analyse

S. Fischer,

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10 take-aways
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What's inside?

Eine bestechende Analyse des Phänomens, dass Menschen in der Masse blind ihren Führern folgen und alle Vernunft ablegen.


Literatur­klassiker

  • Psychologie
  • Moderne

Worum es geht

Was die Psychoanalyse zum Populismus zu sagen hat

Freuds Essay Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921 widmet sich einem damals kaum erforschten sozialen Phänomen: der politischen Masse. Die kommunistische Revolution 1917 sowie die Erschaffung von Demokratien nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten gezeigt, dass die Masse eine neue ernst zu nehmende politische Kraft war. Freud widmet sich vor allem der populistischen und demagogischen Anfälligkeit der Masse. Mithilfe seiner Psychoanalyse erklärt er, warum Massen so empfänglich für die hypnotischen Verführungen charismatischer Führerpersonen sind und warum gerade Massen so stark zu irrationalen und gewalttätigen Verhaltensweisen neigen. Freuds Thesen erwiesen sich als prophetisch: Mit dem Aufstieg des Faschismus in Mitteleuropa um 1930 wurde das Gefahrenpotenzial von politischen Massenbewegungen immer deutlicher. So überrascht es nicht, dass Massenpsychologie und Ich-Analyse von zahlreichen empirischen Sozialwissenschaftlern und Psychologen aufgenommen und weitergeführt worden ist. Auch angesichts des heutigen Wiederaufstiegs des Populismus in Europa ist Freuds einziger Beitrag zur Soziologie wieder hochaktuell.

Take-aways

  • Massenpsychologie und Ich-Analyse ist ein Essay, in dem Freud über die Psychoanalyse die psychischen Mechanismen von Massenbewegungen herleitet.
  • Inhalt: Soziologen haben in ihren Erklärungen der spontanen Massen die Wichtigkeit der Führerfigur unterschätzt. Der Führer ist wesentlich für den Zusammenhalt der Masse, da sich die Massenindividuen mit ihm identifizieren – und sich über ihn auch miteinander als Masse identifizieren.
  • In der Faschismus- und Populismusforschung ist das Werk stark rezipiert worden.
  • 1921 erschienen, war es wegweisend für die empirische Sozialforschung der Frankfurter Schule.
  • Das Werk wird zu Freuds kulturtheoretischen Schriften gezählt.
  • Freud sieht in der Masse nur negative und regressive und nur wenige positive Seiten.
  • Freud war sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wohl bewusst, dass seine sozialpsychologische Studie gesellschaftspolitische Implikationen hatte.
  • Mit seinem Massenpsychologie-Aufsatz wendet sich Freud an eine breite Öffentlichkeit.
  • Der Text bietet auch eine anschauliche Einführung in die Psychoanalyse.
  • Zitat: „Eine (…) primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.“

Zusammenfassung

Was ist eine Masse?

Auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag, zwischen Individual- und der Sozialpsychologie gibt es keinen großen Unterschied. Das Verhalten des Einzelnen ist immer an seinen Mitmenschen orientiert: an Eltern oder Geschwistern, an Lehrern oder Ärzten. Die Massen- oder Sozialpsychologie ist noch jung. Sie untersucht, wie sich das Verhalten von Menschen verändert, wenn sie mit anderen Menschen zusammenkommen, die ihnen eigentlich fremd sind, mit denen sie aber doch etwas Wichtiges verbindet. Beispiele für Massen sind Völker, Rassen oder Stände. Es gibt aber auch spontane und temporäre Massenansammlungen, die durch ein bestimmtes Interesse zusammengeführt werden. Das Verhalten des Einzelnen in der Masse wird oft mit einem Sozialtrieb begründet. Die Psychoanalyse lehnt diese Idee ab: Das soziale Verhalten in der Masse ist nicht anders als das in der Familie – und muss aus diesem abgeleitet werden.

Während in stabilen Massen wie Gesellschaften oft ein hohes Maß an Sittlichkeit, Kreativität und intellektueller Leistungsfähigkeit herrscht, das teilweise gerade durch diese Gesellschaften erst entsteht, verhalten sich Menschen in spontanen Massen ganz anders. Die Soziologen Le Bon und McDougall kommen unabhängig voneinander zu den gleichen Beobachtungen: Die Masse verhält sich impulsiv, affektiv und neigt zu exzessiver Gewalt. Sie ist leichtgläubig und manipulationsanfällig, das intellektuelle Niveau sinkt stark ab. Solche Massen sind wie Kinder oder Wilde.

