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Unterwelt

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Unterwelt

KiWi,

15 min read
10 take-aways
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What's inside?

Don DeLillos großer Roman zur Weltordnung der Jahrtausendwende – ein literarisches Jahrhundertereignis.

Literatur­klassiker

  • Roman
  • Postmoderne

Worum es geht

Don DeLillo zeigt sich in Unterwelt auf dem Gipfel seines Könnens. Der Roman erzählt ein halbes Jahrhundert US-Geschichte, er verknüpft Fiktion mit realen Ereignissen. Ein ganzer Chor von Stimmen erzählt Geschichte und Antigeschichte, verbindet die italienische Welt der Bronx mit der scheinbar losgelösten Sphäre der Kunst über den Dächern New Yorks bis hin zu den Atompilzen, die weit in den Himmel reichen. DeLillo wühlt im Müll unserer Existenz. Was übrig bleibt vom Kalten Krieg, sind nicht nur Unmengen atomaren Abfalls, der noch lange in die Zukunft strahlt. Es sind auch zerrüttete Beziehungen, das typisch amerikanische Streben nach Glück, große Entwürfe und redliches Streben. DeLillo übt mit seiner Literatur Medien- und Konsumkritik und widersetzt sich erklärtermaßen dem Druck der Mächtigen. Er entlarvt die Realität, scharf und zugleich in einer musikalischen Sprache. Unterwelt ist groß, poetisch, anrührend und fesselnd.

Take-aways

  • Unterwelt von Don DeLillo ist der große US-amerikanische Roman zur Weltordnung der Jahrtausendwende.
  • Inhalt: Nick Shay wächst in der Bronx auf. Gelegenheitssex bringt ihn mit Klara Sax zusammen. Nick tötet einen Mann, wird geläutert, gründet eine Familie und arbeitet als Müllmanager. Nicks Leben und das zahlreicher anderer Personen ist verknüpft mit der Geschichte eines legendären Baseballs. 
  • Unterwelt ist eine Herausforderung: 1000 Seiten dick, nicht linear erzählt, ein postmodernes Kaleidoskop von Stimmen, Perspektiven und Anekdoten.
  • Die Geschichte entwickelt sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges: atomares Wettrüsten, Angst und Paranoia, Kriege in Korea und Vietnam, die Kubakrise und der Mord an John F. Kennedy.
  • DeLillo verwebt eine fiktive Geschichte mit realen Ereignissen und historischen Figuren.
  • Die titelgebende Unterwelt besteht aus Subkulturen und Gangstermilieus ebenso wie aus atomarem Müll und den Abfallprodukten der Konsumkultur.
  • Müll ist das zentrale Motiv des Buches: vom Atommüll des Kalten Krieges bis hin zu den Überresten zwischenmenschlicher Beziehungen.
  • DeLillo wurde 1936 in der Bronx geboren. Unterwelt ist sein persönlichstes Buch.
  • DeLillos Credo ist, dass ein Autor sich dem widersetzen muss, was die Macht ihm aufzwingen will.
  • Zitat: „Was wir ausscheiden, kehrt zurück, um uns zu zerstören.“

Zusammenfassung

Prolog: Der Triumph des Todes

Am 3. Oktober 1951 spielen die Brooklyn Dodgers gegen die New York Giants. Cotter Martin, ein farbiger Junge aus der Bronx, schwänzt die Schule und überspringt mit einer Gruppe von anderen die Drehkreuze, um live im Stadion dabei zu sein.

Dort sind unter anderem Frank Sinatra und der FBI-Direktor J. Edgar Hoover. Mitten im Spiel erfährt Hoover von einem sowjetischen Atomtest. Ihm wird eine Magazinseite vor die Füße geweht. Sie zeigt das Gemälde Der Triumph des Todes. Hoover grübelt über die russische Bombe und die Darstellung von Gier, Geilheit, Völlerei und Tod auf dem Bild. Die Giants gewinnen mit einem legendären Homerun. Cotter ergattert den Ball, der bei dem Schlag über das Spielfeld hinausgeflogen ist. Nachts jedoch, daheim in der Bronx, klaut sein Vater Manx Martin dem schlafenden Jungen seine Trophäe, um den Ball zu Geld zu machen. 