„(Die Masse) benimmt sich (…) wie ein ungezogenes Kind, oder wie ein leidenschaftlicher, nicht beaufsichtigter Wilder in einer ihm fremden Situation; in den schlimmsten Fällen ist ihr Benehmen eher das eines Rudels von wilden Tieren als von menschlichen Wesen.“ (S. 49)

Le Bon zeigt, dass in der Masse das kollektive Unbewusste das individuelle Bewusstsein ersetzt. Der Einzelne gibt sein eigenständiges Denken auf und geht stattdessen in einer Art „Kollektivseele“ auf. McDougall hebt insbesondere die „Affektsteigerung“ hervor: Innerhalb der Masse stecken sich alle gegenseitig mit ihren starken und primitiven Gefühlen an. Das hat etwas Zwanghaftes: Alle fühlen das Gleiche und niemand soll von dieser Einstimmigkeit abweichen. Die Wirkung dieser emotionalen Einheit ist eine neue Form von Autorität: Soziale Normen oder moralische Werte sind außer Kraft gesetzt. Wichtig ist nur mehr, was die Masse für richtig hält. Daraus ergibt sich das Allmachtgefühl, das für Massen so typisch ist.

Die Masse als eine Liebesbeziehung

Offensichtlich verändert sich das normale Verhalten des Einzelnen stark, wenn er in einer Masse aufgeht. Was sind die psychologischen Gründe dafür? Bisher lautete die landläufige Antwort der Massenpsychologie stets: Suggestion. Ein Begriff, der nie einheitlich definiert wurde. Recht allgemein gesprochen meint Suggestion Beeinflussung. Bisher hat die Psychologie nicht erklärt, was die Gründe für das Auftreten und den Erfolg von Suggestionen sind. Hierbei hilft ein Begriff aus der Psychoanalyse weiter: die Libido. Das ist eine Bezeichnung für die Affekte der Liebe, die in ihrer ursprünglichsten Form der erotischen Anziehung und der Sexualität entsprechen. Aber auch Selbstliebe, die Liebe zwischen Eltern und Kindern, die Liebe zur gesamten Menschheit oder zu abstrakten Ideen sind Teil der Libido. Für diese Vorstellung von Liebe ist die Psychoanalyse stark angefeindet worden – doch bereits Platon hat denselben Begriff von Liebe benutzt. Jedenfalls erscheint die Libido als vielversprechendster Ansatz, um die Funktionsweise der Massenseele zu erklären. Was die Einzelnen zu einer Masse zusammenbindet, sind Liebesbeziehungen – oder allgemeiner: Gefühlsbindungen.

Zur Unterstützung dieser These genügt ein Blick auf zwei hochkomplexe und große Massen: Kirche und Heer. Beide sind künstliche Massen: Sie müssen viel Zwang aufwenden, um ihren Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Die Mitgliedschaft ist meist nicht der freiwilligen Entscheidung des Einzelnen überlassen und beide Massen werden von Oberhäuptern geführt.

„Merken wir an, daß an diesen beiden künstlichen Massen jeder einzelne einerseits an den Führer (Christus, Feldherrn), andererseits an die anderen Massenindividuen libidinös gebunden ist.“ (S. 58)

Die Abhängigkeit der Massen von Führerfiguren wurde in der Massenpsychologie bislang noch zu wenig betrachtet. Dabei beruhen sowohl Kirche wie Heer auf der Illusion, dass ein einziges Oberhaupt die Masse leitet – und dass dieses Oberhaupt alle Mitglieder gleichermaßen väterlich liebt. Außerdem liebt jeder Einzelne alle anderen Massenmitglieder und fühlt sich von ihnen geliebt. Dieses starke Zusammengehörigkeitsgefühl gibt Kirche und Heer ihren familiären Charakter.