Teil 1 – Long Tall Sally (1992)

Nick Shay, 57 Jahre alt, fährt in die Wüste. Es sucht die 72-jährige Klara Sax, mit der er als 17-Jähriger eine kurze sexuelle Begegnung hatte. Er will sie wissen lassen, dass er seine Vergangenheit, die Kindheit in der Bronx und die Fehler seiner Jugend hinter sich gelassen hat. Klara bemalt die ausrangierten Bomber auf einem Flugzeugfriedhof in der Wüste. Sie verwandelt den Müll des Kalten Krieges in Kunst. Die Flieger haben noch aus Kriegszeiten Zeichnungen auf der Spitze, von Tieren, militärischen Einheiten oder Pin-up-Mädchen. Eine davon ist Long Tall Sally, nach der sich das gesamte Projekt benennt. Es soll ein Zeichen gegen den Tod sein, und die Wüste mit den Spuren Tausender Atomtests ist ein zentraler Bestandteil davon.

Nick trennt bei sich zu Hause akribisch Aluminium, Papier und verschiedenes Glas – wie ein Profi. Nicht von ungefähr, denn er arbeitet in einer Müllverwertungsfirma. Das Müllgeschäft boomt, sei es das Verklappen nuklearen Mülls unter der Erde oder die weltweite Verschiffung von Giftmüll.

„Wir waren die Kirchenväter des Mülls in all seinen Wandlungen.“ (Nick, S. 133)

Nick und seine Kollegen Brian Glassic und Big Sims besuchen ein Spiel der Dodgers in Los Angeles. Beim Essen reden sie über das Spiel von 1951. Es ist ein historisches Ereignis, ähnlich wie der Mord an John F. Kennedy: Man weiß genau, wo man damals gewesen ist. Nick besitzt heute den Ball, der damals in die Ränge geschlagen wurde. Big Sims glaubt, dass Nick sich hat übers Ohr hauen lassen. Brian hingegen weiß, wie Nick zu dem Ball gekommen ist, und beteuert dessen Authentizität. Er weiß auch, was der Ball Nick bedeutet: Die Dodgers haben damals verloren und für Nick ist der Ball ein Zeichen des Verlierens. Ohne genau zu wissen, warum, musste er den Ball haben. Manchmal nimmt er ihn andächtig in die Hand. 34 500 Dollar hat er dafür bezahlt.

Teil 2 – Elegie für die linke Hand (80er- und 90er-Jahre)

Nicks Frau Marian beginnt eine Affäre mit Brian. Der wiederum besucht den krebskranken Sammler Marvin Lundy, der ein Freund antikommunistischer Verschwörungstheorien ist, um sich dessen Baseballsammlung im Keller anzusehen. Zu dieser Sammlung gehört auch der legendäre Ball des Homeruns von 1951. Minutiös hat Marvin die Herkunft des Balls bis zurück zum Tag nach dem Spiel und zu einem gewissen Charles Wainwright rekonstruiert. Ihm fehlt aber das letzte Glied in der Kette, die tatsächliche Verbindung zum Spiel selbst. Trotzdem ruft Nick, der durch Brian von dem Ball erfahren hat, ihn einige Monate danach an, um den Ball zu kaufen.   

Nick will seine Mutter Rosemary zu sich nach Phoenix holen – gegen den Willen der Mutter und seines ihm entfremdeten Bruders Matt Shay, der dafür plädiert, die Mutter in ihrer vertrauten katholisch-italienischen Umgebung in der Bronx zu lassen. Während Nick überzeugt ist, dass sein Vater Jimmy von Gangstern ermordet wurde, akzeptieren die Mutter und Matt, dass der Vater die Familie verlassen hat. Als kleiner, inoffizieller Wettanbieter verzockte er sich mit einer Wette gegen die Quote und nutzte die Gelegenheit, um unterzutauchen und den Verantwortungen eines Familienvaters zu entfliehen.