Identifizierung und Verliebtheit

Die einmütige Harmonie der Masse überrascht, wenn man bedenkt, wie sich im Alltagsleben in jeder Ehe und Großfamilie, zwischen jedem noch so kleinen Dorf und der Nachbarsiedlung, zwischen Regionen und Staaten Streitereien und Feindschaften ausbilden. Die Menschen suchen die Nähe anderer, halten es aber nie lange friedlich miteinander aus. Auch fühlt jeder Mensch grundsätzlich eine „narzisstische Eigenliebe“, die die Massenbindung allerdings außer Kraft zu setzen scheint. Die Psychoanalyse lehrt, dass sowohl Selbstliebe als auch Intoleranz anderen gegenüber nur in libidinösen Beziehungen überwunden werden kann: wenn Menschen verliebt oder sexuell erregt sind. Doch offenkundig besteht die Verbindung der Massenindividuen nicht auf sexueller Ebene. Sie beruht auf einer anderen Art von Liebesbeziehung: der Identifizierung.

Aus der psychologischen Entwicklung des Kindes wissen wir: Ein Junge identifiziert sich mit seinem Vater, möchte so werden wie er. Identifizierung ist daher die ursprünglichste Liebesbeziehung. Sie umgeht die libidinös-sexuelle Bindung, denn man will das geliebte Objekt nicht haben, sondern so wie es werden. Die Identifizierung kann mit jeder weiteren Person erneut eintreten, wenn diese eine Gemeinsamkeit mit dem Objekt der Identifizierung aufweist. Für die Masse bildet diese Gemeinsamkeit die Bindung an den Führer.

Eine (…) primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.“ (S. 78)

Letztlich ist die Identifikation nicht von extremen Formen der Verliebtheit zu unterscheiden. Diese führen bekanntermaßen zur Idealisierung, zu einer verklärten Übersteigerung des Angebeteten. Das kann auch ohne direkte sexuelle Begierde stattfinden – das geliebte Objekt wirkt unerreichbar, wodurch die Liebesbindung dauerhafter und stabiler wird. Das geliebte Objekt verkörpert Eigenschaften, die man selbst gern hätte – es wird zum „Ichideal“. Damit verliert das Subjekt alle Fähigkeit zur Eigeninitiative und Kritik. Es verhält sich vollkommen unterwürfig, als wäre es hypnotisiert. Tatsächlich liefert die Hypnose das Modell der Massenbildung. Der Hypnotiseur ist der Führer. Die Massenindividuen setzen dasselbe Objekt – den Führer – an die Stelle ihrer Ich-Ideale und identifizieren sich über dieses gemeinsame Ideal miteinander.

Der Herdentrieb

Spontane Massenansammlungen zeichnen sich durch eine allgemeine Regression, also quasi eine Rückentwicklung der Massenindividuen aus: In der Masse werden sie enthemmt, neigen zu Grenzüberschreitungen und verlieren ihre kritische Selbstständigkeit. Das lässt sich auch in der normalen Alltagsgesellschaft beobachten, in der Individuen ihr Denken und Fühlen meist dem der öffentlichen Meinung und den Normen der „Massenseele“ unterordnen. Nicht nur zwischen Führer und Masse besteht eine Beziehung der Identifizierung, sondern auch innerhalb der Masse selbst. Trotter hat dieses Phänomen durch einen Herdentrieb oder Herdeninstinkt erklärt. Für ihn ist der Herdentrieb ein primärer Grundtrieb wie der Selbsterhaltungstrieb. Diese Einschätzung teilt die Psychoanalyse nicht. Ein Grund dafür lässt sich im Kindesalter beobachten: Zu Anfang ist ein Kind ausschließlich auf seine Eltern bezogen – und nicht auf jeden Menschen gleichermaßen. Erst später bildet sich ein Massengefühl, wenn viele Kinder um die Aufmerksamkeit desselben Erwachsenen ringen, etwa bei Geschwistern oder in der Schule. Jedes Kind will die volle Anerkennung und Aufmerksamkeit des Oberhaupts der Gruppe, des Lehrers oder Gruppenleiters. Da aber kein einzelnes Kind diesen Sonderstatus je erlangen kann, beginnen die Kinder, sich als gleichgestellt zu sehen – sie identifizieren sich miteinander. Die Konsequenz dieser Identifizierung ist die lautstarke Forderung nach gleicher Behandlung aller.