Ein Kind hat zufällig auf Video aufgenommen, wie ein Autofahrer willkürlich vom Texas Highway Killer erschossen wird. Das Video läuft ununterbrochen im TV. Der Serienmörder ruft sogar live im Nachrichtenstudio an. Matt, ein Vietnamveteran und Schach-Ass, besucht seinen alten Lehrer und Mentor Albert Bronzini, den Ex-Mann von Klara Sax, und isst danach mit seiner Mutter Rosemary zu Abend. Albert sinniert derweil über das Wesen der Zeit, über Bestattungen im Weltraum, über die positiven Veränderungen in der Bronx und seine schwierigen Beziehungen zu Frauen. Für eine Dienstreise nach Houston packt sich Nick ein Magazin mit einem Artikel über Klara Sax ein. Richard Henry Gilkey, der unbekannte Texas Highway Killer, trifft sich mit einem Freund und denkt währenddessen übers Schießen nach: mit der rechten oder linken Hand, stehend oder fahrend. Er wohnt zu Hause, sein Vater ist krank. Am nächsten Morgen verlässt er früh das Haus, zieht sich einen weißen Damenhandschuh über die linke Hand und setzt sich ins Auto.

Teil 3 – Die Wolke der Unwissenheit (1978)

Nick besucht mit Big Sims eine Müllkonferenz in Los Angeles. Sie teilen sich das Konferenzhotel mit einer Gruppe Swinger, die zum Partnertausch angereist ist. Es gibt ein kurzes Erdbeben. Nick und Sims sprechen über ein Müllgeisterschiff, das seit Jahren auf den Weltmeeren kreuzt, schon mehrfach Flagge und Namen gewechselt hat und nirgendwo anlanden darf. Beladen ist es nicht etwa mit Giftmüll oder Drogen, sondern mit menschlichen Exkrementen.

„Ich bin immer mein eigenes Land gewesen.“ (Nick, S. 355)

Der Müll-Archäologe Jesse Detwiler referiert über Müll als das bestgehütete Geheimnis der Welt. Er plädiert für eine Architektur des Mülls und, konsequent zu Ende gedacht, für Mülltourismus. Seiner Meinung nach werden Touristen den giftigsten Müll der Welt sehen wollen. Müll treibt ganze Städte in die Höhe und bringt eigene soziale Schichten hervor. Detwiler ist ein obsessiver Mülltheoretiker und war in den 1960er-Jahren ein Müllguerillero, der verhaftet wurde, als er den Müll von J. Edgar Hoover klaute. Nick begegnet der Swingerin Donna, mit der er schließlich Sex hat. Vorher gesteht er ihr, in seiner Jugend einen Menschen umgebracht zu haben.

„Konsumier oder stirb. Das ist der Auftrag der Kultur.“ (Jesse Detwiler, S. 372)

Marvin Lundy versucht in San Francisco vergeblich, Chuckie Wainwright zu treffen. Bis zu dessen Ex-Frau hat er die Linie des Balls rekonstruiert. Am Pier liegt ein bestialisch stinkendes Schiff vor Anker. Marvin erinnert sich an seine Flitterwochen im Nachkriegseuropa, als er in Osteuropa einen verschollenen Halbbruder ausfindig machte und mit diesem in einem dreitägigen ideologischen Streit versank.

„Der Ball (…) war ein Ding auf der Durchreise. Aber er brachte die Leute dazu, Marvin Sachen zu erzählen (…). Ihre Geschichten würden von etwas Größerem veredelt, (…) von dem langen Bogen des Balls und seinem eigenen, schieläugigen Marsch durch die Jahrzehnte.“ (S. 412)

Manx Martin, als Kleptomane verschrien, versucht 1951 den Ball bei seinem üblichen Hehler zu Geld zu machen. Ein Straßenprediger warnt vor der Atomkatastrophe, die nur Insekten überleben werden. In New York streiken die Müllmänner. Das Auto von Manx’ Hehler ist voller Müll, den er irgendwo abladen soll, dafür bekommt er Geld. Er lässt Manx am Stadion der Yankees raus, wo Hochbetrieb herrscht: Die Leute stehen die ganze Nacht an, um Tickets für das nächste Spiel der World Series zu ergattern – entweder für sich selbst oder um sie zu Wucherpreisen weiterzuverkaufen.

Teil 4 – Cocksucker Blues (1974)

Klara Sax verlebt den Sommer auf ihrer Dachterrasse. In der Ferne sieht man das World Trade Center in die Höhe wachsen. Klara ist 54 Jahre alt, lebt von ihrem Mann Albert getrennt und hat einen eher distanzierten Kontakt zu ihrer gemeinsamen Tochter. Sie erwirbt sich Anerkennung in der New Yorker Kunstszene: Alle Welt spricht über den Film Cocksucker Blues, eine Dokumentation über die Rolling Stones. Matt arbeitet in New Mexico für die Regierung. Er macht Risikofolgenabschätzungen anhand realer Daten, simuliert Atomunfälle – und zweifelt, ob das der richtige Job für ihn ist. Manchmal möchte er seinen Bruder anrufen, tut es aber nicht. Sein Kollege Eric Deming verbreitet Gerüchte von Missbildungen, Krebserkrankungen, Nierenversagen, die er selbst nicht glaubt. Aber er muss obsessiv darüber reden. Er fragt sich, ob man die Kinder in den Schulbunkern vor dem Fallout sowjetischer oder amerikanischer Bomben schützt. Man munkelt von Atomtests an unwissenden Personen. Matt war als Freiwilliger in Vietnam, er hält vieles für möglich. Außerdem weiß keiner besser als er, dass menschliche Berechnungen fehlbar sind und kein Risiko wirklich kalkulierbar ist. 

„Man darf die Bereitschaft des Staates niemals unterschätzen, die eigenen massiven Fantasien in die Wirklichkeit umzusetzen.“ (Eric, S. 545)

Klara geht zur Vorführung eines bis dato verschollenen Eisenstein-Films namens Unterwelt. In dem Film sind Krüppel zu sehen, ein Mensch verliert seinen Arm durch eine Strahlenwaffe. Klara fragt sich, ob Eisenstein die atomare Bedrohung vorhersah. Sie fühlt sich an Strahlenmonster aus japanischen Filmen erinnert und hat ein klaustrophobisches Gefühl von Einsamkeit. Bei einer anderen Gelegenheit sieht sie eine Videoinstallation mit den bis dahin geheim gehaltenen Aufnahmen von Kennedys Ermordung.

Teil 5 – Bessere Produkte für ein besseres Leben (50er- und 60er-Jahre)

November 1952: Nick sitzt wegen fahrlässiger Tötung im Gefängnis. Er verhält sich vorbildlich und liest viel. Oktober 1962: Der Stand-up-Comedian Lenny Bruce tritt in Los Angeles auf. Mitten in der Kubakrise kreischt er dem Publikum wieder und wieder entgegen: „Wir werden alle sterben!“ Juli 1953: Nick wird zu den Jesuiten nach Minnesota geschickt. Oktober 1957: Während seine Mutter mit Jell-O in süßen und deftigen Variationen experimentiert, holt sich Eric Deming über einem Foto von Jayne Mansfield einen runter. August 1964: Protesten der schwarzen Bevölkerung begegnet die Polizei mit Gewalt. Dezember 1961: Charles Wainwright, Manager einer Werbeagentur auf der Fifth Avenue, feuert die Leute am laufenden Band, fürchtet aber zugleich, bald selbst zum alten Eisen zu gehören. In seinem Büro verwahrt er den Ball vom Spiel 1951. Er will ihn seinem Sohn Chuckie vermachen, hat aber Zweifel, ob dieser das Objekt wirklich wertschätzen wird. Januar 1955: Nick lernt bei den Jesuiten Latein und eigenständiges Denken, genaues Hinsehen und das Benennen der Dinge. Pater Paulus erteilt ihm eine Lektion fürs Leben, als er ihn Wort für Wort alle Bestandteile eines Stiefels benennen lässt.