„Was man (…) später in der Gesellschaft als Gemeingeist (…) wirksam findet, verleugnet nicht seine Abkunft vom ursprünglichen Neid. Keiner soll sich hervortun wollen, jeder das gleiche sein und haben.“ (S. 82)

Neid und Eifersucht verwandeln sich so in den positiven „Gemeingeist“, der später in der Gesellschaft die Grundlage für das Gefühl sozialer Gerechtigkeit bildet. Jeder soll gleich viel haben, niemand soll bevorzugt werden. Das ursprünglich feindselige Gefühl der Konkurrenz um die Liebe eines Führers wird durch die Identifizierung mit den anderen liebenden Individuen zum sozialen Gefühl des Miteinanders. Der Mensch ist also kein Herden-, sondern ein „Hordentier“: Er reiht sich unter seinesgleichen ein, in eine Gesellschaft, die von einem Oberhaupt geführt wird. Dieses Oberhaupt ist von der allgemeinen Gleichheitsforderung ausgenommen.

Die Masse und die Urhorde

Die Psychoanalyse hat von Charles Darwin die Idee der Urhorde übernommen. In den Anfangszeiten der Menschheit wurden die menschlichen Gruppen von Alphamännchen dominiert und angeführt. Diese urzeitliche Prägung hat sich in der menschlichen Psyche tief eingebrannt. Es liegt nahe, die Urhorde mit der modernen Masse zu vergleichen: einerseits, weil der Einzelne in der Masse auf ein primitives Entwicklungsniveau zurücksinkt; andererseits, weil die Masse ebenso auf den Führer fixiert ist wie die Urhorde auf den Anführer. Die Masse ist nichts weniger als das „Wiederaufleben“ der Urhorde – was bedeutet, dass die Massenpsychologie die „älteste Menschenpsychologie“ überhaupt ist. Auch die Individualpsychologie reicht damit bis in die Urzeit zurück, denn die Mechanismen der Massenpsychologie fanden nur bei den Hordenmitgliedern Anwendung. Ihr Anführer dagegen – der Urvater – war ein freies und starkes Individuum und damit ein Individuum der Individualpsychologie. Er war selbstsüchtig und herrisch. Wahrscheinlich machte er die übrigen Gruppenmitglieder zu seinen Untertanen, indem er sie zwang, auf Sex zu verzichten. Dadurch konnten sich idealisierte Liebesbeziehungen entwickeln, zwischen allen Gruppenmitgliedern genauso wie zwischen der Urhorde und dem Urvater. 

„Der Urvater hatte seine Söhne an der Befriedigung ihrer direkten sexuellen Strebungen verhindert; er zwang sie zur Abstinenz und infolgedessen zu den Gefühlsbindungen an ihn und aneinander (…). Er zwang sie sozusagen in die Massenpsychologie.“ (S. 86)

Durch sein Sexverbot zwang er seine Urhorde in die psychologischen Strukturen der Masse. Der Hordenführer beanspruchte die sexuelle Befriedigung ausschließlich für sich. Er muss brutal und rachsüchtig gewesen sein, denn nur durch Zwang und Angst konnte er seine unumschränkte Herrschaft aufrechterhalten. Durch die ständige Androhung von Bestrafungen zog das Oberhaupt alle Aufmerksamkeit der Gruppenmitglieder auf sich – genauso wie ein Hypnotiseur seine verzaubernde Wirkung erzielt, indem er alle Aufmerksamkeit des Hypnotisierten von der Welt abzieht und auf sich selbst lenkt. Genauso betört auch der Führer die Massen – und schüchtert sie gleichzeitig ein. Das erklärt, weshalb auch die moderne Masse derart „autoritätssüchtig“ agiert.

Das Ich-Ideal

Diese gesamte Analyse beruht auf der Entdeckung einer neuen Stufe im psychischen Leben des Individuums: der des Ich-Ideals. Das Ich-Ideal entsteht im Lauf der Entwicklung, wenn bestimmte Anteile des Ich ins Unbewusste ausgelagert werden. Es setzt sich zusammen aus allen Verboten und Einschränkungen, die sich das Ich auferlegen muss. Jeder Mensch ist Teil von vielen Massen, etwa von sozialen Klassen, Rassen oder Glaubensgemeinschaften. Und jeder dieser Gesellschaftsbereiche stellt seine eigenen Ansprüche an den Menschen. An diesen Normvorstellungen muss er sich ständig abarbeiten. Daher wird der Anspruch des Ich-Ideals üblicherweise als frustrierend und anstrengend erlebt. Nur wenn einzelne Teile des Ich mit dem Ich-Ideal in Übereinstimmung geraten, erfährt das Individuum euphorische Hochgefühle und Befriedigung. Genau das passiert in der spontanen Masse. Wenn sich das Ich mit dem Ich-Ideal des Führers identifiziert, fühlt es sich geliebt und in einer Gemeinschaft aufgehoben.