„Du hast das Ding nicht gesehen, weil du nicht weißt, wie man hinsieht. Und du weißt nicht, wie man hinsieht, weil du nicht weißt, wie die Dinge heißen.“ (Pater Paulus zu Nick, S. 707)

November 1966: J. Edgar Hoover geht zu einem Ball von Truman Capote im Plaza Hotel. Draußen protestieren Demonstranten gegen den Krieg und die Guerilla hat es auf seinen Müll abgesehen. Frank Sinatra ist auch da, Andy Warhol trägt eine Maske, die ein Foto seines Gesichts ist. Lenny Bruce wurde wenige Monate zuvor tot aufgefunden. Juli 1959: Nick und seine Freundin reisen für eine illegale Abtreibung außer Landes. Oktober 1967: Marian wird Zeugin der Proteste gegen Dow Chemicals und der Polizeigewalt gegen Studenten. Sie sagt Nick am Telefon, dass sie ihn heiraten will. Das Telefongespräch wird nach kurzem, peinlichem Schweigen beendet. Dezember 1969: Chuckie ist Bomberpilot. Auf der Nase seines Flugzeugs ist die Long Tall Sally aufgemalt. 50 000 Fuß über dem Südchinesischen Meer bombardiert er wahllos alles. Sein Navigator Louis war Teil der Menschen-Atom-Experimente in der Wüste von Nevada. Chuckies Vater Charlie ist tot, und Chuckie ist sich unsicher, ob sich der Baseball bei seiner Ex-Frau befindet oder ob er ihn versehentlich im Hausmüll entsorgt hat. November 1965: Nick erlebt den großen Blackout in New York. Alle stecken fest, das Leben kommt zum Erliegen. Er will in die Bronx laufen, stundenlang durch ganz Manhattan, kehrt dann aber zurück in sein Hotel. Er ruft Marian nicht an, sondern spürt der eigenen Einsamkeit nach.

Charlie campiert in der Nacht mit Chuckie vor dem Yankees-Stadion. Dort trifft er Manx Martin, der ihm einen Baseball zum Kauf anbietet, den er als amerikanisches Erbe anpreist, das vom Vater an den Sohn weitergereicht wird. Charlie glaubt an die Originalität des Balles. Er gibt Manx alles Geld, das er übrig hat: etwas mehr als 32 Dollar.

Teil 6 – Arrangement in Grau und Schwarz (1951/52)

Klara Sax ist mit Albert verheiratet, sie ist Teilzeitkünstlerin, unzufrieden und unbefriedigt. Sie hat ein kleines Kind und pflegt ihre Schwiegermutter. Nick bewegt sich im halbkriminellen Milieu und arbeitet nach einer Reihe mehr oder weniger lukrativer Jobs als Getränkelieferant. Die beiden begegnen sich zufällig und haben Sex. Nick denkt, dass er bald eingezogen wird, und sobald er in den Krieg muss, ist eh alles egal. Nachdem Matt sich bei einem Spiel die Hand verletzt hat, entbrennt zwischen ihm und Nick ein Streit über die richtige Verarztung. Gleichzeitig genießt der kleine Matt den seltenen Moment der Aufmerksamkeit und Zuwendung seines großen Bruders.

„Was wir ausscheiden, kehrt zurück, um uns zu zerstören.“ (Nick, S. 300)

Mario Badalato, vermutlich Mitglied der Mafia, kennt die kriminellen Geschehnisse der Umgebung. Er schwört Nick, dass niemand Jimmy gewaltsam hat verschwinden lassen. Nick bedankt sich. An einem anderen Tag spielt er Karten mit George Manza. Der legt ein abgesägtes Gewehr auf den Tisch. Als Nick das Gewehr betrachtet, es anlegt und schließlich auf George richtet, grinst der hämisch. Nick fragt, ob es geladen ist, George verneint. Nick drückt ab – und wird wie in einer Zeitspirale Zeuge des eigenen Verbrechens.

Epilog – Das Kapital

Nick und Brian treffen auf einem kasachischen Flugplatz den früheren Geschichtslehrer Viktor, der nun Atommüll aufkauft, um ihn durch Atomexplosionen zu vernichten. Sie fliegen zu dem Testgelände der Explosionen und philosophieren dabei über Waffen und deren Nebenprodukt, den Müll.

„Müll ist der teuflische Zwilling. Denn Müll ist die geheime Geschichte, die Untergeschichte (…)“ (Viktor zu Nick, S. 1031)

Nick konfrontiert Brian, den Liebhaber seiner Frau, ist aber zugleich erleichtert, dass sich ein anderer der Bedürfnisse von Marian angenommen hat. Er stellt sich sogar vor, Brian sein ganzes Leben zu überlassen, mit dem er sich nie richtig identifizieren konnte. Vor der Rückreise werden Nick und Brian von Viktor durch einen Raum geführt, in dem das Medizinische Institut die nuklear bedingten Missbildungen aufbewahrt. Wieder zu Hause, gelingt Nick doch noch eine Art Glück mit Marian. Die Beziehung verbessert sich, sie haben lange Gespräche und er erzählt ihr Dinge über seine Vergangenheit, die sie bisher nur geahnt hat.

Zum Text

Aufbau und Stil

Unterwelt erzählt auf über 1000 Seiten ein halbes Jahrhundert US-Geschichte. Es geht los mit einem 70-seitigen Prolog, der am 3. Oktober 1951 spielt und damit das legendäre Baseballspiel und den russischen Atomtest umfasst. Die weiteren Teile des Buches sind rückschreitend angeordnet: Teil 1 spielt 1992, Teil 6 geht bis 1951 zurück. Ein Epilog schließt das Werk ab. Nick ist der einzige Ich-Erzähler, die Geschichten der anderen Figuren – unzählige Charaktere in oftmals verschlungenen Handlungssträngen – werden in personaler Perspektive erzählt. Der Stil ist realistisch, nah dran am Geschehen. DeLillo schreibt Dialoge mit Jargon, Fehlkommunikation und Wiederholungen. Seine Sprache ist klangvoll und melodisch. Typisch für die Postmoderne, schafft er eine Collage von Textsorten und Stimmen, von Fiktion und Historie, oft im abrupten Wechsel von Gegenwartshandlung, Erinnerungen und fantastisch-poetischen Alltagsminiaturen.

Interpretationsansätze

  • Unterwelt ist ein Roman zum Kalten Krieg. Das zeigt sich sinnbildlich in der Titelseite der New York Times, die im Roman ein Baseballspiel einem russischen Atomtest gegenüberstellt. Die Geschichte ist eine Art Weitwinkelaufnahme der amerikanischen Gesellschaft im ausgehenden 20. Jahrtausend mit all ihren Ängsten und Obsessionen. Sie verarbeitet historische Ereignisse und zeigt die apokalyptische Nervosität des Kalten Krieges bis zum Zusammenbruch der UdSSR und dem modernen Cyberspace.
  • Die Gesellschaft lebt auf der Unterwelt des Mülls. DeLillo dekliniert dieses Bild durch: Es geht um unterirdische Entsorgung von Atommüll, aber auch um mafiöse Milieus und geheime menschenverachtende Regierungsprogramme, um Subkulturen und Sexualität, um Kunst und Kommerz, um destruktive mediale Dauerbeschallung, um die Abfallprodukte der Geschichte.
  • Unterwelt ist ein Buch über den Kapitalismus. DeLillo durchschaut wirtschaftliche Strukturen und Dynamiken. Mit seinem Epilog „Das Kapital“ bringt er das auf den Punkt. Die ganze Geschichte kreist um den berühmten Baseball: Er wird errungen, gestohlen, gehehlt, gewinnbringend weiterverkauft und wandelt sich von einem Schatz zu einer Ware. Baseball, das Amerikanischste überhaupt, erscheint als Sinnbild der westlichen Welt.

  • DeLillo lotet aus, wie Erinnerung funktioniert. Immer wieder thematisieren die Figuren das Wesen der Zeit. Sie findet sich im Stammbaum des Balls oder in widersprüchlichen und unzuverlässigen Erinnerungsfetzen, ist ständig bedroht von Vergessen oder Verweigerung. Die Figuren driften immer wieder in ihre eigene Vergangenheit ab. Der Roman zeigt wie eine große Fuge die verbindenden Elemente verschiedener Geschichten auf.