„Das Ichideal umfaßt (…) die Summe aller Einschränkungen, denen das Ich sich fügen soll, und darum müßte die Einziehung des Ideals ein großartiges Fest für das Ich sein, das dann wieder einmal mit sich selbst zufrieden sein dürfte.“ (S. 93)

Das erklärt die hohe Anfälligkeit aller Menschen für Führerfiguren und spontane Massenbildungen. Besonders empfänglich sind sie für Personen, die Eigenschaften, die für sie selbst typisch sind, besser verkörpern, als sie selbst es tun. Dazu wirken Führerfiguren selbstbestimmter, stärker oder freier. Solche Personen werden besonders gern und effektiv zu Oberhäuptern, zu Führern erwählt, da sie der Identifizierung mit ihnen kaum Hindernisse in den Weg legen. Die Masse funktioniert deshalb wie die Hypnose – sie ersetzt das Ich-Ideal mit einem Objekt und hemmt die direkten Sexualbestrebungen zu diesem Objekt. Zusätzlich jedoch führt die Massenbildung noch zu einer Identifizierung mit zahlreichen anderen Massensubjekten. Beide Mechanismen sind tief in der libidinösen Natur des Menschen verankert und können deshalb auch jederzeit wieder zum Vorschein kommen. Die Massenbindung ist keine Neurose. Denn in der Masse sind alle Sexualtriebe vollkommen zielgehemmt worden, während die Neurose gerade daraus erwächst, dass noch nicht alle sexuellen Begierden zum Objekt gehemmt worden sind.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Essay Massenpsychologie und Ich-Analyse besteht aus zwölf Kapiteln, wobei das letzte eine Sammlung von Nachträgen ist. In jedem Kapitel versucht Freud, einen klar umrissenen Teilaspekt seines Themas einzukreisen und mithilfe der Psychoanalyse zu erklären. Die ersten Kapitel beschäftigen sich mit wissenschaftlichen Vorarbeiten einiger Zeitgenossen. Freud nähert sich dem Begriff der Masse über eine Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Theorien. Minutiös arbeitet er danach die verschiedenen Formen von Massen und ihre wichtigsten Eigenschaften heraus. Parallel dazu führt er in die wichtigsten Ideen der Psychoanalyse ein und erklärt mit ihnen Aspekte der Masse, die von seinen Vorgängern noch nicht erklärt werden konnten. Massenpsychologie und Ich-Analyse ist aber nicht nur für ein wissenschaftliches Fachpublikum geschrieben worden. Es richtet sich mindestens ebenso stark an die breite Öffentlichkeit. Deshalb bietet Freud all seine stilistischen Stärken auf und gestaltet seine Argumentation möglichst voraussetzungsfrei. Auch Leser, die keine Vorkenntnisse über Psychoanalyse besitzen, können den Ausführungen auf Anhieb folgen. Deshalb eignet sich der anschaulich geschriebene Text auch gut als Einstieg in die Psychoanalyse.

Interpretationsansätze

  • Innerhalb von Freuds Gesamtwerk wird Massenpsychologie und Ich-Analyse zu den Schriften zur Kulturtheorie gezählt. In diesen Werken versucht Freud, die psychologischen Erkenntnisse der Psychoanalyse auf gesellschaftliche Phänomene anzuwenden.
  • Freud bezieht bestehende psychologische Deutungen der Masse in ein fundamentalpsychologisches System ein. Dabei werden die teils anekdotischen Beobachtungen seiner Vorläufer – etwa Nietzsche, Marx oder Le Bon – begründet und wissenschaftlich erklärt.
  • Der Essay ist der einzige Text Freuds, der sich der Soziologie zurechnen lässt. Dabei war die Soziologie zu Beginn der 1920er-Jahre noch gar nicht als eigenständige Wissenschaft etabliert und Freud hatte die Arbeiten von August Comte oder Max Weber noch nicht gelesen.
  • Die disziplinäre Vielfalt des Textes sicherte ihm eine besonders weitgefächerte Rezeption. Freud nimmt in Massenpsychologie und Ich-Analyse Perspektiven der Anthropologie, der politischen Psychologie und der Kulturtheorie ebenso ein wie evolutionsbiologische und soziologische Blickwinkel.
  • Eine der zentralen Fragen des Textes ist die nach der Entstehung und Funktionsweise von Demagogie, also nach der Anfälligkeit von Massen für Manipulation und Radikalisierung durch charismatische Führerfiguren.
  • Auffallend ist Freuds Neigung zu einer kulturpessimistischen Beurteilung. Wie die meisten Intellektuellen seiner Zeit sah Freud im Phänomen der Masse viele regressive, autoritätsgläubige und gewalttätige Tendenzen und eher wenig positives Potenzial.

Historischer Hintergrund

Der Aufstieg der Masse als politisches Phänomen

Die politische und gesellschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts war geprägt durch den Aufstieg der Demokratie und die Industrialisierung. Das Zeitalter der göttlich legitimierten absolutistischen Herrscher neigte sich dem Ende zu, während die vormals machtlosen Bevölkerungsgruppen der Bauern und Bürger immer lauter ihr Recht auf politische Mitgestaltung einforderten. Die bürgerlichen Revolutionen der Jahre 1830/1831 und 1848/1849 machten diesen Anspruch in ganz Mitteleuropa deutlich. Parallel dazu entstand im Zuge der Industrialisierung eine neue Bevölkerungsschicht, die Arbeiter, die sich vor allem ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls politisch zu organisieren begann – zunächst in Vereinen, danach in politischen Parteien. 1864 wurde in London die erste internationale Arbeiterassoziation gegründet, 1869 in Deutschland die sozialdemokratische Arbeiterpartei.

Das rasante Wachstum der Städte und die neu entstehende Parteien- und Zeitungslandschaft führten zu einer Zunahme öffentlicher Debatten und einer Politisierung weiter Teile der Bevölkerung. Die Masse der Bevölkerung begann sich als politischer Akteur zu verstehen. Charismatische Redner übten in allen politischen Lagern ihren Einfluss aus. Diese Tendenz beschleunigte sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918, das das endgültige Aus der Monarchien bedeutete. In Mitteleuropa entstanden demokratische Republiken, in denen das Volk regieren sollte – in vielen Ländern zum ersten Mal. In Russland regierte ab der Oktoberrevolution 1917 die Massenbewegung des Kommunismus.

Entstehung

Der Aufstieg von sozialen Massen zu politischen Akteuren prägte das politische Geschehen Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso wie die Debatten der Intellektuellen. Auch der psychoanalytische Wiener Kreis um Sigmund Freud widmete sich dieser neuartigen Entwicklung. Im März 1919 hielt Paul Federn einen Vortrag vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, in dem er die Arbeiterbewegung mit den Mitteln der Massenpsychologie zu fassen versuchte. Noch im selben Jahr arbeitete er seine Thesen in dem Buch Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft weiter aus.

Federns Optimismus konnte Sigmund Freud nicht teilen. Sein Urteil über die Volksmassen und ihre Manipulierbarkeit durch charismatische Führer fiel deutlich pessimistischer aus und orientierte sich sehr stark an Gustave Le Bon. Der französische Soziologe hatte 1895 das Buch Psychologie der Massen publiziert und damit einen Grundstein für die Massenpsychologie gelegt. Die Innovation dieses Werks bestand nicht nur darin, die neue soziale Instanz der Masse in den wissenschaftlichen Diskurs einzuführen, sondern auch darin, Soziologie und Psychologie zu verbinden. 1912 war das Werk ins Deutsche übersetzt worden. Es beeindruckte Freud ebenso wie William McDougalls The Group Mind von 1920, von dem er sich aber stärker absetzte als von Le Bon. Freuds eigene Schrift zum Thema erschien 1921 im Internationalen Psychoanalytischen Verlag in Wien.