  • Nicht zuletzt hat der Roman auch autobiografische Züge. Don DeLillo verbrachte seine Kindheit in der Bronx. Dieser Teil New Yorks ist der wichtigste Handlungsschauplatz, und die italienische Kultur prägt die Figuren, insbesondere Nick, der denselben Jahrgang hat wie DeLillo. Der Autor ist hier so sichtbar wie in keinem anderen seiner Werke und hat dieses Opus Magnum seinen Eltern gewidmet.

Historischer Hintergrund

Wettrüsten, Brot und Spiele im Kalten Krieg

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Welt in ideologische Blöcke aufgeteilt: USA gegen Sowjetunion, Kapitalismus gegen Kommunismus, West gegen Ost. Beide Seiten erhoben einen globalen Geltungsanspruch für ihre Ideologien, politischen Systeme und Gesellschaftsentwürfe. Die politische Ost-West-Konfrontation wurde verschärft durch die Atombombe und die Möglichkeit, dass der Kalte Krieg innerhalb von Stunden eskalieren und zu einem atomaren dritten Weltkrieg werden konnte. Dies führte zu einem in der Geschichte beispiellosen Wettrüsten. Einen ersten Nukleartest führten die USA im Juli 1945 in New Mexico durch, kurz darauf bombardierten sie Hiroshima und Nagasaki. 1951 begann ein umfassendes Atomprogramm in der Wüste von Nevada – etwa tausend Tests über vier Jahrzehnte hinweg, mit Pilzwolken und seismischen Erschütterungen, die bis Las Vegas zu sehen und spüren waren. Ab Mitte der 50er-Jahre stiegen Krebserkrankungen und Missbildungen signifikant an – klare Zeichen für atomare Verseuchung. 1961 eskalierte der Ost-West-Konflikt mit dem Bau der Berliner Mauer, die den sowjetischen Machtbereich physisch abriegelte. 1962 folgte die Kubakrise: Beim Konflikt um sowjetische Raketen auf Kuba war die Welt so nahe an einer nuklearen Eskalation wie im ganzen restlichen Kalten Krieg nicht. Danach begann eine Phase der Entspannung. In den 1980er-Jahren verschärfte sich der Konflikt noch einmal, bevor der kommunistische Ostblock 1991 zusammenbrach.

Nach dem Krieg entwickelten sich die USA rasant zu einer zügellosen Konsum- und Mediengesellschaft. Baseball zog die Massen an. Die New Yorker Spiele der World Series hießen auch Subway Series, weil das Publikum die Spielorte mit der U-Bahn erreichen konnte. Beispiele dafür sind das Yankee-Stadion in der Bronx und die Polo Grounds in Upper Manhattan. In diesem 1964 abgerissenen Stadion spielten am 3. Oktober 1951 die New York Giants gegen die Brooklyn Dodgers das dritte Endspiel der nationalen Liga. In letzter Minute schlug Giants-Spieler Bobby Thomson den Ball weit in die Ränge und legte einen dramatischen Homerun hin – was als  „shot heard ’round the world“ in die Annalen einging.

Entstehung

Don DeLillo sagte, dass ihn das Titelblatt der New York Times vom 4. Oktober 1951 zu Unterwelt inspiriert habe. Das Blatt gab dem besagten Baseballspiel und einem russischen Atombombentest die exakt gleiche Relevanz mit jeweils dreispaltigen Aufhängerartikeln. Weitere Anregungen waren die unterirdische Entsorgung radioaktiver Abfälle und die sprachliche Verbindung zwischen Plutonium und Pluto, dem Gott des Todes. DeLillo verarbeitete im Roman Themen weiter, die bereits in früheren Arbeiten anklangen. Ein Schlüsselwerk, um Unterwelt zu verstehen, ist der 1988 erschienene Roman Sieben Sekunden, ein preisgekrönter internationaler Bestseller. Es handelt sich um eine Fiktionalisierung des Lebens von Lee Harvey Oswald, der 1963 John F. Kennedy ermordete, wofür DeLillo ausgiebig politische Dokumente studierte. Für DeLillo begannen die 60er-Jahre mit der Ermordung Kennedys. Die nachfolgenden Entwicklungen mit weiteren politischen Morden, dem Vietnamkrieg, der Beschränkung ziviler Rechte und gesellschaftlicher Revolten bis hin zu Watergate leiteten sich für ihn davon ab. In diesen Jahrzehnten fand er seine literarischen Stoffe. In Unterwelt machte er die destruktiven sozialen Kräfte symbolträchtig am Thema Müll fest. Der Prolog war bereits unter dem Titel Pafko at the Wall im Oktober 1992 in Harper’s Magazine erschienen. Für Unterwelt bekam der Text einen neuen Titel und wurde leicht verändert.

Wirkungsgeschichte

DeLillos elfter Roman wurde angekündigt als Dokument des Zeitgeistes, als großer amerikanischer Roman des ausgehenden Jahrtausends und Sneak Preview einer neuen Weltordnung. Der gewaltige Umfang, die dichte Struktur und der große erzählerische Bogen zeigten den Autor auf dem Gipfel seiner Kunst. Der Roman erzielte sofort ein großes Echo im Feuilleton und in der Literaturwissenschaft. Lesungen wurden zum Medienereignis. DeLillo wurde für den National Book Award und den Pulitzer-Preis nominiert, stand auf der Bestenliste der New York Times und erhielt unter anderem den American Book Award. Unterwelt katapultierte ihn endgültig in den Kanon der amerikanischen Literatur. Im Dezember 2014 wurde eine Erstausgabe mit Anmerkungen von DeLillo bei Christie’s zugunsten des PEN American Center für 57 000 Dollar versteigert. Der Erfolg des Buches habe ihn überrascht, sagte DeLillo selbst. Über 1000 Seiten, über 100 Charaktere – wer wolle denn so etwas lesen? Als er das Buch 2010 selbst wieder las, stellte er fest, dass er in gewisser Weise die Realität transzendiert habe und sich nicht sicher sei, ob er das heute noch könnte. Verfilmungen des Romans kamen nie über die Planungsphase hinaus – kaum überraschend angesichts der immensen Komplexität.

Über den Autor

Don DeLillo, geboren am 20. November 1936, wächst in der New Yorker Bronx als ältester Sohn einer italienischen Arbeiterfamilie auf. Kulturelle Einflüsse sind Comics und Radio, der Katholizismus, der Jazz und nicht zuletzt auch New York selbst. Später entdeckt er das europäische Kino, und zum Lesen kommt er während eines Sommerjobs als Parkwächter. Am Fordham College macht er einen Abschluss in Kommunikationswissenschaften und beginnt als Texter in der Werbebranche – was er etwa fünf Jahre lang erträgt. Um 1966 beginnt er seinen ersten Roman zu schreiben. Americana erscheint 1971, gefolgt von End Zone 1972. 1975 heiratet er die Landschaftsgärtnerin Barbara Bennett. Das Paar bleibt kinderlos. DeLillo schreibt neben Romanen auch Erzählungen, Theaterstücke und Essays. Er porträtiert den amerikanischen Alltag über Themen wie Sport, Medieneinfluss, Subkulturen, Kunst und Musik, Drogenkonsum oder Umweltkatastrophen. Seinen Durchbruch schafft er 1985 mit Weißes Rauschen (White Noise), das den National Book Award erhält. 1988 folgt Sieben Sekunden (Libra), eine Verschwörungstheorie rund um das Leben des Kennedy-Mörders Lee Harvey Oswald, und wird zum internationalen Bestseller. Mao II (1991) thematisiert die Rolle des Autors in einer Ära von Medienhype und Terrorismus. DeLillos erklärtes Credo, dass Schriftsteller sich gegen das System stellen müssen und sich dem widersetzen, was die Mächtigen den Menschen aufzwingen wollen, durchdringt auch sein Meisterwerk von 1997, Unterwelt (Underworld). Mit Falling Man (2007) veröffentlicht er eine literarische Verarbeitung von 9/11. DeLillo ist Mitglied im PEN-Club und wurde für sein Werk mit dem PEN/Saul Bellow Award for Achievement in American Fiction und dem Library of Congress Prize for American Fiction ausgezeichnet.

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