Wirkungsgeschichte

Im März 1923 schickte Freud ein signiertes Exemplar seines Essays an den bekannten Pazifisten Romain Rolland, der sehr wohlwollend reagierte. Freud war es sehr wohl bewusst, dass seine sozialpsychologische Studie umfassende gesellschaftspolitische Implikationen hatte. Diese wurden in den folgenden Jahren immer aktueller durch die Machtübernahme faschistischer Parteien in Italien, Spanien und Deutschland. In der literarischen und theoretischen Auseinandersetzung mit diesen gesellschaftspolitischen Umbrüchen erwies sich Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse als wichtige Orientierungshilfe. Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer von 1930 wird häufig als literarische Verarbeitung der Massenpsychologie gelesen. Wilhelm Reich erweiterte Freuds Ansatz 1933 in seinem Buch Die Massenpsychologie des Faschismus um ökonomische, pädagogische und sexualtheoretische Forschungen.

Eine ähnliche Erweiterung der Freud’schen Sozialpsychologie nahm auch die frühe Frankfurter Schule vor. In ihren zahlreichen empirischen Studien der 1930er- und 1940er-Jahre bezogen sich Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm und andere Mitglieder der Frankfurter Schule durchgehend – wenn auch teilweise kritisch – auf Freud. Vor allem durch ihre Arbeiten bleibt Freuds Massenpsychologie bis heute relevant für die Kultur- und Politikwissenschaften. 1981 forderte der französische Sozialpsychologe Serge Moscovici in seinem Buch Das Zeitalter der Massen eine Wiederentdeckung der Massenpsychologie: Nur so könnten die gesellschaftlichen Probleme im Zeitalter der Globalisierung verstanden werden. Heute gilt Massenpsychologie und Ich-Analyse als wichtigster Beitrag Freuds zur Sozialpsychologie und politischen Psychologie, vor allem zu den Themen Demagogie und Manipulierbarkeit von Massen, aber auch zur Frage nach den Wurzeln der Aggressionsbereitschaft selbst aufgeklärter Kulturen.

Über den Autor

Sigmund Freud wird am 6. Mai 1856 im mährischen Freiberg, in der heutigen Tschechischen Republik, geboren. Sein Vater ist ein erfolgreicher jüdischer Kaufmann. Vier Jahre nach Sigmunds Geburt zieht die Familie nach Wien. Hier absolviert Freud das Gymnasium und beginnt anschließend ein Medizinstudium. Von 1876 bis 1882 ist er als Assistent im physiologischen Laboratorium tätig und erforscht unter anderem das Nervensystem von Aalen. Seine Promotion erhält er 1881. Im Jahr darauf lernt er seine spätere Frau Martha Bernays kennen. Nach einigen Jahren am Allgemeinen Krankenhaus fährt er 1885 nach Paris, um sich vom dortigen Professor Charcot in der Kunst der Hypnose ausbilden zu lassen. In Paris setzt er sich mit der Hysterie als Krankheit auseinander – und lernt, wie diese mithilfe der Hypnose ansatzweise kuriert werden kann. 1886 kehrt Freud nach Wien zurück und eröffnet seine Privatpraxis. Zusammen mit Josef Breuer veröffentlicht er 1895 die Studien über Hysterie. Gleichzeitig beginnt er, seine eigenen Träume zu analysieren. 1896 bezeichnet er seine Therapieform zum ersten Mal mit dem Begriff „Psychoanalyse“. 1900 erscheint Die Traumdeutung, Freuds erste größere theoretische Arbeit. In Wien gründet er zusammen mit einigen Anhängern die Psychoanalytische Gesellschaft. Jahrbücher und Kongresse folgen und ein enger Kreis von Freudianern schart sich um den Wiener Psychoanalytiker. Doch ab 1911 verlassen ihn einige Mitglieder, unter ihnen Alfred Adler und Carl Gustav Jung, weil sie sich von Freuds teilweise dogmatischen Ansichten unter Druck gesetzt fühlen und eigene Theorien vertreten. Trotz eines Krebsleidens bleibt Freud hochproduktiv. Zu seinen wichtigsten Schriften gehören Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), Totem und Tabu (1913), Jenseits des Lustprinzips (1920), Das Ich und das Es (1923) sowie Das Unbehagen in der Kultur (1930). Nach Hitlers Einmarsch in Österreich flieht Freud nach London, wo er am 23. September 1939 an einer Überdosis Morphium stirbt.

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